Mit zu breitem Pinsel gemalt

Die Augen unter der rotblonden Mähne scheinen zu brennen. Der Pinsel fliegt über das grossformatige Bild, Farbe spritzt herum. Dann legt der Maler den Pinsel auf die Farbtöpfe im Schoss, kurbelt an den Rädern des Rollstuhls, geht auf Distanz, schaut, ruft, ohne sich umzuwenden, nach hinten, er brauche rot, kurbelt, greift nach dem Pinsel, setzt erneut an.

Der Mann, der die rote Farbe bringt, ist Otto Frick, Malermeister der Psychiatrischen Universitätsklinik in Bern, der «Waldau». Der Malende heisst Philippe Saxer, Geheimtipp der Berner Kunstszene, und im Rollstuhl sitzt er, weil er nach der letzten Entlassung aus der Klinik, statt den vergessenen Schlüssel in der Wohnung oben zu holen, aus dem ersten Stock des Hauses gesprungen ist. Der dritte im Raum, der beobachtend im Hintergrund steht, heisst Jonas Konrad, ebenfalls «Patient». Er wird, was er sieht – den malenden Saxer und die beobachtende Kamera des Filmteams – anschliessend in einer Strichzeichnung festhalten.

«Halleluja! der Herr ist verrückt» heisst der neue Film des Dokumentarfilmers Alfredo Knuchel, und die Sequenzen, in denen er mit der Kamera nahe an den sechs porträtierten KunstmalerInnen ist, sind die stärksten. Wenn Gordian Hannemann von seiner Angst erzählt, Daniel Curty von seinen Suizidversuchen, Magrit Roths krakelnder Stift auf dem Papier eine in Netzen verstrickte Figur entstehen lässt oder Gabor Dios seine grossflächigen Textbilder in den endlosen Gängen des Waldau-Untergrunds erklärt, zeigt Knuchel keine befremdlichen «Irren», sondern Gezeichnete, die aufgrund von Erfahrungen, die sie gemacht haben, irgendeinmal sozial auffällig geworden und deshalb hier gelandet sind. Dass Knuchel es geschafft hat, vor der Kamera (Peter Guyer, Norbert Wiedmer) so viel vertrauensvolle, aber nie indiskrete Direktheit entstehen zu lassen, ist die eine Stärke seines Films.

Die andere ist die, dass er nicht einen Vertreter der Direktion oder der ärztlichen Leitung zum Waldau-Führer gewählt hat, sondern Otto Frick und Heinz Feldmann. Waldau-Malermeister Frick bringt mit seiner klugen, diskreten und vorurteilslosen Herzlichkeit seine MitarbeiterInnen zum Flach- oder zum Kunstmalen und immer wieder auch zum Erzählen. Und Klinikschlosser Heinz Feldmann hat neben seiner regulären Arbeit nicht nur das Psychiatrie-Museum der Waldau mitaufgebaut, sondern auch die Kunstsammlung von Adolf Wölflis Psychiater Walter Morgenthaler gerettet und professionell archiviert.

Was das Drehbuch des Films betrifft, verweisen die Feldmann-Sequenzen allerdings auf die eine Schwäche des Films. Knuchel ist bei seinen Recherchen zuerst auf die Morgenthaler-Sammlung und das Psychiatrie-Museum gestossen. Ausgehend von Zwangsjacken, Deckelbädern und hundertjährigen Art-brut-Werken stiess er auf die Frage: Und was ist heute? und damit allmählich auf die KunstmalerInnen in der heutigen Klinik. Psychiatriegeschichte, Walter Morgenthalers «Entdeckung» der Art brut, heutiges Kunstschaffen in der Waldau: Das ist zu viel Stoff für einen einzigen Film. Dass Knuchel meint, alle diese Aspekte in einen Film packen zu müssen, macht ihn unentschieden und passagenweise oberflächlich.

Die andere Schwäche des Films sind die Kompromisse, die, mag sein, einer breiteren Verkäuflichkeit dienen sollen: Da gibt es eine allzu naive Programmmusik, die dem Film unterlegt ist (im Sinn von: Achtung: Spinner-Sound); wiederholte Aussentotalen des Hauptgebäudes (alte Anstalt) im Schneegestöber (triste Welt) gleichermassen wie die unvermeidlichen Verbeugungen vor den Waldau-Insassen Robert Walser und Friedrich Glauser (warum werden – wenn die Waldau tatsächlich ein «Künstler-Refugium» ist, wie das offizielle Flugblatt zum Film behauptet – stattdessen nicht MitarbeiterInnen des «Kuckucksnests» ins Bild gerückt – der Zeitschrift, die von lauter heutigen «Psychiatrie-Erfahrenen» der Waldau geschrieben und gestaltet wird?).

Knuchels Film ist wegen der geglückten Personenzeichnungen sehenswert. Aber wenn er weniger Stoff tiefer gehend verfolgt und strenger gestaltet hätte, wäre vermutlich ein eindrücklicherer Film möglich gewesen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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