Kunsthandwerker klopft Turm ab

Mit dem Lift geht’s zwölf Gerüstlagen aufwärts. Oben auf dem Pulverturm ist die Sicht grossartig: hinunter über Musegg-Stadtmauer, Luzerner Altstadt das Seebecken. Aber nicht deswegen hat man dieses Gerüst errichtet. Der gut 31 Meter hohe Turm von 1408 mit seinen 1,6 Meter dicken Mauern sieht nur aus, als wäre er für die Ewigkeit gebaut.

Letzthin, erzählt der Vorarbeiter Thomas Krüger, sei eine 85jährige Nachbarin gekommen und habe gefragt, was man denn an diesem Turm herumflicken müsse, der sei doch in Ordnung. «Ich bin mit ihr hochgefahren, bin Hand in Hand mit ihr übers Gerüst gegangen und habe ihr die Schäden gezeigt.» Jetzt bricht Krüger mit blosser Hand und ohne Kraftanstrengung zwei, drei rissige Sandsteinstücke aus der Mauer. Unten vorüberzugehen, war hier seit vielen Jahren lebensgefährlich. «Die äussersten zehn Zentimeter der Mauer sind komplett marode», sagt er. Auch die alte Nachbarin habe schliesslich zugegeben: «Tatsächlich, der Turm ist krank.»

Vom Film auf den Pulverturm

Thomas Krüger: «Hier in der Schweiz werde ich normalerweise als Gipser angeschaut, wenn ich sage, ich sei Stukkateur.» Wenn er aber aus seinem Berufsleben erzählt, merkt man schnell, dass er kein Gipser, sondern ein Kunsthandwerker ist.

Zum Beispiel hat Krüger in Potsdam 1999/2000 beim Neubau des berühmten Nikolai-Musiksaals mitgearbeitet. «Das war Akustikbau: Wir haben die freihängende Decke und die Wände vollständig mit elliptischen Gipselementen verkleidet.» Oder die Arbeit in den Filmstudios von Babelsberg bei Berlin zwischen 2000 und 2005: Dort half er, nach Fotovorlagen verwitterte Stalingrader Hausfassaden zu bauen für den Kriegsfilm «Duell – Enemy at the Gates» (2001); er baute Kulissen für «Der Tunnel» (2001), «Der Pianist» (2002) oder «In 80 Tagen um die Welt» (2004). Bei dieser Gelegenheit hat er, erzählt er lächelnd, mit dem Schauspieler Arnold Schwarzenegger plaudernd eine Zigarre geraucht – kurz bevor jener Gouverneur von Kalifornien geworden ist. Schwarzeneggers Österreicherdeutsch ist ihm in bester Erinnerung.

Seit 2006 arbeitet Thomas Krüger in der Schweiz. Er fand in einem Anbau des Hotels Central in Weggis unter der Holztäferung neun Stukkatur-Rosetten und renovierte sie. Er versah an der Goldküste in der Villa eines Milliardärs Cheminées, WCs und den Kinoraum mit Stukkaturen. Und er arbeitete in Engelberg an der Klosterfassade und in der Gruft der Krypta und war bei der Fassadenrenovation des Bundeshauses in Bern dabei.

Die Fledermäuse im Fugenbild

Hier oben auf dem Pulverturm braucht es im Zweifelsfall zwei, drei Hammerschläge: heller Klang – guter Stein; dumpfer Klang – zerrissener Stein. «Die meisten Steine klingen dumpf. Regen und Eis haben sie ausgespült und die entstandenen Risse gesprengt. Und kräftig mitgeholfen hat ein uralter Efeu, der in alle Fugen hineingewachsen ist. Beim Entfernen der verholzten Triebe sind kleinere Steine gleich mitgekommen.»

Im Juli hat man die Arbeit am Pulverturm hier aufgenommen. Zurzeit wird – von oben nach unten – mit dem Hammer Stein um Stein abgeklopft und karrettenweise absplitterndes Material weggebracht. «Danach folgt auskratzen, bürsten, mit Wasser ausspritzen», beginnt Krüger aufzuzählen und verfällt zunehmend in seine Berufssprache, «grössere Löcher, die entstanden sind zumauern; starke Vertiefungen ausgrundieren; die häufigen Spannungsrisse zwischen Mauern und Fenstergewänden von Hand mit Sumpfkalk stopfen; danach mit Kalkputz in der Kellenwurftechnik den ganzen Turm verputzen, wobei mit intakten Steinen ein einheitlich steinsichtiges Fugenbild angestrebt werden soll.»

Letzthin hat Krüger auf dem Gerüst plötzlich ein Schwirren und Brummen gehört. Als er aufschaute, sah er einen ganzen Bienenschwarm, der langsam in einem Mauerloch verschwand. Daneben sind die Nischen und Löcher auch Lebensraum von Tauben, Amseln, Meisen, Dohlen, Alpenseglern, von Gänsesägern und von Fledermäusen. Dieser Turm ist unter anderem auch ein Biotop. Und das soll durch die Renovationsarbeiten möglichst wenig gestört werden.

«Etwas verstehe ich nicht», sagt Thomas Krüger, während jetzt Regen auf das Dach der Baubaracke trommelt: «Warum verdient man hier im Baunebengewerbe weniger als im Bauhauptgewerbe?» Zum Beispiel an diesem Turm werde mehr Schwerarbeit geleistet als auf einer technisch aufgerüsteten Baustelle im Hochbau. Er streckt seine schwieligen Handinnenflächen her und sagt: «Bei so viel Handarbeit sollte der Lohn nicht tiefer sein als auf anderen Baustellen.»

 

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Der Kunsthandwerker

Aufgewachsen ist Thomas Krüger (* 1975) in Suckow bei Gerswalde, hundert Kilometer nordöstlich von Berlin. Als die DDR 1989/90 unterging, begann er eben die Ausbildung zum Facharbeiter für Pflanzenbau. Nach der Wende fand er keinen Job und machte deshalb in Leipzig eine zweite Lehre als Stukkateur.

Danach fährt er mit seinem Trabi täglich in die Gegend von Berlin zur Arbeit: zuerst nach Potsdam und Zehlendorf, später nach Babelsberg als Kulissenbauer in den Defa-Filmstudios. Als er dort nicht mehr pro Film angestellt wird, sondern man ihn als selbständige «Ich AG» nur noch für kurzzeitige Arbeitseinsätze aufbietet, wird er zeitweise arbeitslos und Sozialhilfe-Empfänger (Hartz IV). Deshalb sucht er sich eine feste Stelle.

Er findet sie bei der Knöchel + Pungitore AG in Littau (LU), die auf Stuckarbeiten und historische Verputze spezialisiert ist. Seit 2006, sagt er, sei sein Chef Antonio Pungitore bei der Arbeit sein Vorbild und privat «der zweite Vater» geworden. – Thomas Krüger ist in keiner Gewerkschaft. Sein Lohn entspricht den GAV-Vorgaben. Er ist verheiratet. Seine berufstätige Frau lebt mit den beiden Töchtern auf dem elterlichen Hof in Gerswalde. Alle anderthalb Monate fliegt er für einen dreitägigen Besuch nach Norddeutschland.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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