Kurt Martis Lyrik in der Umgangsschprach

«Die Röseli- und Gemüsegartenmissverständnisse, die Küsschenschämigkeiten und die Scheiden-tut-weh-Schleichereien: der ganze Trauerwonnezauber, in welchem die Mundart für den Dichter nicht einmal mehr dichtet und denkt, sondern nur noch selbsttätig abschnurrt – es ist überwunden. Der Mann, der es zustande gebracht hat, heisst Kurt Marti.»

Mit diesen Sätzen begrüsste der Zürcher Literaturkritiker Werner Weber in Herbst 1967 Martis «rosa loui. vierzg gedicht ir bärner umgangsschprach». In der literarischen Öffentlichkeit bedeutete dieses Bändchen den Befreiungsschlag, der jenes «bluemete Trögli» zersplittern liess, in dem die Dichtung im deutschschweizerischen Dialekt ruhte und in den letzten Jahrzehnten bloss noch für vaterländische Weihestunden geöffnet worden war.

rosa loui

so rosa
wie du rosa
bisch
so rosa
isch
kei loui süsch 

o rosa loui
rosa lou
i wett
so rosa
wär ig ou

Im August 1964 fragt Sergius Golowin, damals Präsident des Berner Schriftstellervereins BSV, das Mitglied Kurt Marti an, ob er für das vereinsinterne «Mitteilungsblatt» einen Beitrag schreiben würde zur «Sprachfrage (Hochdeutsch? Mundart? Umgangssprache?» Marti liefert «Sechs Thesen aus dem Handgelenk zur Situation der berndeutschen Mundartliteratur».

Während sich, postuliert er darin, Umgangssprache durch Kontamination mit dem «internationalen Verkehr», der Presse oder mit «wissenschaftlicher und technischer Terminologie» fortwährend öffne und erweitere, konserviere die gängige Mundartliteratur bloss noch «einen bestimmten Sprachzustand der Vergangenheit». Es gelte, die «heute gesprochene Mundart […] aus dem Heimatschutzreservat [zu] befreien».

hommage à rabelais

d’schöni
vo de wüeschte wörter
isch e brunne
i dr wüeschti
vo de schöne wörter

Im nächsten Mitteilungsblatt des BSV hat der Mundartdichter Beat Jäggi daraufhin dem vorwitzigen Marti gesagt, wo Gott hockt: «Es mutet eigentümlich an, dass Schriftsteller und Gelehrte […], die bis jetzt praktisch überhaupt keine Beziehungen zur Mundartliteratur hatten, sich berufen fühlen, plötzlich anzukämpfen [gegen das], was sich während hundertfünfzig Jahren bewährt hat.»

Mag sein, auch solche Kritik hat den Schriftsteller Marti 1964 angestachelt, selber die gesprochene Mundart zum schriftstellerischen Experimentierfeld zu machen. Allerdings ist damals der Angriff auf das «bluemete Trögli» nicht Martis Idee allein: Mani Matter und Bernhard Stirnemann zum Beispiel setzen das Berndeutsche in Ihren Chansons seit Jahren ein. Und als das «theater am zytglogge» am 22. Mai 1967 – ein halbes Jahr vor dem Erscheinen von «rosa loui» – unter dem Titel «modern mundart. Ein Experiment» zu einer Lesung einlädt, stellen neben Kurt Marti auch Gertrud Wilker, Ernst Eggimann, Sergius Golowin, Peter Lehner und Walter Vogt Texte vor. Apropos Vogt: Er hat in dieser Zeit mit Marti gewettet, das «Unser Vater»-Gebet ins Berndeutsche übersetzen zu können. Seine Version beginnt mit den Worten:

«vattr

im himu
häb zu diim imitsch soorg
üüs wäärs scho rächcht wett azz ruedr chäämsch
und alls nach diim gringng giengng
im himel obe-n-und hie bi üüs… […]»[1]

Mundart als literarische Sprache ist damals angesagt. Trotzdem ist es wahr, dass «rosa loui» wie ein Paukenschlag wirkt. Mit keinem anderen Werk, so die Literaturkritikerin Elsbeth Pulver, habe Marti «so viel Aufsehen erregt, so viel Erfolg geerntet».

Formal sind es die Anleihen beim Sprachavantgardismus der Moderne, inhaltlich die kritische Verortung der Texte im Hier und Jetzt, die sie dem Publikum als Wiedergeburt der eigenen Sprache als literarischer erscheinen lassen. Mit einer legendären Wortschöpfung – «vietbärn» – zeigt Marti, dass auch die Umgangssprache in der Provinz Weltläufigkeit beinhaltet:

dr himel
dr himel
am aabe
flambiert
über chüniz

und däwäg
und jitz
westmoreland
eastmoreland
me – kong

(aus: «8 x vietbärn»)

Aus heutiger Sicht liegt Kurt Martis hauptsächliche literarische Bedeutung nicht in der Dialektlyrik, sondern einerseits in der hochdeutschen Lyrik, den Kolumnen, Tagebüchern und Notizen; andererseits in den religiös gebundenen Schriften. Die Dialektlyrik ist in Martis Schaffen eine Episode geblieben, zeitlich begrenzt zwischen 1964 und 1973.

1974 hat er dann in einem Interview gestanden, sich sofort nach «Rosa Loui» gesagt zu haben: «Ich schreibe nicht mehr Dialekt»: «Und dann plötzlich hatte ich doch wieder den Wunsch, Dialekt zu schreiben, und zwar eben aus verschiedenen Gründen […]. Ich hatte den Wunsch, auch noch theologische Gedichte, auch Liebesgedichte zu versuchen, auch eine vermehrte Mischung von Hochdeutsch, Französisch und Dialekt. Und dann auch mal lange Gedichte, nicht nur so kurze […] im Dialekt zu versuchen. Und weiterhin Gedichtübersetzungen, sei es aus dem Französischen, sei es aus dem Hochdeutschen. Das ist ja alles drin im zweiten Band.»[2] Dieser zweite Band hiess «undereinisch» und war kurz zuvor, 1973, erscheinen.

läbe – das isch wie ne zahn
(nach em boris vian)

läbe – das isch wie ne zahn
zersch chöjet me ohni sech z’achte
schpäter gits löcher und bräschte
die bringen is schmärzen und chöschte
me macht was me cha doch vergäbe –
am änd git es nüt als ne z’zieh:
dä zahn üses läbe

Die Publikumsreaktion auf diese zweite Serie von Sprachexperimenten war durchzogen. Im erwähnten Interview sagte Marti, viele Leute seien enttäuscht und sagten: «Ja, jetzt, das ist nicht mehr Rosa Loui!» Elsbeth Pulver schreibt, während «Rosa Loui» als «ein literarischer Geniestreich, als kühnes Experiment» verstanden worden sei, hätten die Kritiker den Band «undereinisch» «als Repetition in einem allzu schnell modisch gewordenen Medium eingestuft».

So gesehen wird Marti Opfer seines Erfolgs: Er hat eine Mundartwelle mitausgelöst, die ihm nun selber suspekt wird. Am 25. Juni 2015 begründet der unterdessen 94-jährige Marti im Gespräch sein damaliges Verstummen als Mundartautor so: «Ich hatte plötzlich den Eindruck, dass sich diese Dialektwelle gegen die deutsche Hochsprache, die Standardsprache richte: Plötzlich redete man nicht nur an den Schulen, sondern sogar an der Universität berndeutsch, ohne sich, wie zuvor, redlich um das Hochdeutsche zu bemühen. Mir schien zunehmend, es sei nicht der Sinn der Sache, dass wir uns abkoppeln vom deutschen Sprachraum. Dialekt als das Anti-Deutsche wie seinerzeit als Reaktion gegen Nazideutschland – mich dünkte, das gehe in eine falsche Richtung.»

Allerdings, das hat er auch gesagt, bereut hat er es nie, dass er zusammen mit Autoren wie Ernst Eggimann oder Ernst Burren mitgeholfen hat, diese Mundartwelle auszulösen. «Das war ja eine Zeit, in der man frischfröhlich experimentiert hat. Insofern waren die Rosa Loui-Experimente gar nicht derart ernst gemeint – die Ernste haben die Experimente danach viel ernster genommen.»

1974, im erwähnten Interview kurz nach Erscheinen von «undereinisch», hat Marti beigefügt: «Und jetzt, jetzt schreibe ich wirklich nie mehr Dialektgedichte. Und vielleicht mache ich es jetzt wirklich.» Tatsächlich hat Marti seither nie mehr ein Dialektgedicht veröffentlicht – getreu seiner Überzeugung, dass man gehen muss, wenn man weiterkommen will.

wo chiemte mer hi?

wo chiemte mer hi
wenn alli seite
wo chiemte mer hi
und niemer giengti
für einisch z’luege
wohi dass me chiem
we me gieng

Dass Guy Krneta am 7. September 2014 sein Programm «Rosa loui. Kurt Marti, vertont und fortgeschrieben» im Wellenband Ka-We-De in Bern mit «wo chiemte mer hi?» eröffnet hat, schliesst einen Bogen: Marti hat sich aufgemacht und das Schreiben in der Umgangssprache hinter sich gelassen; eine neue Generation mit neuem Zugang ist gekommen, bezieht sich auf die Tradition und entwickelt sie weiter. So gesehen ist Bern nicht nur überall, sondern auch jederzeit.

Übrigens hat Kurt Marti am 25. Juni 2015 beim Plaudern über die Aktualitäten plötzlich ein neues Gedicht in seiner Umgangssprache zum Besten gegeben: 

d grieche
die arme sieche
stöhne und chiiche
im schwitzchaschte vo de riiche.

[1] Dieter Fringeli [Hrsg.]: mach keini Schprüüch. Zürich (Ammann Verlag) 1981, S. 93.

[2] Gerhard W. Baur / Hans-Rüdiger Fluck [Hrsg.]: Warum im Dialekt?, Bern/München (Francke Verlag) 1976, S. 112-124, hier 120 f.

Abgedruckt in: Matthias Burki [Hrsg.]: hommage an kurt marti. rosa loui. guy krneta & louisen, Luzern (Der gesunde Menschenversand), 2015 (Doppel-CD mit Booklet). 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5