Laudatio auf Theobaldys Gesamtwerk

Die Literarische Kommission der Stadt Bern verleiht dem Lyriker und Schriftsteller Jürgen Theobaldy für sein Gesamtwerk den Literaturpreis 2006.

Zu würdigen ist vorerst der literarisch konsequente Weg, den Theobaldy während vierzig Jahren gegangen ist: Er ist diesem Weg treu geblieben, obschon er nie einen durchschlagenden Erfolg auf dem Buchmarkt und damit die Anerkennung durch eine breite Öffentlichkeit erhoffen liess. Der heute bald 62jährige Autor ist in Strassburg geboren und in Mannheim aufgewachsen. Er studierte in Freiburg im Breisgau, Heidelberg, Köln und in West-Berlin. In die Schweiz kam er als Vierzigjähriger aus privaten Gründen, lebte zuerst in Renan im Berner Jura, später in Basel, seit 1988 in Bern. Hier schreibt er seit vielen Jahren im Auftrag der Parlamentsdienste Protokolle in verschiedenen eidgenössischen Kommissionen. Nicht zuletzt die Erfahrungen dieses Brotberufs haben es ihm ermöglicht, 2003 seinen Roman «Die Trilogie der nächsten Ziele» in einem bundesbernartigen Milieu spielen zu lassen. Die Geschichte wird nacheinander von einem Asylbewerber als Verwaltetem, einem mafiösen Anwalt als Waltendem und einem Beamten als Verwaltendem erzählt. Diese drei Perspektiven schiessen zusammen zu einer beunruhigenden Welt, in der das Erkenn- und Benennbare keinen festen Grund mehr hat, sondern über einem Abgrund schwebt, den man solange ignorieren kann, wie das Schweben noch dauert. «Die Trilogie der nächsten Ziele» ist der erste «Schweizerspiegel» des 21. Jahrhunderts.

Zu würdigen ist zweitens die Formenvielfalt des Gesamtwerks: Es umfasst neben Romanen, Erzählungen und Essays insbesondere ein breites Spektrum von lyrischen Formen. Nach 1968 gehörte Jürgen Theobaldy in Westdeutschland neben den frühverstorbenen Nicolas Born oder Rolf Dieter Brinkmann zu den bedeutenden lyrischen Chronisten der damaligen Studentenbewegung. Ihre Erkundungen einer neuen Subjektivität wurden von der Kritik mit dem Begriff der «Alltagslyrik» belegt. Später führte Theobaldys Weg als Lyriker vom Parlandoton weg bis hin zu den klassischen Metren und reinen Reimen. In seinem eben erschienenen zwölften Lyrikband betont er jedoch: «Unreine Reime/ sind feiner als reine.»

Zu würdigen ist schliesslich die herausragende Qualität dieses Gesamtwerks: Es hat bereits bis heute eine unverwechselbare Spur gelegt auf dem Kontinent der deutschen Sprache. Theobaldy ist angetreten, eine neue Subjektivität zu erkunden jenseits jener der Sturm- und Drang-Genies des 18. Jahrhunderts oder jener der expressiven Grossstadtpoeten zu Beginn des 20. Was er gefunden hat, ist eine Sprache ohne Jargon, ohne Klischees und Versatzstücke der Denkfaulheit, eine Sprache von geistreichem Eigensinn, die das Eigene immer wieder knapp neben der Norm von Wortschatz oder Grammatik findet. Wer diese Sätze aufmerksam liest, stolpert immer wieder – freilich nicht über Schulmeisterweisheiten, sondern weil er zu lesen vergisst ob all den überraschenden Durchsichten auf das Unabschliessbare, das das Leben ist. Theobaldys Texte sind noch lange nicht ausgelesen, wenn man sie weglegt.

Die Literarische Kommission zeichnet heute ein Werk aus, das exemplarisch und mit beeindruckender sprachlicher Innovationskraft zeigt, was und wieviel zu sagen bleibt, wenn die Subjektivität auf eine menschgemässe Grösse heruntergeschraubt wird. Der Preis gebührt Theobaldy, weil er diese Perspektive gefunden und bis zur künstlerischen Meisterschaft ausgestaltet hat – für ihre ethischen Implikationen gilt ihm darüber hinaus unser Respekt: Während der Kommissionssitzung, in der dieser Literaturpreis diskutiert und beschlossen wurde, fiel ein Satz von bemerkenswerter Literaturferne, dem niemand widersprach. «Ich bin stolz», sagte jemand, «dass Jürgen Theobaldy in dieser Stadt lebt.»

Weil ich der Meinung bin, dass Jürgen Theobaldys Dankesrede, die anlässlich der Preisverleihung am 15. Februar 2007 dieser Laudatio folgte, mehr und bedeutenderes über ihn als Dichter sagt, als es mir an dieser Stelle und bei früherer Gelegenheit gelungen ist, habe ich ihn gefragt, ob ich diese Dankesrede hier dokumentieren dürfe. Mit Mail vom 17. Juli 2013 hat er geantwortet: «Du kannst meine kleine Dankesrede gern zusammen mit deiner Laudatio auf deine Homepage stellen.» – Hier ist sie:  

«Mir unvorstellbar, denke ich und kratze das Billett aus dem Automaten, mir unvorstellbar, dass ein Schriftsteller zu schreiben beginnt, weil ihm an literarischen Preisen gelegen wäre. Lieber an den Rändern zuhause, ob sie nun hereinbrachen oder nicht, müsste er unentrinnbar vor diejenigen treten, die seinen Auftritt erwarteten oder ihn, wie er selber, hinter sich bringen wollten, und dabei hat er auch deshalb zu schreiben begonnen, weil er nie und nirgends im Mittelpunkt stehen wollte, schon gar nicht dort, wo ihn die Unzulänglichkeit, ja Vergeblichkeit des eigenen Schreibens, das immer auch ein Zustand ist, vielleicht mehr quälte als in diesem Zustand selber. Noch jedes Mal, wenn ihn jemand fragt, was er denn beruflich mache, wird er verlegen, antwortet bisweilen in Rätseln oder schiebt seinen Brotberuf vor, wo er die Reden von Parlamentariern aus ihren rhetorischen Nöten schält und ihnen in die vorläufige Ewigkeit amtlicher Schriften verhilft. Denn ihm ist das Ansehen der Schriftsteller früh geprägt von den grossen Verlorenen unter ihnen, die so sehr Dichter waren, dass sie sonst nichts wurden, und von ihrer Aura unweigerlich zu zehren, hat ihn stets geniert und verlegen gemacht vor sich selbst, misstrauisch gegenüber Erfolgen und öffentlichen Ehrungen.

Auch deshalb sieht er, seit er darüber nachdenkt, in seinem Schreibzimmer ein Rückzugsgebiet, freilich eines, in dem er weiter ins Offene vorstösst als an der belagerten Theke, wo er gestern stand, um am Abend vor der Preisverleihung nichts mehr anbrennen zu lassen. Sein Schreibtisch ist zugleich ein Aussichtspunkt, die Brüstung seiner Tischplatte das Sims, von wo er die Welt zu sich hereinholt oder doch seine Welt erkundet, um sie verwandelt aus sich heraus - eben in die Schrift zu stellen; und das Ich, sofern es in seinen Arbeiten zum Vorschein kommt, wird ihm nur zufällig das eigene Ich sein, einfach weil ihm kein anderes derart nahe steht, dass es alle Zugriffe über sich ergehen liesse, ohne sich gleich jedes Mal packen zu lassen.

Aber wer schreibt, sollte auch nicht damit kokettieren, dass er mit dem umschriebenen Ich nichts gemein hätte, denke ich am Fenster im Tram, und falls Erfolg ihm widerstrebt, sollte er erst recht sagen können, warum er nicht nur die Schublade oder seine Festplatte füllt, sondern stattdessen das Innigste und Zerbrechlichste, die eigene Phantasie, preisgibt. Darauf wird er wohl seine Liebe, ja sein erotisches Verhältnis zur Sprache bekennen, stärker zum geschriebenen Wort als zum gesprochenen, und Liebe muss er nicht auch noch begründen, selbst jene nicht, in der Ethos und Arbeit zusammenfinden. Und die geliebte Arbeit an der Form, die erst riskiert, ins Öffentliche zu drängen: letztlich ist sie, so sie die Form nicht zum Panzer verhärtet, Arbeit an der Würde des Menschen und reicht so über das Einzelne, Zufällige hinaus. Das Besondere an jedem Gedicht ist doch, dass es zunächst eine Erwartung weckt, in der die Wörter, frei von jedem Zweck, auf einmal alles bedeuten könnten, was je sich sagen liesse, ehe das einzelne Gedicht, sofern es glückt, zum unverwechselbar eigenen wird - zu dem, was es freilich erst dann ist, sobald es gelesen wird, und dies, obwohl das Gedicht sich an niemanden richtet, denke ich, während ich am Bahnhof den Vorplatz überquere. Aber gerade weil es sich an niemanden richtet, kann das Gedicht jeden und jede ansprechen und wird dennoch niemals alle erreichen, ja es entfaltet seinen Reichtum gerade in seiner Machtlosigkeit. Dazu muss es gleichsam durch das Gepränge der Öffentlichkeit hindurchfinden und wieder bei Einzelnen ankommen.

Die Politiker hingegen, die Verlautbarer und Festredner suchen die Öffentlichkeit und einmal dort angelangt, sind sie am Ziel, um dieser Öffentlichkeit bestenfalls zu geben, was das Ihre ist, während sie für Dichter nur eine Durchgangszone bleibt. Dennoch stellen er oder sie mit ihrem Werk etwas in diese Öffentlichkeit, das die Welt anregender, bedeutungsvoller und lebenswerter, kurz: ein wenig schöner macht, und wo es die Einzelnen beglückt, ihre schwankende Zuversicht ins Leben und meinetwegen ins Leiden, für Tage wenigstens steigert, dort ist etwas von der Notwendigkeit der Dichtung überhaupt zu spüren. Indem ein Autor sein Werk so weit treibt, bis es diese Notwendigkeit gleichsam aus sich selber zu schaffen scheint, kann er dafür niemals Dank beanspruchen, schon gar nicht von einer literarischen Kommission. Wo sie ihn trotzdem mit einem hohen Preis auszeichnet, dort schliessen sie sich zusammen: das schreibende Ich und das in seinen Dankesworten aufkreuzende Ich, die Lesenden und die das Werk Feiernden...

Zuguterletzt ist Poesie immer auch all das, von dem jetzt nicht die Rede war – das sich heute auch schon anders als in Worten gezeigt hat und sich so, wie ich vermute, noch weiter zeigen wird.  

Ich danke der Kommission für den Preis, dem Laudator für sein schmeichelhaftes Urteil und Ihnen fürs Zuhören.»

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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