Meiers Weg durch die Psychiatrie

 

Aktennotiz: «Raeto Meier (* 1954) fiel während der Schulzeit durch seine Phantastereien auf. Nach Sekundarschulbesuch Kellnerlehre, welche wegen seines provokanten Verhaltens als Angehöriger der marxistischen Lehrlingsorganisation Hydra abgebrochen werden musste. Mit 17 1⁄2 Jahren Bruch mit den Eltern, seither in Kommunen und im Drogenmilieu lebend, häufig auf Reisen, nur kurzfristig erwerbstätig. Gelegenheitsarbeiter, um seiner wirklichen Aufgabe als Bildhauer, Maler und Schriftsteller nachgehen zu können. 1975 hätte der Pat. seine Militärpflichtersatz-Steuer in Langnau bezahlen sollen, verschwand aber vorher. Die Behörde liess ihn durch die Kantonspolizei aufbieten. Diese fand ihn auch prompt in Bern.»

«Am Morgen des 3.August 1976 hat’s an die Tür geklopft. Das Klopfen weckte mich. Als ich öffnete, war die Polizei vor der Tür. Zu jener Zeit hatte ich ein Atelier unten in der Altstadt, am Langmauerweg. Dort war damals das ‘Harlem von Bern’, die Slums, wo zwischen den Ratten Fixer, Alkoholiker und ein paar Medizinstudenten gehaust haben. Ich hatte dort ein Zweizimmer-Logis, das ich nicht abschliessen konnte. Deshalb begann ich beim einen Eingang eine richtig schöne Panzertüre zu bauen, um mich einzubunkern. Damals hatte ich schon seit ein paar Monaten Stimmen gehört.

Im einen der Zimmer hatte früher einmal ein Fixer eine sicher zwei Quadratmeter grosse Zeichnung an die Wand skizziert, eine wunderschöne Frau, der eine Spritze ins eine Auge sticht, aus dem das Blut herunterfliesst. Ich fühlte mich damals als eine Wiedergeburt von Leonardo da Vinci und wollte aus der Skizze ein richtiges Fresko machen. Auf einen Scheitstock habe ich einen Stuhl genagelt. Dort oben sass ich dann nächtelang und malte an diesem Bild. Jeweils abends um zehn, elf, manchmal um Mitternacht kam ein Musiker vorbei, der brachte mir das Essen. Danach sind wir häufig spazierengegangen, der Aare entlang, zum Blutturm unter der Lorrainebrücke. Dort haben wir jeweils gepfiffen und aufs Echo gehört. Ich lebte damals praktisch nur noch in der Nacht. Tagsüber habe ich gewöhnlich geschlafen. Ich hätte mich sowieso nicht mehr hinausgetraut, weil ich mich vor den Leuten fürchtete. Ich fühlte mich verfolgt von allen möglichen Agenten.

Als an jenem Morgen die Polizisten hereinkamen, fragten sie mich als erstes: Wo haben Sie all dieses Werkzeug geklaut? Die Wände meiner Wohnung hatte ich damals nämlich voller Gestelle mit Hämmern, Zangen, Feilen. Ich sagte: Dieses Werkzeug ist nicht geklaut, das hier ist mein Atelier, ich arbeite hier. Sie sagten: Hören Sie, guter Mann, Sie haben den Militärpflichtersatz nicht bezahlt, wir müssen Sie mitnehmen. Ich sagte: Wunderbar, dann können Sie mich gleich in Schutzhaft nehmen. Ich werde nämlich von DDR-Agenten verfolgt, und langsam, aber sicher wird mir das zu bunt. Sie nahmen mich mit. Übrigens lagen damals 200 Gramm Gras auf dem Tisch. Es ist unberührt dort gelegen, als ich später zurückgekommen bin.»

Aktennotiz: «Die Polizei verhaftete ihn (wäre nach Angabe des Gerichtspräsidenten nicht nötig gewesen, da es sich um einen Bagatellfall handle) und brachte ihn nach Langnau.»

 «Im Amtshaus habe ich etwas zu Mittag bekommen, Wienerli mit Kartoffelsalat. Danach haben mich zwei Polizisten in einen SBB-Postwagen verfrachtet. Dort drin sass ich in einer ganz kleinen Zelle, in der ich praktisch stehen musste. Am Bahnhof in Langnau wurde ich mit dem Streifenwagen der Polizei abgeholt. Im Auto habe ich den Polizisten erzählt, ich sei unterwegs von einem Lasergewehr angeschossen worden. Sie haben sich ein wenig am Kopf gekratzt und mich in eine Zelle gebracht.

Der zuständige Polizist ist dann wirklich sehr zuvorkommend gewesen, er hat mir ein Radio und Bücher gebracht und die ganze Zeit versucht, mich zu beruhigen. Aber ich war total drauf, habe geschrieen, dass vermutlich halb Langnau zusammengelaufen ist, und habe immer wieder gesagt, er solle sich meine Schulter anschauen, ich sei angeschossen worden. Tatsächlich hatte ich dort einen Bluterguss, ich hatte ja wegen meines Hämophiliesyndroms andauernd irgendwo blaue Flecken. Der Polizist sagte, er sehe zwar nichts, aber er gehe einen Arzt holen. Doktor Fischer hat mir kurz an die Stirne gefasst, um zu sehen, ob ich Fieber habe. Dann hat er mich gefragt, was denn los sei. Ich habe gesagt, mein Vater sei im Zweiten Weltkrieg Bomberpilot gewesen, und deshalb würde ich jetzt verfolgt. Und meine Mutter schreibe Bücher unter dem Pseudonym Leon Uris. Der Doktor sagte, es sei wohl das beste, wenn wir eine kleine Spazierfahrt machten.»

Aktennotiz: «Psychiatrische Klinik Münsingen, 3.8.76. Eintrittsgrund: Akute paranoide Schizophrenie. Aufnahmestatus: Sympathischer, aber sehr unsicher wirkender, wiewohl sich gewandt gebender junger Mann. Erzählt, dass er der letzte Jude vom Warschauerghetto sei. Deshalb werde er jetzt verfolgt mit Hilfe von Laser-Strahlen, habe ein Wärmegefühl in der rechten Schulter, wo er von einem orangen Punkt getroffen worden sei. Lacht selber manchmal hilflos über seine ‘unwahrscheinlichen Erzählungen’, und doch ist es so bitterer Ernst für ihn, dass er hierher kommt, da er glaubt, dass er hier Schutz finden würde. Hat früher Marihuana geraucht, gehascht, angebl. nie gefixt. Abtlg. M7 West. Med.: 50mg Prazin p.o.i.R.»

«In Münsingen bin ich zum Notfallarzt gekommen. Dem erklärte ich, etwas Besseres, als hier eingeliefert zu werden, könne mir nicht passieren. Denn wenn ich erst für verrückt erklärt worden sei, dann würden die Nazis jedes Interesse verlieren, mich umzubringen. Am anderen Tag haben sie mich auf die Abteilung 7 West gebracht und verschiedene Untersuchungen gemacht. Dann haben sie gesagt, ich müsse jetzt ins Bett, ich bekäme eine Spritze. Danach bin ich vierzehn Tage lang kaum mehr zum Bett herausgekommen. Jeden Tag habe ich drei Spritzen bekommen, morgens, mittags, abends; ich konnte fast nicht gehen, weil mir der Arsch derart weh tat. Ich habe alles wie durch eine Milchglasscheibe hindurch gesehen und fast die ganze Zeit geschlafen. Aufgestanden bin ich nur zum Essen.

Nach vierzehn Tagen hat mich mein Bruder besucht, und auf einem Spaziergang habe ich ihn gefragt: Bin ich jetzt verrückt? Muss ich jetzt dableiben? Spinnt’s mir jetzt für den Rest meines Lebens? Mein Bruder versuchte mir schonend zu vermitteln, dass das so sei. Ich begann zu weinen. In diesem Moment hatte ich keine Hoffnung mehr. Danach kam ich in die Beschäftigungstherapie, Spielzeuge anmalen.

In den folgenden Tagen hatte ich mit einem Sozialarbeiter regelmässige Gespräche über meine Zukunftspläne. Ich habe zu jenem Zeitpunkt, als ich eingeliefert worden bin, keine Existenz gehabt. Häufig war ich als Landstreicher unterwegs. Manchmal habe ich geschmuggelt. Drum meinte der Sozialarbeiter, wichtig sei, dass ich einen Job hätte, wenn ich rauskomme. Ich habe gesagt: Kein Problem. Darf ich in die Stadt gehen? Er sagte ja. Am andern Morgen fuhr ich mit dem Zug nach Bern hinunter und ging aufs Teilzeitarbeitsamt: Grüessech, ich sollte einen Job haben. Die Frau am Schalter hat in ihren Kärtchen herumgewühlt und eines herausgefischt: Bauhandlanger bei einem Umbau in der Rathausgasse. Ich bin gleich dorthin gegangen und bin gefragt worden: U de lüpfe, chöitr? – Ich: Wi ne Moore. Wir sind uns einig geworden, dass ich am nächsten Tag anfangen könne. Am Nachmittag bin ich zurück nach Münsingen und habe gesagt: Voilà, ich habe einen Job, Boys, was habe ich gesagt. Jetzt will ich aber subito abmarschieren. Der Sozialarbeiter sagte: Wenn Sie einen Job haben, dann können Sie natürlich gehen. Ich habe meine Kleider eingesammelt u bi tubet.»

Aktennotiz: «Entlassung in Münsingen 31.8.76, wo er bis Mai 77 in ambulanter Behandlung stand. 6.12.76: Pat. hatte vor 10 Tagen Dyskinesien der Extremitäten und Gesichtsmuskeln. Frühdyskinesien? (bei Orap selten). EEG. 23.12.76: EEG in den Grenzen der Norm. Med.: Orap reduziert auf 2 mg/Tag, Akineton 3x1. Ab 31.1.78 auf der Bettenstation und in der Tagesklinik [der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern, fl.].»

«Am anderen Tag ging ich auf die Baustelle in der Rathausgasse. Der Vorarbeiter sagte, ich solle eine 80-Liter-Brännte fassen, solle sie mit Pfludi füllen und zwei Stockwerke hochtragen. Ich sagte: Du, pardon, nix für mich. Er hat gesagt, er habe gemeint, ich sei kräftig. Dann solle ich halt verreisen. Mir war das recht. Hauptsache, ich war wieder draussen.

Ich hauste wieder am Langmauerweg, und der Sozialarbeiter bemühte sich, mich in ein Arbeitslosenprogramm einzugliedern. Er fragte mich, was ich machen wolle, und ich sagte, dass ich mich für Bücher und für Geschriebenes interessiere. Danach konnte ich in der Stadtbibliothek zwei oder drei Monate lang helfen, ein Inventar zu machen.

Damals hatte man mir das Neuroleptikum Orap verschrieben. Einmal abends auf dem Heimweg bekam ich plötzlich weiche Knie. Ich konnte nicht mehr gehen, bin bei jedem Schritt eingesunken, ging noch einige Schritte, dann war ich unten. Gesehen hat’s jeder, geholfen hat niemand. Irgendwie bin ich zum Bahnhof gekommen. Dort habe ich den Bus heimwärts genommen. Als ich ausstieg, hat mir einer geholfen, der hat mich die drei-, vierhundert Meter praktisch nach Hause getragen. Ich hatte Kieferstarre, die Zunge draussen – ich konnte absolut nichts mehr machen, nicht mehr essen, nicht mehr gehen. Lähmungen, Muskelkrämpfe, und der Tremor natürlich – dieses Zittern in allen Gliedern. Dagegen gab man mir dann Akineton, es Hueregift, so gruusig, zum Chotze, pfui Teufel. Das Orap haben sie danach abgesetzt und mir Haldol gegeben.

In der Stadtbibliothek fanden sie dann, ich müsse für einen anderen Job schauen, das hier sei nur eine Übergangslösung. Eine Assistenzärztin in Münsingen empfahl mir, wieder als Kellner zu arbeiten. Ein abwegiger Gedanke, auf Haldol und mit einem Nervenleiden ausgerechnet servieren zu wollen. Aber ich habe geglaubt, was die mir gesagt hat, und habe mir im Restaurant Cardinal an der Standstrasse einen Job als Kellner gemischelt. Dort bin ich der Langsamste gewesen, und ich habe nicht eine richtig büezermässige Birne und keine Bierschnure gehabt, wie das dort drin nötig gewesen wäre. Die Stammtischbüezer haben immer geflucht über mich und mir Schlämperlige ausgeteilt. Wegen der dauernden Lämpen mit der Kundschaft hat mich der Beizer dann nicht mehr gewollt. Viel verdient habe ich dort sowieso nicht.

Danach habe ich mir bei der Stadtmühle einen Job als Beifahrer gemischelt. Dort habe ich pro Tag dreizehn bis sechzehn Tonnen Mehl auf dem Buckel herumgeschleppt, die ganze Lastwagenladung samt Anhänger, alles 50-Kilo-Säcke. Der Chauffeur hat die Säcke bereitgestellt, und ich musste sie reintragen. Wegen des Blutersyndroms bestand meine ganze Schulterpartie in dieser Zeit aus einem einzigen riesigen Bluterguss. Es hat dann immer öfter geheissen, den Meier müsse man anbinden am Lastwagen, sonst falle er heraus, weil er immer penne. Auf der Autobahn bin ich wirklich jeweils eingeschlafen, weil’s so monoton war, zum Beispiel von Schaffhausen zurück nach Bern. Die Stadtmühle hat mir gekündigt.

Danach wohnte ich in einer Wohngemeinschaft an der Mühlemattstrasse in Bern. Dort habe ich das Haldol nicht mehr genommen, weil’s mich aagschnägglet het. Dafür beschloss ich, Schriftsteller zu werden. Ich begann, Gedichte zu schreiben, und fand, meine Lebensgeschichte gebe eine Sensationsstory. Ich wollte darüber schreiben, wie die Psychiatrie in der Klinik mit mir umgehe und mich behandle. Die Tabletten, die ich schlucken sollte, habe ich in einem Glas zu sammeln begonnen. Zusätzlich habe ich einen Ordner angelegt und auf dem ersten Blatt begonnen, pro Tablette einen Strich zu machen, wie beim Jassen, immer Fünfer-Bigeli. Ich bin dann immer mehr weggetreten.

Damals lernte ich ein junges Mädchen kennen. Ich habe mich verliebt, und sie sich in mich auch. Das war eine ausserordentlich leidenschaftliche und harmonische Angelegenheit. Sie malte Ölbilder, und einmal hat sie in einer Pfanne ein Fixiermittel oder sowas aufgekocht. Ich habe am anderen Morgen aus Versehen in dieser Pfanne Milch gekocht, hab’s zu spät gemerkt und die Milch getrunken. Die Sache war zwar nicht speziell giftig, aber ich hatte plötzlich das Gefühl, ich hätte eine Vergiftung. Ich flippte total aus und rannte auf die Strasse hinaus. Dort bin ich der ehemaligen Frau Direktor des ‘Bellevue’ begegnet, die hat mich gefragt, was ich hätte. Ich habe gesagt: Eine Vergiftung. Sie hat gesagt, sie komme mit mir zur Sanitätspolizei. Wir sind hingegangen, und ich habe gesagt, es müsse rasch etwas passieren, ich wolle nicht verrecken. Die Polizisten haben mich auf eine Bahre geschnallt, und ab ins Zieglerspital.

Ich kam in die Notfallstation und lag auf einem Schragen. Dort gab es eine Krankenschwester, die trug ein Schildchen mit dem Namen Zinniker. Ich dachte: Zinniker, das heisst nichts anderes als Zyniker. Der nächste Gedanke war: Jetzt bin ich schon wieder in den Händen der Nazis. Im Zieglerspital sind sie dann draufgekommen, dass ich in der SPK, der Sozialpsychiatrischen Poliklinik, in Behandlung war. Da war ihnen der Fall klar: Ab in ein Taxi und in die Poliklinik. Dort haben sie mich nicht mehr gehen lassen und mir wieder Medikamente gegeben. Tagsüber Beschäftigungstherapie, ich wob Halstücher. Meine Freundin hat mich regelmässig besucht. Und nachdem ich eine Zeitlang Halstücher gewoben hatte, hat es geheissen, ich sei jetzt wieder ready für den Alltag.»

Aktennotiz: «Nach plötzlichem Tod der Freundin an Lungenembolie Jan. 79 Herumflippen, vermehrter Drogenabusus.»

«Weil ich den Mietzins nicht mehr bezahlt hatte, wurde ich an der Mühlemattstrasse hinausgeschmissen. Über meine Freundin ist uns in Ostermundigen für 150 Franken eine Dreizimmer-Wohnung angeboten worden, mit schöner Veranda und farbigen Spitzbogenfenstern. Wir waren gleich von Anfang an in diese Wohnung verliebt.

Damals war ich wieder auf Haldol und wieder auf Jobsuche. Ein Freak gab mir den Tip, dass sie bei der Epa Magaziner suchten. Also ging ich dort vorbei und habe gesagt, ich käme gerade aus der Klinik und wisse nicht recht, was ich arbeiten könnte. Man hat mich angestellt. Ich war nun 25 und verdiente achtzehnhundert Franken brutto. Nach der Arbeit ging ich jeweils in die SPK zur Kontrolle; dort haben sie über mich ihre Rapporte geschrieben.

Einmal hatten meine Freundin und ich die Grippe. Wir sind eine Woche lang im Bett gelegen. Am Ende der Woche ist meine Freundin vor meinen Augen gestorben. Das war am 22. Januar 1979. Durch das Liegen hat sich in ihrem Oberschenkel eine Thrombose gelöst und ist in die Lunge gewandert. Gestorben ist sie an einer Lungenembolie. Ich habe viel zu spät reagiert. Ich hätte nie vermutet, dass es ihr derart schlecht geht. Man hat ihr nicht viel angemerkt. Sie ist von einem Moment auf den anderen gestorben. Sie war damals 22.

Ihr Vater hat die Polizei kommen lassen. Er hat gesagt, ich hätte nachgeholfen, ich hätte mit Heroin zu tun. Als sie gestorben war, hatte sie nur die verpissten Unterhosen an. Ich habe gedacht, so kannst du sie nicht liegen lassen. Drum habe ich ihr die Unterhosen aus- und das Pyjama angezogen. Als die Polizei kam, haben die ihr das Pyjama wieder ausgezogen und die nassen Unterhosen angezogen zum Fotografieren. Das hat mich so unger jedem Hung tünkt. Das hat mich gedemütigt und kaputtgemacht. Und auch für sie war das eine Demütigung.

Ich wurde danach in die Bettenstation der SPK zur Beobachtung geschickt, zur Beruhigung. Ein paar Tage bin ich dort gewesen. Lange Zeit bin ich huere schlächt zwäg gsi. Ich habe dann wieder in der Epa gearbeitet und in Ostermundigen gewohnt. Ha dört so gläbt.»

Aktennotiz: «Ärztlicher Befund: Paranoid schizophrenes Zustandsbild (Gespanntheit, Aggressivität, Visionen, teilweise inkohärenter Gedankengang) mit wechselnd erhaltener Realitätskontrolle.»

«Ich lebte als Bébé eine Zeitlang in einem Säuglingsheim. Damals, beim Übergang vom Schoppen zur Breinahrung, wäre die richtige Diagnose zum erstenmal möglich gewesen. Man begann mir dort Griesbrei zu füttern, und zwar gewaltsam, weil ich ihn verabscheut habe. Ich habe diese Nahrung nicht vertragen. Nach dem Essen hätte ich jeweils schlafen sollen, konnte aber nicht, weil ich Bauchweh hatte. So habe ich geschrieen und geweint.

Die Verdauungsbeschwerden sind chronisch geworden. Bis ich 35 war, brauchte ich am Morgen jeweils anderthalb Stunden zum Aufstehen, allein eine Stunde lang sass ich auf dem WC. In dieser Zeit habe ich auf gut deutsch gesagt fünf- bis siebenmal geschissen. Jedesmal meinte ich, ich sei fertig. Aber kaum sass ich beim Kaffee, musste ich von neuem losrennen. Jeden Tag. Dazu das Bauchweh. Die Ärzte haben dafür immer eine Erklärung gefunden, einmal kam’s von den Nerven, ein andermal vom Haldol. An das Bauchweh habe ich mich bereits in der Kindheit als etwas Natürliches gewöhnt.

Schon früh gab es weitere Symptome: Während der schulärztlichen Untersuchung in der ersten Klasse wurde eine Wachstumshemmung der Genitalien festgestellt. Ein oder zwei Jahre lang bekam ich Hormonspritzen. Danach war zwar das Wachstum normal, aber immer mehr beschäftigte mich die Beobachtung, dass bei mir kleine Verletzungen, wie es sie beim Raufen unter Kindern gibt, viel länger bluteten als bei anderen Kindern und dass dauernd mein ganzer Körper voller blauer Flecken war. Wenn ich davon sprach, war ich für meine Mutter jeweils ein Phantast, ein Spinner. Diagnostiziert worden ist die Blutungstendenz als Willebrand-Jürgens-Syndrom erst nach einer Weisheitszahnoperation während meiner Zeit in der Stadtbibliothek, als die Blutung im Kiefer erst nach anderthalb Tagen mit Medikamenten gestoppt werden konnte. Damals erhielt ich meinen Bluterausweis.

Oder die diffusen Leberschmerzen. Eine Berührung der Lebergegend löste zeitweise sofort Brechreiz aus. Bis meine Frau einmal gesagt hat, ich solle endlich zum Arzt, sie wolle mich schliesslich überall berühren können. So bin ich wegen meiner Bauchbeschwerden zu einem Spezialisten. Der hat mit Ultraschall den ganzen Bauch abgesucht und dann gesagt: I gseh nüt. I gseh nüt! Tüet doch nid so blöd! Er hat nichts herausgefunden. Ich hatte den Stempel ‘Paranoide Schizophrenie’. Der hat den Doktoren jahrelang alles erklärt.»

Aktennotiz: «1979/80 Umschulungsversuch durch IV an einer Funkerschule ohne Abschluss. Nach vorübergehender Stabilisation unter Drogen- und Alkoholmissbrauch in Anschluss an Absetzen von Haldol akute psychotische Phase (Okt. 81) mit Hosp. in PUK, nachdem er sich mit dem Messer an den Genitalien selbst mutilieren wollte.»

«Die Ausbildung, die die IV mit monatlich 350 Franken unterstützt hat, hiess ‘Invaliditätsbedingte Ausbildung zum Schiffsfunker’. In dieser Schiffsfunkerschule in Ostermundigen habe ich morsen gelernt: di-di-do-di, do-di-do-di, di-di-di-di – die ganze Zeit. Und immer das Tempo gesteigert, bis zu 160 Buchstaben pro Minute. Nach einem Jahr habe ich die Prüfung gemacht als Radioamateur. So habe ich mein Rufzeichen bekommen, HB9 SBK. Mit dieser Nummer kann ich auf der ganzen Welt herumfunken, und unter dieser Nummer werde ich auf der ganzen Welt erkannt: Der Sierra-Bravo-Kilo, das ist der Meier aus der Schweiz.

Nach diesem ersten Jahr hatte ich die Idee, eine Station zu kaufen – der Traum jedes Amateurs –, möglichst riesig, mit Zwölf-Meter-Richtstrahlantenne auf dem Dach, mit Parabolscheibe, Schmalbandfernsehen et cetera. In eine solche Station kannst du ohne Probleme bis zu 200000 Franken verlochen. Du kannst dir ausrechnen, wie weit ich mit 900 Franken brutto und 350 Franken IV gekommen bin. Und die IV wollte nicht einsehen, dass ich eine solche Station brauche. Ich sagte, ich müsse üben können, damit ich Praxis und im zweiten Lehrjahr als Schiffsfunker mehr Chancen hätte. Sie sagten nein, und ich brach die Ausbildung ab und ging wieder arbeiten.

In dieser Zeit wollte ich mit andern zusammen ein literarisches Heft herausgegeben, den ‘Gassenwinkel’. Bei mir zu Hause richtete ich eine Redaktion ein. Nächtelang haben wir getippt, Leute kamen und gingen, brachten Zeichnungen und Texte, es wurde geleiert und gesoffen bis zum Morgengrauen. Der ‘Gassenwinkel’ ist im April 1981 ein einziges Mal herausgekommen. Im Schub. Denn gleichzeitig habe ich unter ärztlicher Kontrolle, sozusagen offiziell, das Haldol abgebaut und bin immer mehr ins Flippen gekommen.

Ebenfalls in dieser Zeit sass ich einmal in einem Vortrag eines israelischen Religionswissenschaftlers, eines erzkonservativen Rabbiners mit wallendem Bart. Er hat erzählt vom Königreich, das entstehen werde, wenn der neue Messias komme, und dass der wahrscheinlich aus der Schweiz stammen werde. Ich hatte mitten im Publikum sofort das Gefühl: Ou gopferdeli, jetzt musst du doch noch dran glauben und den König machen. In einem anderen Referat sprach er dann über die Königin. Seither bildete ich mir ein, um ihrer würdig zu sein und sie heiraten zu können, müsse ich aufhören, Zigaretten und Shit zu rauchen, aufhören, Fleisch zu essen und Alkohol zu trinken. Ich habe mich immer mehr mit makrobiotischem Körnerfood ernährt, und dort drin hat’s in Gottes Namen massenhaft Getreideprodukte. Im Sommer 81 bin ich immer mehr ausgeflippt.

Ich kündigte meine Wohnung, in der ja meine Freundin gestorben war, weil ich fand, ich sei genug traurig gewesen, ich wolle endlich einmal Abstand nehmen und etwas Neues anfangen. Für ein Knübi Hasch organisierte ich mir zwei Kollegen und einen Lieferwagen. Wir haben die ganze Wohnung ausgeräumt – Stereoanlage, Bücher, Betten, Möbel, Schulmaterial, Schreibmaschine, alles – und sind damit in die Kehrichtverbrennung gefahren. Alles ist dort s’Loch ab, bis auf ein Paar Bluejeans, eine Jeansjacke und zwei, drei Paar Unterhosen. Danach ging ich ins Brockenhaus und kaufte mir, um irgendwo liegen zu können, eine Matratze.

Eines Abends im Oktober war ich in der leeren Wohnung, in der Nähe des Bahnhofs von Ostermundigen. Dort haben sie an den Geleisen gearbeitet. Deshalb hörte ich dauernden Lärm, ein Knallen, Eisen auf Eisen. Mir schien immer deutlicher, da würden Sägesse tängelet. Da wusste ich plötzlich: Jetzt rotten sich die Bauern zusammen, weil ich ihre Töchter gebumst habe. Die kommen mit ihren Sensen und machen kurzen Prozess mit mir. Meine innere Stimme, die ich damals hörte, mein Medium, sagte mir, es gebe nur einen Weg für mich, dass mich diese Bauern nicht metzgen würden: Ich müsse mich selber kastrieren.

So stand ich mit dem Küchenmesser splitternackt vor dem Lavabo und wollte mir den Schwanz abschneiden und ihn den Ablauf runterspülen. Ich habe das Messer angesetzt und ein paarmal probiert, ohne mich gross zu verletzen. Dann habe ich mir überlegt: Wer – in der Realität – würde machen, was ich jetzt mache? Vermutlich niemand. Vermutlich würde mein Tun als ziemlich abnormal angeschaut. Wenn ich mein Schnäbi behalten möchte, könnte ich deshalb ja im Prinzip noch einen Anruf machen. Ich habe dann in die Psychiatrische Poliklinik telefoniert und der diensttuenden Ärztin mein Problem geschildert. Sie hat darauf ein wenig nervös gefragt, wie meine Adresse sei, und gesagt, es käme gleich jemand vorbei, bis dahin solle ich nicht mehr auf das Medium hören.

Ich war längst wieder mit dem Messer am Lavabo, als der Nachbar, den die Ärztin alarmiert hatte, hereinkam und sagte: Mach kein Theater! Du musst dich anziehen, und das mit dem Messer, das machen wir jetzt nicht. Dann ist die Sanitätspolizei gekommen und hat mich in die SPK gebracht. Dort habe ich mit der Notfallärztin gesprochen. Sie hat bald einmal gesagt, es gebe nichts anderes, ich müsse in die ‘Waldau’. Wieder sind zwei Sanitätspolizisten gekommen. Ihr Auto war in einer unterirdischen Garage parkiert. Als der eine die Tür der Garage geöffnet hat, habe ich plötzlich einen Spurt gerissen, die Ausfahrt hinauf und weg. Die beiden Polizisten haben in die Röhre geschaut.

Ich bin die Altstadt hinunter an jenen Ort, wo ich das Gefühl hatte, dort wohne die Königin, ein Modi, das ich zu jener Zeit gekannt habe. Beim Mosesbrunnen auf dem Münsterplatz hat mir das Medium befohlen, mich zu reinigen, bevor ich zur Königin komme. Obschon es Oktober war und gegen Mitternacht, bin ich samt Kleidern in den Brunnen gestiegen und untergetaucht. Danach ging ich in jenes Haus, in dem ich die Frau vermutet habe. Als mich der Freund jener Frau, den ich von früher kannte, tropfnass unter der Tür stehen sah, sagte er zu ihr: Du, däm liiret’s gloub wider rächt im Momänt. Ich war beleidigt, ging deshalb zurück in die Poliklinik und habe gesagt: So, ich bin wieder da.

Am nächsten Morgen haben sie mich in die ‘Waldau’ gebracht. Als ich vor der Klinik noch einmal wegzurennen versuchte, haben mich die Polizisten zurückgeholt. Im Polizeigriff haben sie mich beim Eingang abgeliefert.»

Aktennotiz: «Am 17.10.1981 Auffinden des Patienten in Wohnung, unbekleidet, mit 2 Messern in der Hand. Angeblich Stich in linke Leiste zwecks Sühne des Geschlechtstriebes. Entweichen aus der PUK. Am 18.10. um 3.00 Uhr morgens durchnässt wieder in PUK nach Brunnenbad. Notfallmässig zu uns eingewiesen wegen Schub einer paranoiden Schizophrenie mit Suizidalität. Hier (psychisch): Gespannt und mutistisch, steif, grimassieren und Stereotypien, verängstigt, ambivalent, schlechter bis fehlender affektiver Rapport, gelegentlicher Gedankenentzug, Autismus, Verschuldungs- und Versündigungsideen, Verdacht auf Körperhalluzinationen.»

«In der Waldau hat man mir als erstes gesagt, ich müsse andere Kleider anziehen, meine Kleider waren ja nass nach dem Bad im Mosesbrunnen. Sie gaben mir eine Art Anstaltskleider von irgendeinem ehemaligen Patienten. Ich hatte das Gefühl, dass ich diese Kleider unmöglich anziehen könne, weil darin der Geist des Verrückten lebe, der sie vor mir tragen musste, in meinen Kleidern aber sei mein Geist, und so sei ich wohl. Ich musste die Kleider trotzdem anziehen und überlegte: Was machen wir jetzt da? Ich sagte mir: Zuerst werde ich die Kleider los, und dann mache ich, dass ich über die Wiese nach Ostermundigen in meine Wohnung komme, dort habe ich was zum Anziehen.In irgendeiner Ecke habe ich die Anstaltskleider ausgezogen und bin splitternackt auf der Abteilung herummarschiert. Man hat mich gezwungen, die Kleider wieder anzuziehen. Ich bin ein bisschen herumspaziert, in einem unbeobachteten Moment habe ich sie wieder ausgezogen. In der Zwischenzeit ist das Mittagessen serviert worden. Ich ging splitternackt in den Speisesaal, und wenn jemand zur Tür hereingekommen ist, habe ich versucht zu entwischen. Immer wieder hat man mich gezwungen, die Kleider anzuziehen.

Später bin ich wie die anderen Patienten in der allgemeinen Bettenabteilung, der ich zugeteilt war, auf und ab gegangen. Plötzlich kam im Radio ein Vortrag über die Juden und das Judentum. Ich habe mir gedacht: Gopferdeli, das gibt’s doch nicht, jetzt haben die Nazis über Nacht die Macht ergriffen. Da ist sicher etwas passiert, dass sowas im Radio kommt.

Dann kam ein Pfleger und sagte, ich müsse ins Bett. Er führte mich zu einem Bett und sagte, ich solle mich hinlegen. Ich sagte, ich sei nicht müde. Wir standen neben dem Bett, und er sagte wieder: Gehen Sie jetzt ins Bett, Herr Meier. Schliesslich sagte ich: Also gut, gehe ich halt ins Bett, setzte mich drauf, schwang die Beine drüber, stand auf der anderen Seite des Bettes wieder auf und marschierte weiter. Aber der Gnietibruder liess nicht locker und sagte, wenn ich nicht ins Bett ginge, kriegte ich eine Spritze. Ich sagte, ich wolle nicht ins Bett und ich wolle keine Spritze. Ich dachte, jetzt, wo die Nazis die Macht ergriffen haben, wäre eine Spritze mein Tod. Die wollen mich unter dem Boden haben. Ich wusste ja, dass die Nazis die Webstübeler alle eingeschläfert haben. Dieser Pfleger will mich jetzt einfach umlegen, und übermorgen werde ich kremiert, vielleicht schon morgen. So sah meine Wirklichkeit aus.

Plötzlich ist es im Schlafsaal laut geworden, und die Patienten begannen sich zu bewegen wie verrückt. Aufs Mal war Blut am Boden, einer hat geschrieen. Ich kam hinten und vorne nicht nach, was los war. Ich wurde gepackt, man sagte mir, ich kriegte jetzt eine Spritze. Ich versuchte mich loszureissen. Es gab eine Schlägerei. Ich wehrte mich, und sie haben mich zu sechst oder siebt überwältigt. Sie haben mir einen Arm verdreht, und ich stand vornübergebeugt. Da sah ich aufs Mal direkt vor mir den Hosenladen von dem, der gesagt hatte, ich kriegte jetzt eine Spritze: ein Griff und tüchtig zugeklemmt. Der Pfleger jaulte auf wie ein Pavian und verlor seine Brille. Ich bin sofort draufgetreten. Da hat mir dieser Pfleger von unten herauf einen Schlag ins Gesicht gegeben, dass das Auge danach wochenlang in allen Farben geblüht hat. Hier, den Schatten unterhalb des linken Auges habe ich von dort, der ist nie mehr ganz weg.

Sie haben mich gefesselt, mir eine Spritze in den Arsch gegeben, mich in eine Isolationskabine geschleift und abgeschlossen. Für mich war’s eine Gaskammer. Dort drin bin ich am Boden gelegen und habe mir gesagt: Jetzt musst du die Luft anhalten und dann ganz tief einatmen, so geht’s am schnellsten. Bevor ich das Bewusstsein verloren habe, hat mich gedünkt, es rieche nach Gas.»

Aktennotiz: «23.2.82. Beurteilung: Chronischer Drogenabusus (Haschisch, Mo, LSD, Cocain, jetzt vor allem Marihuana) bei intelligenter, aber asthenisch identitätsgestört-unstrukturierter Borderline-Persönlichkeit mit Neigung zu depressiven Verstimmungen und schizophrenieformwahnhaften Dekompensationen. Ambulant betreut, wohnt allein, halbe IV-Rente, zur Zeit Hilfsarbeiter. Weiteres Procedere, Medikation?»

«Als ich am nächsten Morgen zu mir gekommen bin, hat eine Pflegerin versucht, mir mit einer Schnabeltasse Kaffee einzuflössen. Allmählich wurde mir bewusst, dass ich den ersten Tag in der ‘Waldau’ überlebt hatte. Ich konnte es nicht fassen, dass ich noch am Leben war, und vermutete, dass die Pflegerin vom Roten Kreuz sein könnte. Dann kamen zwei Ärzte, um mich zu untersuchen. Unterdessen hatte ich beschlossen, dass in meiner Situation reden viel zu gefährlich sei, weil ich jemandem schaden könnte. Die beiden Ärzte begannen mich zu untersuchen, während ich immer noch am Boden lag. Danach sagten sie, ich könne jetzt raus aus der Kabine und frühstücken gehen. Ich habe mich also hingesetzt und zwei Ankenschnitten und einen Kaffee bekommen. Das war das erste Mal seit langem, dass ich wieder etwas gegessen habe. Ich dachte mir: Wenn sie dich gestern mit der Spritze nicht umgelassen haben, dann werden sie dich wohl jetzt mit dem Brot nicht vergiften. Darum ass ich. Auch Medikamente kriegte ich. Die habe ich genommen. Ich habe mich gefügt.

In der Klinik sind alle Patienten auf den Korridoren auf und ab gegangen und haben gepafft. Und wenn sie nicht gepafft haben, haben sie gefragt: Hesch mr e Zigarette? Rauchen war die einzige Beschäftigung dort. Die Luft war zum Entzweischneiden, ein Qualm, eigentlich hätte man eine Nebellampe anschnallen müssen. Ich habe dort wieder zu rauchen begonnen. Geredet habe ich nach wie vor nicht, dachte jedoch: Ich rede zwar nicht, aber schreiben kann ich. Deshalb machte ich meinem Betreuer, einem Assistenten, eine schriftliche Mitteilung. Es ging darum, ob ich wieder reden könne oder ob ich nicht dürfe. Ich wollte das genau wissen. Weil die anderen auf der Abteilung ja auch redeten, fand ich, im Grunde genommen sei ich auch berechtigt, reden zu dürfen. Am vierten oder fünften Tag habe ich wieder zu reden begonnen.

Danach bin ich in die Beschäftigungstherapie. Dort habe ich Phantasiepuzzles gemacht und sie farbig bemalt. Die Leute dort haben das wahnsinnig gut gefunden, was ich gemacht habe. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht ins Kunstmuseum. Dort sind Bilder aufgehängt gewesen von Claudio Knöpfli. Knöpfli war einer, der die ähnlichen Probleme hatte wie ich und den ich von früher her gekannt habe. Da habe ich mir gedacht: Läck doch mir, der ist im Prinzip also in der gleichen Situation wie ich, aber der bringt seine Bilder ins Museum. Wenn das so ist, muss ich direkt auch mal etwas versuchen. Ich hatte zuvor zwar schon geschrieben, aber wegen dieses Museumsbesuchs habe ich zu malen begonnen.

Nachdem ich in Wabern eine Einzimmer-Wohnung gefunden hatte und aus der Waldau entlassen worden war, musste ich weiterhin in die Sozialpsychiatrische Klinik zur Nachbetreuung, wieder zu jenem Tubel von einem Arzt, der zuvor bei meinem Versuch, das Haldol abzusetzen, nicht gemerkt hatte, dass es mir langsam, aber sicher aushängte. Nun sagte er: «Sie hätten mir das halt sagen müssen, dass es Ihnen schlecht geht, Herr Meier.» E sone Tubel! Das merkst du ja eben nicht! Er hätte etwas merken müssen, ich hatte ja klare Symptome, konnte nicht mehr ruhig sitzen, war unkonzentriert, verlor dauernd den Faden.

Nun war ich wieder voll auf Haldol und hatte ständig gewaltige Muskelkrämpfe. Dagegen haben sie mir Akineton verschrieben, aber das ist derart gruusig, dass ich, um die Krämpfe zu lösen, immer mehr Shit geraucht habe. Ich habe gemerkt, dass ich viel entspannter, viel lockerer war, wenn ich etwas geraucht hatte, dass die Verspannungen zurückgingen und dass ich mich viel gäbiger bewegen konnte. Unterdessen hat mir ein Assistent des Inselspitals bestätigt, dass es möglich ist, Haschisch als Akineton-Ersatz zu verwenden. An Tagen, an denen ich kein Haschisch hatte, kam es vor, dass ich abends beschwerdefrei zu Bett ging und mitten in der Nacht schreiend aufwachte, weil ich wahnsinnige Schmerzen in den verdrehten Armen und Beinen hatte. Wenn ich Haschisch geraucht habe, ist das nicht vorgekommen.»

Aktennotiz: «4.1.1986. Beurteilung: Cannabis-Abusus bei intelligenter, asthenisch-identitätsgestörter, unstrukturierter Borderline-Persönlichkeit mit Neigung zu depressiven Verstimmungen u. psychotischen Dekompensationen. Procedere: Versuch, die Neuroleptika auf ein Minimum zu reduzieren. Stützen der gesunden Anteile u. in diesem Sinne vorläufig keine IV-Rente, sondern allenfalls IV-Berufsberatung. 1983 Aufnahme einer Partnerschaft mit einer weltoffenen, positiven, mütterlichen und extravertierten Frau. Mitte  85, ein Jahr nach Geburt einer Tochter, Heirat. Zahlreiche Hilfsarbeiterstellen.»

«Nach der ‘Waldau’ habe ich mir einen Job gemischelt als Lagerist bei Kümmerly & Frey, oben in der Länggasse. Dort arbeitete ich in einem unterirdischen Kartonlager und musste mit einer elektrischen Ameise Karton und Papier an die Druckmaschinen bringen. Das war angenehm. Ich bin mit dem Ameiseli herumgesurrt und zwischenhinein wieder in den Lift, die Tür zu und: Tschou zäme, hinunter ins Lager im dritten UG. Dort unten war ich lediglich mit einem alten Papi zusammen, der selber geschlotet hat wie ein Tubel und nicht merkte, wenn ich im Büro einen Joint durchgezogen habe. Der hat’s mit dem Qualmen derart durchgegeben, dass er Raucherbeine gekriegt hat und ins Spital musste. So war ich aufs Mal der Boss des Lagers und hatte ungefähr für zwei Millionen Franken Karton und Papier zu verwalten. Ich hatte nun mein eigenes Büro und den Frieden, konnte Musik hören, hatte vor mir meinen Rechner, hier meinen Bleistift und dort meinen Filzstift und unter dem Tisch einen riesigen Wasserkübel für die Zigarettenstummel.

Oft habe ich mich dort unten mit der Königin unterhalten. Plötzlich habe ich laut herausgelacht, weil mir die Königin einen Witz erzählt hat. Ich habe gelacht oder etwas zurückerzählt. Aber das war alles ich, der das gemacht hat, das war klar. Und manchmal hatte ich auch den Halluzger, dann war ich huereschwach auf den Beinen. Nach einem Jahr oder anderthalb haben sie gesagt, wenn ich noch mehr krank sei, müsse ich gehen, ich hätte zu viele Ausfälle. Und dann ist noch der Tresor von Kümmerly & Frey ausgeräumt worden, und die Schmier hat mich am Arbeitsplatz verhaftet. Man vermutete, ich sei’s gewesen, weil ich immer Vorschuss holte und nie Kohle hatte. Der Schmier sagte ich: Zehntausend werden wohl im Tresor gewesen sein. Mit soviel Geld wäre ich schon längst an der Copacabana und würde mich einölen, statt mich mit euch zu unterhalten. Mir hat’s dann gereicht. Ich kündigte.

Dann nahm ich im ‘Galaxy’ vis-à-vis vom Kocherpark einen Job als Kellner an. Dort habe ich zweieinhalb Mill verdient, bügelte bis morgens um zwei, war bis drei, halb vier am Abrechnen und sollte bereits vormittags um zehn wieder servieren. Ich war gottlos uf dr Schnure. Damals habe ich, um besser rumrennen zu können, chinesisches Opium reingenommen. Der Beizer hat mich eines Tages zur Seite genommen und gesagt, man sehe zwar, dass ich mir Mühe gäbe, aber es habe Reklamationen gegeben, man habe das Gefühl, ich nähme Drogen. Ich habe ihn mit grossen Augen angeschaut und gesagt: Ich Drogen? Nein, was ist das? Aber lange gegangen ist’s im ‘Galaxy’ trotzdem nicht.

Dann habe ich meine heutige Frau kennengelernt. Mit ihr habe ich zum ersten Mal seit langem wieder einmal eine gute Beziehung erlebt. Sie hat mich so richtig in die Finger genommen und mich salonfähig gemacht. 1984 ist die Tochter Anaïs zur Welt gekommen. Ein Jahr später haben wir geheiratet. Aber was ich nie schaffte, war das mit den Jobs.» 

Aktennotiz: «Beurteilung (9.4.1988): (…) Borderline-Persönlichkeit. Pat. auf eig. Begehren informiert, zeigte sich wenig erfreut über die neue Diagnose. Seine Frau wusste ihn zu trösten, indem sie ihm die Liebe versicherte, auch wenn er kein Schizophrener sei. Hat sich das Hausiererpatent erworben und verkauft eigene Kärtli, plant neue Ausstellungen, beginnt sich schriftstellerisch zu betätigen. Medikation: Haldol Tbl. à 1 mg. Ds 4–6mg/tgl.»

«Zu jener Zeit habe ich beschlossen, ernsthaft mit Malen zu beginnen. Ich habe mir ein nasses Hemd vors Gesicht gebunden und bin mit der Spraydose drauflos auf Pavatex. Vierzehn Tage, nachdem ich begonnen hatte, habe ich das erste Bild verkauft. Von da an verkaufte ich im Durchschnitt im Monat ein Bild: am Anfang für zwanzig Franken, für fünfzig, für hundert oder hundertfünfzig Franken. Mir war wichtig, dass ich überhaupt verkaufen konnte, dass etwas hereinkam und dass ich das Gefühl haben konnte: Dieses Bild ist so gut, dass jemand bereit ist, fünfzig oder hundert Franken zu bezahlen. Das hat mich ermutigt, und mit der Zeit waren die Bilder ein fester Teil unseres Einkommens. Ich machte eine Spraybilder-Ausstellung und sprayte auch die Einladungskarten einzeln, jedes Stück ein Original. Die Leute waren begeistert. Das ist ein Geschäft, dachte ich mir, klemmte solche Kärtchen unter den Arm, ging von Beiz zu Beiz, von Tisch zu Tisch und verkaufte sie, das Stück für vier Franken.

Seit 1987 ging ich mit gedrippten Kunstkärtchen, T-Shirts und Krawatten auf den Berner Märit [Dripping entsteht durch das Schleudern der Farbe über die Unterlage mittels Pinsel oder Pipette, fl.]. Dort habe ich den Rank jedoch nicht gefunden, habe zu wenig verdient, war zu wenig abgesichert, hatte finanziell kein zweites Bein, auf dem ich bei Flauten hätte stehen können. Deshalb musste ich den Märit wieder aufgeben und zur SBB gehen, Bahnhof Bern, Gepäckaufgabe des Fly-check-in, Koffer plombieren. Dort bin ich den ganzen Tag herumgestanden, habe Kaffee getrunken, Zigaretten geraucht, mich zu Tode gelangweilt und die ganze Zeit diesen Bahnhof-Food gegessen, Baguettes und Döner Kebab, immer das gleiche.

In dieser Zeit war ich entweder am Gepäckschalter im Bahnhof oder zu Hause im Bett, etwas anderes gab’s nicht. Ich habe Schicht gearbeitet. Jede Schicht dauerte acht bis zwölf Tage am Stück. Vom ersten bis dritten Tag hast du nachmittags um fünf begonnen und bis morgens um eins gearbeitet. Am vierten Tag musstest du schon nachmittags um zwei beginnen, verkürzte Ruhezeit, dann hast du bis abends um zehn gearbeitet. Dann musstest du wieder früher beginnen, zum Beispiel morgens um acht, wieder verkürzte Ruhezeit. Am Schluss musstest du morgens um halb fünf beginnen. Das hat mich gottlos auf den Hund gebracht, ich mit meinem Schlafbedürfnis, mit dem täglichen Haldol und dem chronischen Bauchweh. Jede freie Minute bin ich im Bett gelegen, habe nichts mehr gemalt, nichts mehr geschrieben. Ich war tot, einfach tot.»

1990 sieht Raeto Meiers Frau Ursula in der Zeitung per Zufall den Hinweis auf die Praxiseröffnung der Kinder- und Jugendpsychiaterin P. H. Jahre zuvor hatte sie für eine Studentin gleichen Namens die Kinder gehütet, danach den Kontakt verloren, als diese als Ärztin in die USA ging. Ursula Meier nimmt mit ihrer alten Bekannten Kontakt auf und fragt sie um Rat, sie habe einen Ehemann, der als «schizophren» gelte. H. ist interessiert, sich Raeto Meier anzusehen.

Meier sagt heute, er sei höchstens fünf Minuten im Zimmer der Ärztin gewesen, als sie zu ihm gesagt habe: «Sie sind nicht schizophren.» Für ihn brach eine Welt zusammen. Bis zu diesem Augenblick hatte es zu seiner Identität gehört, dass er irgendwie «schizophren» war. Längst hatte er die Diagnose verinnerlicht, die die Psychiater seit 1976 wiederholt und Mitte der achtziger Jahre vom Jargon der klinischen Psychiatrie in den zeitgemässeren der Sozialpsychiatrie übersetzt hatten («paranoide Schizophrenie» wurde damals zu «Borderline-Persönlichkeit mit schizophrenieformen Dekompensationen»).

Nach der ersten Sitzung geht die Ärztin davon aus, dass Meiers aktenkundige psychotische Episoden Symptome eines organischen Problems sind. Sie beginnt mit umfangreichen medizinischen Untersuchungen des ganzen Körpers. Die erste Vermutung, dass Meiers Blut zuwenig Kupfer abbaue (ein Verlauf, der zu psychotischen Symptomen führen kann), bewahrheitet sich nicht. Die Frage, ob seine Verdauung eigentlich in Ordnung sei, führt weiter. Nachdem Meier – damals immerhin seit fünfzehn Jahren in dauernder psychiatrischer (und also, müsste man meinen, ärztlicher) Behandlung – der Ärztin seine chronischen Verdauungsprobleme und die Konsistenz seines Stuhls geschildert hat, ist die richtige Spur gefunden: Zöliakie.

1950 hatte der holländische Kinderarzt Dicke die Erklärung für eine merkwürdige Beobachtung gefunden. Beobachtet hatte er, dass es gewissen Kindern während des Zweiten Weltkriegs trotz Brotmangel besser ging als danach, als die Ernährung schnell bedeutend besser wurde. Die Erklärung lautete: In den Getreidesorten, aus denen normalerweise Mehl hergestellt wird, Weizen, Hafer, Gerste und Roggen, findet sich Kleber-Eiweiss (Gluten). Zöliakie, so lautet seither die Definition des Krankheitsbildes, ist eine chronische Glutenunverträglichkeit im Dünndarm. Seit damals sind auch die vielfältigen Zöliakie-Symptome bekannt und beschrieben – dazu gehören psychische Veränderungen ebenso wie die Tendenz zu Hämophilie, Wachstums- und chronische Verdauungsstörungen. Erstmals können sich Symptome einige Wochen bis Monate nach der Einführung mehlhaltiger Speisen in die Nahrung des Säuglings entwickeln. Bekannt ist weiter, dass der Ausschluss des krankmachenden Anteils der Getreide, also eine glutenfreie Diät (Früchte, Gemüse, Fleisch, Milch und Milchprodukte), innert sechs bis neun Monaten zur Regeneration der Dünndarmschleimhaut führt. Bekannt ist schliesslich, was die Schweizerische Interessengemeinschaft für Zöliakie in einer Informationsschrift wie folgt zusammenfasst: «Wir möchten Sie speziell darauf hinweisen, dass Spätfolgen bei nicht eingehaltener Diät im Erwachsenenalter wahrscheinlich sind (wie Eisenmangel, Mangelerscheinungen und bösartige Veränderungen des Darms).» Als Meier endlich zu seiner medizinischen Diagnose kommt, ist er 36jährig. Hätte er die Diagnose vor 1976 gekannt, wären ihm mit grosser Wahrscheinlichkeit die Schizophrenie-Diagnose, die Drehtürenpsychiatrie-Karriere und das Neuroleptikum Haldol erspart geblieben. 

Aktennotiz: (STELLUNGNAHME AN DIE COOP RECHTSSCHUTZVERSICHERUNG: (…) Am 10.12.1991 haben wir bei Herrn Meier auf Zuweisung seines Hausarztes ca. um 11 Uhr eine Magenspiegelung durchgeführt. (…) Wir haben Herrn Meier Dormicum 2,5 mg und Penthidin 50mg intravenös verabreicht und anschliessend die ca. 20minütige Untersuchung durchgeführt. Rudolf R.»

«Nachdem ich schnell auf die glutenfreie Diät angesprochen habe, habe ich eine Zeitlang daran gedacht, gegen die Psychiater zu klagen. Deshalb war es nötig, die Diagnose medizinisch hieb- und stichfest zu machen, was durch eine Gewebsentnahme aus dem Dünndarm, eine sogenannte perorale Dünndarmbiopsie, geschieht. Ich ging am 10. Dezember 1991 zum Gastroenterologen Rudolf R. an der Effingerstrasse. Dort gab man mir zuerst ein Gerinnungsmittel gegen meine Blutungstendenz. Bevor mir der Arzt einen Schlauch die Speiseröhre hinunterführte, drückte er mir eine Spritze in den Arm, irgendein Betäubungsmittel, ohne meine Einwilligung. Ich war ja mit dem Auto hergekommen und musste gleichentags unbedingt noch nach Zürich an den Weihnachtsmarkt. Die Gewebsentnahme ging rasch. Danach sagte der Arzt, ich könne aufstehen. Als ich vom Schragen rutschte, hätte es mich um ein Haar flachgelegt, mir war total schwindlig. Der Arzt sagte, ich solle mich eine halbe Stunde hinlegen und danach drei Stunden nicht Auto fahren. Ich hielt mich daran, obschon das Perfide an diesem gespritzten Medikament war, dass ich mich total gut und aufgestellt fühlte.

Als ich dann vom Parkplatz rückwärts in die Maulbeerstrasse hinausfuhr, krachte es zum ersten Mal: Ein Vorbeifahrender hatte mir die halbe Stossstange weggerissen. Ich konnte mich mit ihm einigen, weil er nur einen Kratzer hatte. Ich fühlte mich immer noch gut und wusste: Ich muss unbedingt nach Zürich. So bin ich losgefahren. In Schönbühl fahre ich plötzlich auf der Gegenfahrbahn, sehe ein Auto auf mich zukommen, reisse das Steuer herum, fahre über das Trottoir frontal in ein Geländer. Der Sachschaden betrug 3000 Franken. Noch am gleichen Nachmittag habe ich in R.s Praxis angerufen und gesagt, mit diesem Medikament stimme etwas nicht. Obschon ich mich an die Anweisungen gehalten hätte, hätte ich einen Unfall gebaut. Die Arztgehilfin hat spontan geantwortet, mit diesem Medikament dürfe man doch mindestens 24 Stunden nicht Auto fahren. Ich habe den Doktor R. dann eingeklagt. Ein Jahr später war die Verhandlung. Auf Anraten meines Anwalts akzeptierte ich einen Vergleich. R. zahlte mir 2000 Franken.

Dann ist vom Pathologischen Institut der Universität Bern das Ergebnis der Biopsie gekommen: keine Zöliakie. Das Rätsel löste sich, als R. seine Honorarnote geschickt hat. In Rechnung gestellt hat er eine Gewebsentnahme im Magen, wo sich die Zöliakie nicht nachweisen lässt. Deshalb ist meine Zöliakie bis heute medizinisch nicht endgültig nachgewiesen. Eine zweite Biopsie habe ich nicht mehr durchführen lassen, weil mir vom Prozessieren gegen die Psychiater in der Zwischenzeit abgeraten worden war, das meiste wäre sowieso verjährt gewesen.

Seither halte ich strikt die glutenfreie Diät ein. Ohne sie könnte ich nicht mehr leben. Diätfehler haben jeweils böse Wirkungen. Letzthin war ich an einem Fest, dort gab’s Schinken mit Sauerkraut. Serviert wurde das Essen mit einer Brotscheibe obendrauf. Ich sagte, ich könne kein Brot essen. Man nahm die Scheibe weg, und ich hatte mich nicht dafür, das ganze Essen zurückzugeben. Ich ass das Sauerkraut samt den Brotbrösmeli, die darin zurückgeblieben waren. Tags darauf lag ich mit Bauchkrämpfen im Bett. Was neuerdings dazugekommen ist, sind Cholesterinsteine in der Gallenblase. Das bedingt eine zweite Diät, möglichst cholesterinfrei. Die richtige Ernährung ist nun noch schwieriger geworden. Gallensteine sind bei Männern selten und bei mir zusätzlich merkwürdig, weil ich immer sehr fettarm gegessen habe. In den Lehrbüchern heisst’s, Gallensteine könnten eine Folge sein von entzündlichen Darmkrankheiten. Zöliakie ist eine entzündliche Darmkrankheit.

Geblieben ist das Haldol. Das nehme ich bis heute, weil ich’s bis anhin nicht abbauen konnte. Die bisherigen Versuche sind alle gescheitert. Seit achtzehn Jahren bin ich jetzt mehr oder weniger drauf. Das kannst du nicht einfach auf die Seite schieben. Ohne Haldol werde ich nervös, kriege den Tremor, mache im schlimmsten Fall sogenannt schizophrene Symptome, höre Stimmen. Zur Zeit bin ich hoch drin, zehn Milligramm, ich brauche wieder mehr, weil ich seit zwei Monaten keinen Shit mehr rauche. Jetzt muss ich es wieder von Viertelmilligramm zu Viertelmilligramm abbauen. Ich glaube zwar nicht, dass ich dieses Medikament aus medizinischen Gründen brauchen würde, aber ich bin süchtig danach. Vom Morphium und vom Koks bin ich runtergekommen. Aber bis heute nicht vom Haldol.»

Am 1. August 1994 beginnt Raeto Meier eine dreijährige Lehre als Gemüsegärtner. Er möchte den Anbau von biologischem Gemüse, dem Hauptbestandteil seiner Nahrung, zum Beruf machen. Er möchte eine Arbeit erlernen, die den Plausch macht. Seine Familie steht zu ihm. Anaïs, die Drittklässlerin, hat eben das Zeugnis nach Hause gebracht, Deutsch mündlich, Deutsch schriftlich und Zeichnen: lauter ausgezeichnete Noten. Wenn Meier lacht, schüttelt sein Zwerchfell Salve um Salve aus ihm heraus. Er freut sich auf den Neuanfang.

Seither hat Reato Meier das erste halbe Jahr seiner Ausbildung mit Erfolg absolviert. Eine exakte Ultraschalluntersuchung seines Unterleibs hat keine Gallensteine zum Vorschein gebracht; eine diesmal korrekt durchgeführte Dünndarmbiopsie hat die Diagnose Zöliakie endgültig bestätigt. Juristisch vorgehen gegen die Psychiater, die ihm «Schizophrenie» attestiert haben, mag er nicht mehr. Bis er frei sein wird vom Neuroleptikum «Haldol» wird es noch Jahre dauern, schätzt Meier. (18.2.1995)

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 187-211; zudem in: Raeto Meier: Mein Leben als Versager. Stories eines Arbeitenden, Muri b. Bern (Cosmos) 1996, 7-38. (Unter Verwendung beider Buch-Versionen; der Kommentar am Schluss stammt aus dem erstgenannten Buch.)

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