Miss Unia macht TV

Heute Nachmittag zum Beispiel fährt sie mit einem Kamerateam nach Toffen, um mit dem Gemeindepräsidenten ein Statement aufzunehmen über die Wohnvorzüge seines Dorfs. «Das ist der Vorteil eines kleinen Fernsehsenders», sagt Tanja Nocco. «Man hat sofort einen grossen Arbeitsbereich.» Tatsächlich: Seit dem 1. Dezember 2006 ist sie Produktionsassistentin beim Privatsender Telebärn. Unterdessen moderiert sie bereits eine eigene Sendung.

Ihre Hauptarbeit besteht aber darin, «als rechte Hand des Produzenten» diesen von den administrativen Arbeiten zu entlasten. Sie löst die Infrastrukturprobleme für die Produktionen; sie organisiert Statisten und Schauspielerinnen, Kamera- und Tonleute auf den Aufnahmetermin; sie sucht die «Location» – den Drehort für die Sendung; sie kümmert sich um die Rechte für benötigte Bilder und Musikstücke; sie findet die genauen Wünsche von Kunden heraus, die einen Werbespot produzieren lassen möchten oder sie betreut die Gäste, wenn im Studio Talk- oder Diskussionssendungen aufgenommen werden.

Im letzten Frühling hat Telebärn für das täglich um 23.30 Uhr ausgestrahlte Erotikmagazin «Watchme» eine neue Moderatorin gesucht. Nocco wurde angefragt, ob sie Lust habe, ein Casting – also einen Eignungstest vor der Kamera – zu machen: «Ich war schon ein bisschen skeptisch, weil ich wusste, dass ‘Watchme’ nicht überall auf Toleranz stösst und dass ich für gewisse Leute zur Zielscheibe werden könnte.» Sie besprach sich mit den Eltern und mit ihrem Partner. Das Casting nahm ihr dann die Zweifel: «Auf dem Dreh habe ich gesehen, dass die Arbeit keine andere ist als bei der Produktion irgendeines anderen Beitrags». Seit dem 1. Juni moderiert Nocco deshalb – neben ihrer 80-Prozent-Anstellung als Produktionsassistentin – «Watchme». Die einzelnen Ausgaben des Magazins werden vierzehntäglich produziert und dann eine Woche wiederholt.

Erotik für Mann und Frau

In dieser Sendung geht es, charakterisiert sie, um «Erotik und Sexualität». Sie moderiert nicht im Fernsehstudio, sondern jeweils in einem aktuellen Ambiente: am Rand der Street Parade, aus der Berner «Amor»-Messe oder der «Extasia»-Messe in Zürich. Im Zentrum der Sendung steht immer ein «Report», den sie selber produziert. Dabei geht es zum Beispiel um das Interview mit einer Regisseurin von Pornofilmen oder das Gespräch mit einer Tantramasseurin. Sie versuche jeweils Themen zu setzen, die nicht nur möglichst billig Männer anmachten, sondern auch Frauen interessieren könnten. Zur Sendung gehören zudem aktuelle Marktnews sowie «drei erotische Clips» – Ausschnitte aus käuflichen DVD-Produktionen, die sich nicht um die Grenze zwischen Erotik und Pornographie kümmern, welche die Moderatorin in ihrer Sendung nicht überschritten sehen will.

Was Tanja Nocco ärgert: «Viele Leute haben das Gefühl, eine solche Sendung zu machen, sei kein Aufwand.» Dabei sei die redaktionelle Arbeit genau gleich gross, «ob man ein Magazin über Erotik oder über Glanz und Gloria macht». Sie müsse genau gleich recherchieren und die Leute, die sie um eine Zusammenarbeit bitte, gleichermassen ernst nehmen.

Die Schweiz braucht Gewerkschaften

Tanja Nocco ist Unia-Mitglied. Die Gewerkschaften hat sie früh kennen gelernt: Ihre Mutter als Ascom-Mitarbeiterin und ihr Vater als Betriebsmaler des Berner Salemspitals waren immer in der Gewerkschaft und sind heute ebenfalls Unia-Mitglieder. Trotzdem war ihr Beitritt vor drei Jahren ein ganz persönlicher Entscheid. «Gerade in der Schweiz braucht es Organisationen, die sich für die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen einsetzen.» Sie selber habe die Entlassung eines Kollegen miterlebt, dem man nach fünfzehn Jahren in der gleichen Firma mit einer Frist von drei Monaten gekündigt habe: «So etwas würde es in Italien nicht geben.» Zudem könne man im Berufsleben immer in eine Zwickmühle kommen, in der man nicht wisse, was man tun solle. «Dann ist es gut, wenn man jemanden im Rücken hat, der einen unterstützt und bei dem man Infos holen kann.» Übrigens hat sie bereits mit 16 die schweizerisch-italienische Doppelbürgerschaft beantragt: «Wenn ich hier schon Steuern zahle, will ich auch abstimmen können.»

Noch in diesem Jahr wird Tanja Nocco dreissig. Alles habe sie nicht erreicht, was sie sich mit zwanzig gewünscht habe. Und einiges habe sich seither erledigt – etwa, als Model zu arbeiten oder Schauspielerin zu werden. Dafür weiss sie, dass Fernsehen zu machen – vor oder hinter den Kulissen – für sie der richtige Beruf ist. Und sie hat einen neuen Traum: Eines Tages möchte sie verantwortliche Redaktorin einer Fernsehsendung sein, am liebsten eines eigenen Lifestyle-Magazins.

 

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Miss Italia Svizzera

Tanja Nocco (* 1977) ist mit ihren italienischen Eltern und einem Bruder in Bern Bümpliz aufgewachsen. Nach dem zehnten Schuljahr macht sie die kaufmännische Ausbildung bei einem Immobilientreuhänder. Anschliessend arbeitet sie als Sachbearbeiterin bei der Swisscom. Mit 22 wird sie «Miss Italia Svizzera». In den nächsten drei Jahren reist sie viel und ist immer wieder «im Model-Business» tätig.

Mit 25 nimmt sie bei Ascom eine Stelle im kaufmännischen Bereich an. 2004 absolviert sie eine Theaterausbildung, geht den Weg zur Schauspielerei aber nicht weiter: «Ich war zu wenig ehrgeizig und zu freiheitsbedürftig.» Dafür gelingt ihr mit einer einjährigen Stage bei SAT 1 Schweiz und danach mit der Anstellung als Produktionsassistentin bei Telebärn der Einstieg in die Fernsehwelt. Berufsbegleitend absolviert sie zurzeit eine Weiterbildung in «Corporate Communication». Sie gehört in der Unia-Sektion Bern zur Gruppe der «Diversen Tertiär» und lebt mit ihrem Partner in Stettlen bei Bern. Zur Alternative Beruf oder Familie sagt sie: «Ich möchte berufstätige Mutter werden.»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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