Monatsinterview mit Therese Frösch

 

[Teil 1, WOZ, Nr. 45/2004]

Regieren ohne Dream-Team

WOZ: Am letzten Novemberwochenende wählt die Stadt Bern eine neue Exekutive. In den letzten zwölf Jahre haben Sie die Stadt mitregiert. Jetzt treten Sie zurück. Warum?

Therese Frösch: Ich habe viel Herzblut investiert, und wenn es mir einigermassen gelungen ist, die Leistungen des Service public nicht nur zu erhalten, sondern teilweise auch auszubauen, war es eine gute Arbeit. Aber man wird dabei nicht jünger und auch nicht unbedingt gescheiter, sondern eher einseitiger – nicht, dass man ausschliesslich ans Sparen denken würde. Aber man rutscht psychisch, physisch und geistig mit den Jahren immer mehr in den Pragmatismus hinein.

Wenn Regieren einseitig ist: Was wäre denn die andere Seite?

An den eigenen politischen und vielleicht auch philosophischen Ansprüchen gemessen wachsen die Mankos. Ich habe Lust, nach meiner Regierungszeit wieder vermehrt in die Tiefe zu steigen, auch bei der Literatur. Daneben gibt es Bedürfnisse wie ein bisschen mehr schlafen, ein bisschen mehr Sport, ein bisschen mehr herumhängen, Kuchen backen, Leute einladen oder Blumen einstellen – meine häuslichen Seiten halt.

Ihr Rücktritt hat also nichts zu tun mit der Regierungskrise, die mit der Absetzung des Polizeidirektors Kurt Wasserfallen[1] begann und im Rahmen einer Departementsrochade zu ihrem Wechsel von der Finanzdirektion in die Direktion für Soziale Sicherheit führte?

Nein. Denn schon nach meiner ersten Wahl stand auf einer Gratulationskarte: «Was kann denn schon eine Wasserfalle einem Frosch antun?» Trotzdem stimmt es, dass ich in den letzten vier Jahren ab und zu an die Grenzen meines Frustrationspotentials gekommen bin.

Also doch Wasserfallen?

Es ist einfach frustrierend, in einer Stadtregierung zu sitzen, deren Niveau einem eigentlich nicht passt, weil man andere Vorstellungen davon hat, wie man Probleme löst. Und es macht zweifellos keinen Spass, in einem Gremium zu sitzen, in dem teilweise aus der untersten Schublade politisiert wird, anstatt mit Persönlichkeiten konstruktiv zusammenzuarbeiten, deren Humor einem gefällt. So gesehen war für mich die erste Legislatur von 1992 bis 1995 mit Therese Giger, Ursula Begert und vor allem Joy Matter die beste. Kommt dazu, dass in den letzten vier Jahren die rotgrüne Koalition nur suboptimal gespielt hat.

Zu dieser Koalition gehören neben Ihnen der Stadtpräsident Klaus Baumgartner Edith Olibet und Alexander Tschäppät.

Diese SP-Dreiervertretung war leider kein Dreamteam. Zusammen mit mir hätten sie eigentlich die Mehrheit in der Regierung gehabt. Einige der Flops, die passiert sind, hätten nicht passieren müssen.

Sie machen uns neugierig.

Bis vor vier Jahren gab es in Bern nicht nur eine Rot-Grün-Mitte-Regierung, sondern auch regelmässige Koalitionssitzungen der vier RGM-Regierungsmitglieder im Büro des Stadtpräsidenten. Bei der Departementsverteilung für die jetzt zu Ende gehende Legislatur wollten mich meine SP-Gschpänli zwangsweise von der Finanz- in die Schuldirektion versetzen, obwohl ich das beste Wahlresultat aller Bisherigen gemacht hatte. Ich habe mich durchgesetzt. Seither hat es keine Koalitionssitzung mehr gegeben.

Abgesehen von solchen Unsäglichkeiten: Was kann denn eigentlich eine linksgrüne Mehrheit heute politisch überhaupt erreichen?

Seit vier Jahren hat Bern schwarze Zahlen…

…dank Ihnen…

…nicht nur dank mir, aber ich war in den zehn entscheidenden Jahren Finanzdirektorin. Tatsache ist, dass diese schwarzen Zahlen ein bisschen Ellbogenfreiheit geben. Wenn eine linksgrüne Koalition geschickt politisiert, kann sie in Fragen, an denen ihr gelegen ist, eindeutig Akzente setzen, quantitativ und qualitativ.

Beispiele?

Bei den Tagesschulen und Krippenplätzen gab es grosse Fortschritte. In der städtischen Personalpolitik haben wir in den mageren neunziger Jahren Dummheiten vermieden, wie Löhne zu kürzen oder Mitarbeitende abzuhalftern. Wir haben heute eines der fortschrittlichsten Personalreglemente in der Schweiz. Und im Bereich der städtischen Begegnungsorte muss ich mit Verlaub festhalten: Ohne mich und meine Mitarbeitenden in der Finanzdirektion gäbe es weder die renovierten Siedlungen Q-Hof und Murifeld noch ein neues «Kornhaus», ein neues «Tramdepot», einen neuen Gurten und vermutlich auch kein neues Restaurant «Schwellenmätteli».

Therese Frösch, Grünes Bündnis, ist Sozialdirektorin der Stadtberner Exekutive, nachdem sie zwischen Januar 1993 und Mai 2003 die Finanzdirektion geführt hat. Seit diesem Jahr ist sie zusätzlich Nationalrätin und vertritt die Grüne Partei in der nationalrätlichen Finanzkommission. Sie ist 53, ausgebildete Sozialarbeiterin, und arbeitete bis 1993 als geschäftsleitende Sekretärin der Gewerkschaft VPOD Bern-Kanton.

[1] Der freisinnige Polizeidirektor Kurt Wasserfallen (1947-2006) war ein Hardliner und im April 2003 wegen Auseinandersetzungen um deeskalierende Polizeistrategien vom Gesamtgemeinderat als Leiter der Direktion für Öffentliche Sicherheit abgesetzt worden. In der Folge übernahm er die Direktion für Finanzen, Personal und Informatik, die vorher von Frösch geleitet worden war. Von ihrem Lohn als Gemeinderätin hat sie in den letzten zwölf Jahren rund eine halbe Million Franken an das Grüne Bündnis weitergegeben.

 

[Teil 2, WOZ, Nr. 46/2004]

Berns erstaunliche Urbanität

WOZ: Letzte Woche haben Sie an einer Pressekonferenz mitgeholfen, hier in Bern ein «Sozialpolitisches Manifest aus grüner und urbaner Sicht» vorzustellen. Was steckt dahinter?

Therese Frösch: Es war so: Die Doyenne der grünen Sozialdirektoren, Monika Stocker, hatte die Idee, dass sich die Amtskollegen ihrer Partei, Ruedi Meier aus Luzern, Thomas Feurer aus Schaffhausen und ich, alle drei Monate zum Essen und zum Meinungsaustausch treffen sollten. An einem dieser Treffen haben wir beschlossen, der Öffentlichkeit mit einem Manifest zu zeigen, worum es heute in den Städten sozialpolitisch geht.

Zu Beginn der Pressekonferenz sprachen Sie von einem «Appell», einem «Aufruf», gar einem «Aufschrei».

Das Manifest ist kein sozialpolitisches Parteiprogramm. Es ging uns Exekutivlern und Exekutivlerinnen darum zu zeigen, wo es heute brennt.

Und wo brennt es?

In den Städten haben wir heute eine komplexe urbane Situation. In Bern zum Beispiel leben unterdessen mehr als fünfzig Prozent der Leute in Einpersonenhaushalten. Hier braucht es soziale Netze, die die weggefallene Sicherheit der Familienzugehörigkeit ersetzen. Zudem sind die Städte immer mehr zu Schmelztiegeln für Menschen geworden, die Probleme haben, in der Ausbildungs- und Arbeitswelt Fuss zu fassen. Nach jeder wirtschaftlichen Krise bleibt hier mehr Arbeitslosigkeit zurück – vor allem bei Jugendlichen und bei den Überfünfzigjährigen. Wir werden mit zunehmender Ausgrenzung und Vereinsamung und steigenden psychischen Problemen konfrontiert. Das Berner Sozialamt hat im letzten Jahr so viele neue Fälle wie noch nie registriert.

Diese Situation trifft zusammen mit dem wachsenden Spardruck.

Hier öffnet sich eine Schere. Der Kanton Bern weigert sich zurzeit, nötige neue Projekte –zum Beispiel im Bereich der familienexternen Betreuung – zu unterstützen. Er kritisiert uns, die Stadt Bern habe schon genug Tagesschulen und Krippen. Die Einführung einer «Kulturlegi» für einkommensschwache Personen ist blockiert[1]; ebenso Pinto, eine gassennahe Interventionstruppe mit Sozialarbeitscharakter und gewissen repressiven Kompetenzen[2]. Von Samuel Bhend, dem sozialdemokratischen Sozialdirektor des Kantons, höre ich immer das Gleiche: Bis zur Abstimmung über die bürgerliche Steuersenkungsinitiative im Februar 2005 gehe gar nichts mehr.

Sie haben die Direktion für Soziale Sicherheit der Stadt Bern erst vor anderthalb Jahren übernommen, als für die Beilegung des Wasserfallen-Skandals eine Departementsrochade nötig wurde. Wenig Zeit, um etwas zu bewegen.

Der Direktionswechsel ist inhaltlich zum Aufsteller geworden. Im Mai letzten Jahres haben wir die Projekte festgelegt, die abgeschlossen sein sollten, bevor ich zurücktrete. Wir haben unsere Ziele erreicht.

Welche Projekte sind das?

Erstens haben wir eine Sozialbehörde nach dem Sozialhilfegesetz eingerichtet, die die Umsetzung der Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) kritisch im Auge behält. Das hat es in Bern bisher nicht gegeben. Dann haben wir eine Einreihungsüberprüfung für Kleinkindererzieherinnen, Tagesschulleiterinnen und für die Sozialarbeit durchgeführt. Die Überprüfung hat in den typischen Frauenberufen zu Lohnverbesserungen geführt. Und weil die Stadt Bern nun seit vier Jahren schwarze Zahlen schreibt, habe ich 250’000 Franken ins nächste Budget gesetzt, damit allfällig nötige Korrekturen sofort vollzogen werden können. Drittens haben wir überall dort Gesamtarbeitsverträge aufgegleist, wo die Sozialdirektion Aufgaben an Dritte vergibt. Und schliesslich haben wir unter dem Titel «1. Berner Sozialplattform» eine Fachtagung zur Zukunft der Stadtberner Sozialpolitik durchgeführt.[3]

Das tönt nach realpolitischer Knochenarbeit in der Provinz. Ist Bern eigentlich heute unter irgendeinem Aspekt von überregionaler Bedeutung?

Klar, Bern ist die Hauptstadt und gehört zum Unesco-Weltkulturerbe (lacht). Abgesehen davon: Alle, die genauer hinschauen, wissen, dass in Bern seit Jahren bei den kantonalen und nationalen Abstimmungen die fortschrittliche Seite gewinnt. Dass in einem konservativen Agrarkanton so viel Rot-Grün-Mitte und so viel Urbanität möglich ist, ist tatsächlich erstaunlich. Ohne Bern wäre Basel in der Deutschschweiz bei Abstimmungen häufig sehr allein da.

[1] 2005 wurde die KulturLegi dann vom Kanton Bern eingeführt.

[2] Auch die mobile Interventionstruppe «‘Pinto’ – Prävention, Intervention, Toleranz» begann ihre Arbeit in der Stadt Bern 2005.

[3] In seiner Online-Gewerkschaftschronik fasst Beat Schaffner einen Bund-Beitrag von Rudolf Gafner vom 9.6.2004 so zusammen: «‘Radikale Neuorientierung’. Dorfsolidarität trotz Stadtanonymität. 1. Berner Sozialplattform propagiert ‘sozialraumorientiertes’ Umdenken. Nach New Public Management NPM soll in Berns Politik ein weiterer Paradigmenwechsel eingeleitet werden: ‘Sozialraumorientierte Arbeit ’ heisst das Schlüsselwort. Sozialpolitik und -arbeit sollen stadtteilorientiert verankert und im Quartier vernetzt, im Volk soll bürgerschaftlicher Gemeinsinn gefördert werden.»

 

[Teil 3, WOZ, Nr. 47/2004]

Warnung vor Tieffliegern

WOZ: Im Wahlkampf zeigen sich die Stadtberner Bürgerlichen von ihrer desolatesten Seite. Laut «Bund» haben SVP-Kreise eine Wahlempfehlung der Grauen Panther gefälscht, um die Wiederwahl ihres Parteimitglieds Ursula Begert zu verhindern, und Kurt Wasserfallen kocht als Wahlkampfthema den selbst verursachten Skandal auf, der zu seiner Absetzung als Polizeidirektor geführt hat. Muss man Mitleid haben?

Therese Frösch: Nein. In einer parteiinternen Ausmarchung hat die FDP 1992 ganz knapp Wasserfallen aufgestellt mit dem Argument, man müsse die Stimmen rechts aussen holen. Unterdessen hat Wasserfallen zusammen mit anderen seine Partei auf SVP-Kurs getrimmt. Das schlägt auf das Niveau durch. Wenn man in einer Stadt, in einer Regierung, an politische Diskussionen nicht mehr den Anspruch haben kann, dass sie zumindest ein Stück weit inhaltlich geführt werden, dann schadet das allen, weil die allgemeine Politikverdrossenheit zunimmt.

Aber in Bern gibt es ja nicht nur bornierte Bürgerliche…

…nein, aber viele der Kultivierteren und Liberaleren leben nicht in der Stadt, sondern in der Agglomeration.

Es scheint, als ob die Bürgerlichen nur noch mit ihrer zweiten Mannschaft spielten.

Das hat auch mit dem veränderten gesellschaftspolitischen Klima zu tun: Bürgerliche machen im Militär nicht mehr weiter, und sie gehen nicht mehr in die Politik – hier in Bern, weil sie wegen der Rot-Grün-Mitte-Mehrheit weniger zu sagen haben als in der Wirtschaft. Politik machen deshalb vor allem gewerblich ausgerichtete Leute, auch beim Freisinn.

Also die Erbsenzähler?

Allerdings: die Jammeris, die nichts als ihr Kleingewerbe sehen. Sie spielen auf ihrem Klavier immer nur einen Ton. Die Flughöhe ist sehr tief.

Am Samstag hat die «Berner Zeitung» eine Umfrage publiziert, wonach Ihre Parteikollegin Regula Rytz deutlich hinter dem Grünliberalen Alec von Graffenried liegt.[1]

Das Rennen ist offen, aber die Frauen, die ja diese Umfrage mobilisiert, werden, wie in früheren Wahlgängen, den Ausschlag für Rytz geben. Von Graffenried steckt viel Geld in seinen persönlichen Wahlkampf. Und die bürgerlichen Zeitungen «Bund» und «Berner Zeitung» finden das rechtsbürgerliche Gejammer derart gschämig, dass sie die Mitte stützen. Das kommt dem Schwiegermuttertraum von Graffenried zugute.

Nehmen wir trotzdem an, er würde statt Rytz gewählt und SP und Bürgerliche teilten sich die restlichen vier Sitze. Was dann?

Man muss sich daran erinnern, dass Bund und Kanton noch verstärkt sparen werden und dieser Druck am stärksten bei der familienexternen Betreuung und in der Sozialpolitik weitergeben werden wird. Deshalb ist klar: In den Bereichen Verkehr, familienergänzende Massnahmen oder Kultur ist Rytz der sichere Wert – und nicht von Graffenried, der kaum ein politisches Profil hat.

Folgt jetzt ein Wahlspot?

Es genügt die Wahrheit: Regula Rytz hat das Politisieren von der Pike auf gelernt. Sie hat sich in der Frauen- und der Umweltbewegung engagiert, sie war acht Jahre lang Parteisekretärin. Sie sitzt seit zehn Jahren im Kantonsparlament. Sie ist Zentralsekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes mit den Schwerpunkten Arbeitsgesetz, Gesundheitsschutz und Arbeitszeitpolitik. Daneben war sie über acht Jahre lang meine persönliche Beraterin. Darum weiss ich: Ich bin ein bisschen pragmatischer als sie. Aber sie ist ein bisschen gescheiter als ich.

Und was passiert, wenn sie die Wahl nicht schafft?

Was nicht geschehen wird. Aber hypothetisch gesprochen: Innerhalb der Grünen Partei würde kantonal und national der linksgrüne Flügel geschwächt. Die Nationalratssitze von Franziska Teuscher und mir wären tendenziell eher gefährdet. Das Grüne Bündnis müsste sich zwischen einem knallharten Oppositionskurs ausserhalb von RGM und einem verstärkten Aufbau der kantonalen und nationalen Strukturen entscheiden. In der Stadt würde die drittstärkste politische Kraft, die in den letzten Jahren viel bewirkt hat, in die Opposition geschickt. Die dann nötige Neuorientierung müsste die Frage klären, wie das Grüne Bündnis wieder zur bisher erfolgreichen Politik auf zwei Standbeinen – jener innerhalb und jener ausserhalb der Institutionen – zurückkehren kann.

[1] In den Gemeinratswahlen 2004 wurde erstmals nicht mehr eine sieben-, sondern nur noch eine fünfköpfige Stadtregierung bestellt. Regula Rytz gewann den dritten RGM-Sitz vor Alec von Graffenried mit einem Zufallsmehr von 19 Stimmen (20'606 zu 20’587) und arbeitete acht Jahre lang als Gemeinderätin. 2011 wurde sie in den Nationalrat gewählt, 2012 ins Präsidium der nationalen Grünen Partei – bis 2016 als Co-Präsidentin, seither als alleinige Präsidentin. Alec von Graffenried war zwischen 2007 und 2015 für die Grünen Nationalrat. 2016 wurde er doch noch in den Gemeinderat gewählt, seit 2017 ist er der Stadtpräsident von Bern. Unter anderem regiert er zusammen mit der im Interview als Nationalrätin angesprochenen Franziska Teuscher, die 2013 nach 18 Jahren im nationalen Parlament in die Berner Stadtregierung wechselte. (19.12.2018)

 

[Teil 4, WOZ, Nr. 48/2004]

Ab in den Wilden Westen

WOZ: Dieser Papierstoss hier auf Ihrem Bürotisch sieht aber nicht nach Stadtberner Politik aus.

Therese Frösch: Nein. In zwei Stunden findet im Bundeshaus drüben eine Konsultativsitzung mit Bundesrat Hans-Rudolf Merz statt. Ich nehme dort als Mitglied der nationalrätlichen Finanzkommission teil.

Geht es ums Sparen?

Es geht um das Entlastungsprogramm ’04, das zurzeit in der Vernehmlassung ist.

Nächste Woche findet Ihre erste nationale Budgetdebatte statt. Wie liefen denn die Vorberatungen in der Kommission?

Mein Eindruck ist, dass zurzeit über Finanzpolitik in extremem Mass Inhalte abgewürgt werden. Es geht nicht um Sinn und Unsinn des Sparens im konkreten Fall, sondern um Schuldenbremsekonformität, um die Entlastungsprogramme 03 und 04 oder um aufgabenbezogene Überprüfung der gesamten Bundesverwaltung mit einer linearen Sparvorgabe.

Prognostiziert wird für 2005 ein Defizit von 1,8 Milliarden Franken. Wo spart die Kommission?

Kommissionskollegen und -kolleginnen der SP, die schon länger dabei sind, sagen mir, das Klima habe sich verschärft, seit die FDP immer stärker auf SVP-Schmusekurs politisiert. Es ist wie einem Spaghetti-Western: Geschossen wird am liebsten aus der Hüfte.

Auf was denn?

(Sie blättert in den Unterlagen.) Zum Beispiel sollen in der Entwicklungshilfe fünf Millionen gespart werden, beim Film vier Millionen, bei den Krankenkassenprämien drei Millionen, bei den Präventionsmassnahmen sechs Millionen, bei der familienergänzenden Kinderbetreuung fünf Millionen, bei der Sozialhilfe für Flüchtlinge acht Millionen. Und so weiter.

Also Kahlschlag auf der ganzen Linie?

Nein, der Nationalstrassenbau zum Beispiel soll elf Millionen mehr kriegen. Aber natürlich geht es darum, dem Staat überall dort die Handlungsfreiheit zu nehmen, wo es um die Besserstellung der Schwächeren geht.

Andererseits sind allzu hohe Defizite ja auch nicht lustig.

Das stimmt. Um glaubwürdig zu bleiben, müssen wir als Linke aufzeigen, wie man Defizite beheben kann – auch auf nationaler Ebene. Ich bestreite deshalb nicht, dass gespart werden muss. Die Frage ist wo? Ich sage: Es darf nicht den Service public treffen, nicht den Regionalverkehr, nicht die familienexterne Unterstützung, nicht die Kultur. Sparen kann und soll man zum Beispiel bei der Armee und beim Strassenbau.

Unter Ihrer Leitung hat die Stadt Bern das Budget auf relativ sozialverträgliche Art ins Gleichgewicht gebracht. Wäre das nicht auch national möglich?

Auf jeden Fall. Bloss sind die Kräfteverhältnisse auf nationaler Ebene brutal klar zu unseren Ungunsten. In vielen Fragen werden wir unsere Allianzen vor allem ausserparlamentarisch, mit Gewerkschaften, NGOs und Bewegungen schmieden müssen, wenn wir Druck erzeugen wollen. Ein weiter Weg, um in der nationalen Politik etwas zu ändern. Aber es gibt nichts anderes.

Sie scheinen eine motivierte Nationalrätin zu sein.

Zu sehen, wie eine Nation funktioniert, ist doch interessant, oder?

Und was tun Sie nächstes Jahr sonst?

Ich nehme nichts Neues an. Ich will ein zuverlässiges und dossiersicheres Mitglied der Grünen Nationalratsfraktion werden. Ich will die französische Sprache auffrischen, ich will meine geschichtlichen Kenntnisse vertiefen, und ich will das Querschnittsthema Finanzpolitik besser in den Griff bekommen, das heisst: Ich will die wichtigsten politischen Felder besser kennen lernen, in denen der Staat Geld verteilt.

Am Silvester haben Sie ihren letzten Arbeitstag in der Stadtberner Regierung. Wo sind sie an jenem Abend?

Das lasse ich im Moment bewusst offen.

Aber ein spezieller Moment mit einem lachenden und einem weinenden Auge wird es schon werden?

Sicher nicht! Ich habe schon vor vier Jahren überlegt, ob ich zurücktreten soll. Nach der Regierungskrise, der Zusatzarbeit wegen des anschliessenden Direktionswechsels und nach der Fusion der Departemente von sieben auf fünf ist es jetzt genug. Der Jahreswechsel wird für mich eine grosse Befreiung sein.

Und dann kommt das Januarloch?

Vielleicht, aber ich bin eine Meisterin im Leiden. Abgesehen davon habe ich in den letzten zwölf Jahren auf dem Weg ins Büro nicht selten überlegt: Wie lange sitze ich wohl noch vis-à-vis von Kurt Wasserfallen? Ich habe meine Neugierde nicht verloren. Sie ist die Spannfeder im Leben.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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