Mit beiden Beinen im Boden

 

Als ich letzten Samstagvormittag durch die Münstergasse schritt, um allda ein wenig den flugblatttriefenden Standbauern des unvermeidlich anbrechenden Berner Jugendfestes zuzunicken, traf ich auf den langen Fippu, der mit Inbrunst damit beschäftigt war, mittels Spray profane Pflastersteine in symbolträchtige Gold- und Silberbarren zu verwandeln. Zu selbigem sprach ich mit beglücktem Seufzen: «Hüt namittag gan i für d’WoZ uf Bäup ads Hornusserfescht.» Er schaute mich entgeistert an, während die Spraydose scheppernd auf historisches Pflaster fiel, erbleichte, öffnete entsetzt und masslos die Augen und liess den Kiefer auf den Brustkasten herunterklappen. Mit beispiellosem Feingefühl entgegnete er, kurz nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte: «Dr WoZ isch würkli nümme z’häufe.» nach Belp bin ich trotzdem gegangen.

«Mit dem Wunsche, dass das 26. Eidg. Hornusserfest in Belp in einer von Missmut, Verzweiflung und Uneinigkeit geprägten Welt ein Fest der gemeinsamen Freude und der Einigkeit sein möge», werde ich als «Freund des Hornussens» mittels Festführer à zwei Franken («Der Druck dieses Festführers wurde durch unsere vielen Inserenten ermöglicht. Wir danken Ihnen für Ihr Entgegenkommen! Das Organisationskomitee») in Belp «ganz herzlich willkommen» geheissen. Auf den halbtrockenen Strassen beim Bahnhof platzen eben wieder schwere Regentropfen. «Es freut uns in der heutigen Zeit ganz besonders, Aktive und Freunde eines nationalen Spieles empfangen zu dürfen, das keine Unterschiede der Personen kennt, wo jeder, ob jung oder alt, arm oder reich, gross oder klein, links oder rechts stehend, gewillt ist, sich uneigennützig und stets mit Rücksicht auf den anderen einem gemeinsamen Ziele unterzuordnen», meint Hans Fuhrer als «OK-Präsident» im Festführer weiter, während ich mir die Kapuze der Windjacke über den Kopf ziehe und hinter anderen her der reichbeflaggten Strasse folge ins Belpmoos hinaus.

«Weisung des Obmannes: Der Lehm
ist von den Gesellschaften mitzubringen.»

Am Rand des matschigen Feldwegs, entlang der Gürbe, eine endlose Reihe schlammbespritzter Autos. Festbesucher in Militärregenmänteln und hohen schmatzenden Gummistiefeln. Vorne rechts der Luna-Park mit dem langsam drehenden Riesenrad. Davor ein Helikopter-Landeplatz: «Rundflug 6 Minuten 30 Franken.» In einem Kastenwagen die gelangweilten Piloten, ohne Arbeit, die Hände in die Taschen ihrer orangen Overalls gesteckt. Braun getretene, morastige Pfade in der Matte zur Festhütte hinüber. Hornusser in Gruppen, Hüte im Gesicht, breit schlurfend, die graugrünen Überhosen kniehoch dreckverschmiert. In welchem Ries Krauchtal-Hub B spiele, spricht mich einer an. Ich reiche ihm den nassen Festführer, er blättert, «vierefüfzg», reicht mir das Heft zurück, «danke», geht davon.

«Weisung des Obmannes: Die Hornusser müssen laut Spielregeln
in anständiger Kleidung zum Wettkampf erscheinen.
Der Oberkörper muss bekleidet sein (auch beim Schlagen).»

Schon am Freitagabend, nach dem Anhornusset der 3. und 4. Stärkeklasse, Unterhaltungsabend in der Festhütte: Viel Spass und beste Unterhaltung mit der Musikgesellschaft Belp (Direktion Werner Jost), dem Handharmonikaklub Belp (Leitung Otto Schreier), Kurt Felix (Präsentator des Abends und des Publikumsspiels), Nella Martinelli (Bühnenshow mit dem Wirbelwind aus dem Tessin), dem Amazonas-Septett (bekannt für gute Tanz- und Unterhaltungsmusik für jung und alt) und mit Klibi und Caroline (der Top-Bauchredner, für Sie in Belp!).

Weiter drüben vor dem bewaldeten Aareufer die flachen Gebäude des Flugplatzes Belpmoos: Das Vernehmlassungsverfahren zum Projekt 80 – Verlängerung der Piste um 600 Meter und Einbau eines Instrumentenlandesystems – sei nun abgeschlossen, weiss Heinz W. Müller in der heutigen «Berner Zeitung» (BZ) und versucht «einige kritische Bemerkungen»: «Die meisten Stellungnahmen beschränken sich dabei auf teilweise illusorische Forderungen, wie etwa die zahlenmässige Beschränkung der Flugbewegungen oder die sofortige Beschränkung auf leise Flugapparate der dritten Generation.» Während Müller dergestalt mit kritischen Bemerkungen landauf landab zu denken gibt, ist die dritte und vierte Stärkeklasse im Belpmoos mit dem Ausstich beschäftigt. Und jetzt, am Nachmittag, beginnt die 1. und 2. Stärkeklasse mit dem Anhornusset. Ich habe die Gürbe überquert und durch den Morast zirkelnd das erste Ries erreicht. Der Regen hat nachgelassen. In der Nähe des Bocks bleibe ich stehen und beginne zuzuschauen: «Der Hurnuss wird mit schlanken Stecken von einem Sparren, der hinten auf dem Boden, vornen auf zirka zwei bis drei Fuss hohen Schwirren liegt, geschlagen, auf den er aufrecht mit Lehm angeklebt wird.» (Jeremias Gotthelf) Vorschau: heute Samstag «grosser volkstümlicher Abend». Es spielen, singen, tanzen und unterhalten: Jugendmusik Belp (Direktion Jürg Blaser), Oesu Lehme (Berner Conférencier und Kabarettist), Trio Hadorn (Enggistein), Peter Zinsli und sini Churer Ländlerfründe, Duett Käthi und Ernst Gyger (Kaufdorf), Alphorn-Duo Krebs (Riggisberg), Trachtengruppe Belp und Umgebung und das Jodlerchörli des TV Belp unter der Leitung von Ernst Gyger.

Träckigi Woukewäng schwappen übere Längebärg ii, wo jetz dä Gieu im roote Treenerjäggli, de Tschiins u de schwarze Gumischtifu drhäär chunnt dür dä härtig Bode, wo chnöchutöif süngget und saftet, schnäu no einisch zu de Abtüeier luegt im Ries hinge u nächär a zwöilöifig Bock häreschteit. Jetz träit er em Ries dr Rügge zue u leit si Schtäcke so ufe Bode, dass s’Träf, das höuzige Tütschi vor am Schtäcke, wo usgseht wines schmaus Konsärvebüchsli, exakt bis zum Loufändi vom Bock ma gglänge. Mitere churzschtilige Hacke grabt er sech truuf sini beide Füess i gsagmäälet Boden ii, hacket, schtampfet u trampet biser schteit win e Feus. En angere riblet u tröchnet mit eme Lumpe dr Louf, di metauigi Schine, wo gäg usse pogen isch, une Dritte chleipet es Hüüfeli Lätt ufs Ändi vom Louf und setzt trufue e suberputzte, tröchnete schwarze Hornuss. Jetz nimmt dr Gieu dr Griff vo sim Schtäcke fescht i beid Häng, het ne wine Fischruete us Aluminium, nimmt Määs, indäm er langsam u süüferli mit em Träf übere Louf iifahrt. Trufabe ziet er dr Schtäcke schnäu zrugg und schwingt ne zwöi-, drüümau probewiis um e Körper ume, dass es pfiift: Jetz gschpüürt er dr Räge nümm, jetz ghöört er nüt me, jetz schnuufet er töif u ziet mit haubzuenen Ouge dr Schtäcke langsam bis wit über d’Achsle zrugg, schteit gschpannt wine Fädere, gschpüürt, wi hinger ihm s’Träf langsam usschwingt, zum tote Punkt chunnt und wott umcheere. Da schriist er dr Schtäcke ume eiget Körper ume mit auer Gwaut, s’Tütschi pfiift rundum tür d’Luft, sänkt sech abe ufe Louf vom Bock, pfilet füre und preicht mit eme häue Chlapf ufe Hornuss. Vom Schwung riist’s itz dä Gieu us em Gliichgwicht, er wirblet dr Schtäcke überem Chopf im Chreis, schpringt e paar Schritt, wo’s ne häreziet, biser wider Schtang het. «Guet, Üelu!», rüeft’s hinger im u «Dä ziet wine Moore» und en Aute, wo’s verschteit, brummlet: «Dasch migozzeu es Sächzäni.» Dr Üelu hingäge macht em Nächschte Platz, luegt drii, wi wenn ihn das nüt aagieng, dass sech zäntume aui fröie ab sim Sächzäni und seit: «Dä Cheib han i z’usserscht usse verwütscht.»

«Weisung des Obmannes: Alle Präsidenten der Gesellschaften
sorgen für gute Ordnung auf dem Spielfeld und in der Festhütte.»

Gebrüder Bourquin Busswil, Träf-Fabrikation und Hornusserwerkzeug, Verkaufsstand Nähe Festhütte / Kühni AG, 3326 Krauchthal, Schreinerei, «Zum Abtue bruuchsch e gueti Schingle, bi Küehnis chasch di beschte finge», Betrieb mit sechs Aktiv-Hornussern / «Strom dient dem Menschen, Strom darf nicht knapp werden», BKW / Die Kommentatoren des Hornusserfestes sind sich darin einig, dass das Wetter am Sonntag dann besser wurde. Die Sonne schien, die Flugzeuge und Helikopter kurvten in Schwärmen über dem Belpmoos und der Fluglärm war derart, dass die Abtuer sich die Lunge oft vergeblich aus dem Leib schrieen. Daneben fand das Hornusserfest «einen erfreulichen Abschluss» («Bund») und die Leistungen waren durchwegs «glänzend» (BZ). Ich behaupte nichts anderes und komme zur Resultatübersicht: In der zweiten Stärkeklasse, 2. Abteilung belegte Alchenstorf mit 0/1339 knapp vor Oberlindach mit 1/1334 den neunten Schlussrang, und bei den Einzelschlägern klassierten sich Rudolf Gasche (Oekingen) und Jakob Mosimann (Schüpbach A) in der 1. und 2. Stärkeklasse mit je 116 Punkten knapp unter den ersten fünfzehn. / «Der gute Geist im Stoff: Hornusser-Wetter-Jacke aus GORE-TEX, wasserfest, winddicht, leicht und lässt trotzdem die Körperfeuchtigkeit nach aussen», Brand Bekleidungshaus, Ihr Fachgeschäft für bewegungskonforme Hornusserkleidung / Paul Schürch, 2604 La Heutte «bürgt für Qualität sämtlicher Hornusserwerkzeuge», Stand bei Festhütte / U. und P. Loretan, Schlosserei, 3135 Wattenwil «empfehlen sich für ihre bewährten Hornusserböcke ganz aus Chromstahl» / «Etwa zwanzig Schritte weit vor dem Sparren wird die Fronte des Raumes bezeichnet, innerhalb welchem der Hurnuss fallen oder abgetan werden muss. Dieser Raum oder dieses Ziel ist an der Fronte auch ungefähr zwanzig Schritte breit, erweitert sich nach und nach auf beiden Seiten, hat aber keine Rückseite, sondern ist in seiner Längenausdehnung unbegrenzt; so weit die Kraft reicht, kann der Hurnuss geschlagen werden. Innerhalb dieses Zieles muss nun der sehr rasch fliegende Hurnuss aufgefasst, abgetan werden, welches mit grossen hölzernen Schaufeln mit kurzen Handhaben geschieht.» (Jeremias Gotthelf)

Hundert Meter witter uss i de verrägnete Fäuder schteit mitere Schingle, wo’s Gmeinswappe zeigt, dr erscht Abtüeier zwüsche zwöine Metautäfeli, wo druff es «1» gschriben isch. Vo dert aa het’s au zää Meter zwöi Täfeli mit Nummero und en Abtüeier mitere Schingle. D’Flächi zwüsche de Täfeli vom Eis bis z’türhingere zum Achzäni, dasch s’Ries. Da drii darf ke Hornuss gheie, süsch git’s es Nummero. Bim Warte uf e nächscht Hornuss schtöö si zäme und rede vom letschte Eidgenössische z’Pleibech im Nünesiebzgi: Wi denn s’Wätter gsy sig und weli Gseuschafte denn heigen es Nummero gmacht. Vo witt hinge rüeft da eine füre: «Dir müesst aube e chley mee päägge und zeige dert voore, die Cheibe si böös z’gseh hüt.» U fasch gliichzittig warnet’s vo vore: «Einää… e Lingäää!» Jetz verteile sech d’Abtüeier im Ries und gluusse z’zürfüre. Wo dr Vorderscht bim Bock vor dr Schleger gseht dr letscht Schwung nää, brüelet er: «Jetzää…!» Und z’türhingere geit’s vom Einte zum Nächschte: «Jetzää!» Gschpannt göö si id Chnöi, griiffe d’Schingle mit beid Häng, und bevor me dr Schtreich vom Bock vor ghört chlepfe, da päägge si scho vooren im Ries: «Achtung, da obe! Da! Da! Gödu, linggs, Gödu…, Wernu…, Chlöisu…!» Die, wo bi de Nummero füfzä bis siebezä gschtange si, seckle linggs use, dr Erescht pängglet si Schingle höch i d’Luft, disi zwe phaute se ir Hang und wehren eso, uf eir Schingle chlepft’s, dr Hornuss isch abtaa, vo aunenorte rüeft’s: «Guet gmacht! Prima, Chlöisu!» Dä schiesst dr Hornuss wider z’türfüre und seit zum Kampfrichter übere: «Es sächzäni.» U scho schtöö si wider zäme, warte uf e nächscht Hornuss und eine seit: «Dä Chlöisu isch ganz e tipptoppe Abtüeier, nüt vo d’Schufle furtschlängge, dä gseht, wo d’Nousse abechöme.»

«Weisung des Obmannes: Damit bei der Rangverkündigung
keine Verzögerungen eintreten, bitte ich alle Hornusser,
sich rechtzeitig bereitzuhalten.»

Der erste Preis der Lotterie ist ein Volvo GLS (Fr. 16300.-). Der eidgenössische Obmann trägt eine weisse Armbinde mit Schweizerkreuz und Schleife mit Goldfransen, die Ries-Chefs haben eine weisse Masche mit Schleife am Kittel. Unter den Ehrengästen sind Henri Sommer, Regierungsratspräsident, Bern, Korpskommandant Jürg Zumstein, Generalstabschef der Armee, und Hans Ulrich Leibundgut, Grossrat, Kirchenthurnen. Ein weiterer Ehrengast war Willy Ritschard, Bundesrat, Bern, der in Belp eine Rede halten durfte: Stimmfaulheit, Umweltzerstörung, Krieg und Hunger auf der Welt seien Dinge, die auch einen Hornusser beschäftigen müssten. Das Organisationskomitee teilte sich auf in das Büro, das Auszeichnungskomitee, das Baukomitee, das Empfangskomitee, das Finanzkomitee, das Hornusserkomitee, das Lotteriekomitee, das Polizeikomitee, das Presse- und Propagandakomitee, das Rechnungsbüro, das Sanitätskomitee, das Unterhaltungskomitee, das Verkehrskomitee und das Wirtschaftskomitee. Frauen waren an diesem Anlass als Ehrendamen, Serviertöchter und Trachtenträgerinnen vorgesehen; dazu kamen die Frauen fortschrittlicher Hornusser, die hinter der Abschrankung zum Bock die Kinder beaufsichtigten oder sich als Meldeläuferinnen von einem Ries zum andern betätigten. Die BZ titelte am Montag: «Belp – Das Fest der aufrechten Männer.» Der Ausklang am Sonntagabend in der Festhütte wurde ab 19.30 Uhr von der Band «The Riverside» aus Belp bestritten. «Jeder Politiker müsste den Mut haben, das abzutun, was uns schadet», hat Ritschard gesagt, und: «Ich will euch mit diesen Problemen nicht das Fest verderben.»

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 39-45. (Dokumentiert wird die Buch-Version.)

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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