Marie-Louise Beyeler (röm.-kath.) in der Beiz

«Eigentlich war ich auf eine Tirade gegen die Kirche gefasst», beginnt Marie-Louise Beyeler zu erzählen. «Aber niemand hat gesagt: ‚Hör mir doch auf mit deinem Verein oder mit diesem Papst in Rom.‘ Ob ich Katholikin, Protestantin oder Muslimin bin, hat in dieser Runde keine Rolle gespielt. Da war eine grosse Toleranz.» 

Am Stammtisch im «Falken» an der Münstergasse in Bern setzt sich seit Jahrzehnten, wer will, dazu. Früher residierte hier der Eisenplastiker Jimmy Schneider. Seit seinem Tod ist er noch anwesend auf der grossen Fotografie über dem Tisch, auf der die Stammtischmitglieder in den frühen Achtzigerjahren das berühmte Abendmahl-Gemälde von Leonardo da Vinci nachgestellt haben – Schneider sitzt als Jesus in der Mitte am langen Tisch. Am Abend des 23. November, als Marie-Louise Beyeler z’Visite kommt, sitzen am Stammtisch acht Leute, geht jemand, bleibt der Stuhl nicht lange leer. Ironisch stellen sich mehrere Anwesende als Mitglieder der «Landeskirche SP» vor, betonen aber, Kirchensteuern zu bezahlen, weil die Kirche viel Gutes tue. 

«Der diakonische Aspekt der Kirche wird hier anerkannt», konstatiert Marie-Louise Beyeler. Sie ist verheiratet, Mutter von fünf Kindern zwischen 14 und 21, arbeitet als freie Journalistin und ist Präsidentin der katholischen Kirchgemeinde Bruder Klaus in Bern. Erstaunt hat sie, dass man am Stammtisch über den Sinn des Zusammenseins ähnlich redet wie unter kirchlich aktiven Leuten: «Wenn ich in der Pfarrei nachfrage: ‘Warum engagiert ihr euch eigentlich?’, dann höre ich auch nicht als Erstes: ‘Um den Glauben an Gott und an Jesus Christus zu teilen’. Oft geht es auch dort zuerst um die Gemeinschaft: ums zusammenkommen, zusammen reden, zusammen etwas tun. Es gibt durchaus Parallelen zwischen Stammtisch und alltäglichem Pfarreileben.»

Im «Falken» sitzen an diesem Abend Stammtisch Männer und Frauen, geschulte Köpfe, die in einer politisch und historisch sehr bewussten Art über Kirche und Glauben reden. Es geht um Bevormundung und Sozialisation durch die Kirche, um die Trennung von Kirche und Staat, um den Glauben als Privatsache oder als öffentliche Angelegenheit und um die Gefahr der Instrumentalisierung von Gläubigen. Marie-Louise Beyeler diskutiert mit: «Politik wäre ja die Ebene, auf der man christliche Postulate umsetzen könnte. Ich bin gut-gläubig genug, mich zu fragen: Wie stünde es um diese Welt, wenn wir das, was uns das Evangelium vorschreibt, leben würden? Was sie am Stammtisch sagten von den christlichen Parteien – ob mit einem C oder einem E vorneweg – das stimmt halt einfach schon: Wenn du christlich politisieren willst, dann ist das Evangelium die Grundlage – und dort drin steht nicht, dass du in zwanzig Verwaltungsräten sitzen und den Gewinn optimieren sollst. Dort steht, dass du teilen sollst, was du hast.»

Neben dem diesseitigen Aspekt des christlichen Engagements gibt es aber den anderen: «Was mir am Stammtisch gefehlt hat, ist das, was ich als Glaube bezeichne, das, was hinter dem ist, was wir spüren und sinnlich wahrnehmen, die Idee von einer Kraft, die alles zusammenhält. Man hat vom Glauben als Privatsache gesprochen oder das Wort ‚Glauben‘ durch ‚Überzeugung‘ zu ersetzen versucht. Aber eigentlich hätte ich schon gerne noch genauer gewusst: Wie geht ihr durchs Leben ohne Glauben? Wenn etwas ausserordentlich Schönes passiert oder wenn ein geliebter Mensch stirbt, sagt ihr dann einfach: Das ist’s halt gewesen, und nächsten Freitag gehen wir wieder an den Stamm?»

Also empfindet sie das Abendmahl-Foto, das den Stammtisch dominiert, als blasphemisch? «Nein, obschon ich mir bewusst bin, dass es Gläubige gibt, die von Blasphemie reden würden. Aber wenn die Leute um Jesus oder die Leute um Jimmy Schneider oder die Leute, die sich jetzt jeden Freitag im ‚Falken‘ treffen, einen guten Moment haben zusammen, reden ohne dem anderen das Messer hineinzulassen; wenn sie den Moment geniessen; wenn sie beseelt von diesem Moment, in dem sie zusammen Bier und Oliven oder eben Wein und Brot teilen, hinausgehen und etwas Friedliches in sich spüren; wenn sie dieses Gefühl sogar in ihr Leben umsetzen, weil sie wissen: He, es könnte ja immer so gut sein wie bei diesen Treffen – geht es dann nicht jeweils um das gleiche urchristliche Anliegen?»

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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