Im Hirschen hängt noch die Gewerkschaftsfahne

 

Am langen Tisch im Sitzungsraum der Leinenweberei S + B, der Scheitlin + Borner AG in Worb, haben Michel Chevalley und Max Wirz Platz genommen: ein Stift bringt Kaffee. Wirz ist Techniker und Personalchef, steht ein Jahr vor seiner Pensionierung. Er arbeitete viele Jahre unter Hans Scheitlin (der sich heute als Galerist den schönen Künsten widmet), bevor der neue Chef Peter Borner kam. Heute gehört es zum Job von Wirz, von den 78 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen deren 40 zu entlassen: Die Leinenweberei lässt die Produktion auslaufen, im März 1992 wird der letzte Webstuhl abgestellt.

Wirz erläutert: Rund zehn Millionen Franken hat die S + B in den letzten Jahren investiert, vor allem in die Renovation und den Ausbau der backsteinernen Shed-Riegel des Fabrikgebäudes, die zum Teil noch aus der Zeit der Jahrhundertwende stammen. Jetzt wären Investitionen in den Maschinenpark angestanden. Die neuste, konkurrenzfähige Generation elektronisch gesteuerter Webstähle ist jedoch so teuer, dass nur noch im 3-Schicht-Betrieb hätte rentabel gearbeitet werden können. Zu Entlassungen wäre es auch so gekommen: Statt der Textilarbeiterinnen hätte man hochqualifiziertes technisches Personal benötigt; dazu die strukturellen Schwierigkeiten der Branche, die internationale Überproduktion und der Preiszerfall. Deshalb sei der Entscheid, die Produktion einzustellen, unvermeidlich gewesen. S + B wird zur Handelsgesellschaft, lässt ihre Gastrotextilien – Tisch-, Bett-, Bade- und Küchenwäsche – im Ausland produzieren; die Produktionsräume hofft man weitervermieten zu können; im Logistikbereich könnte es mit der Zeit einige neue Arbeitsplätze geben.

Neben Wirz sitzt Chevalley, Geschäftsleitungsmitglied. Mitte dreissig. Er hat schon am 19. September 1991, als S + B per Pressecommuniqué über die «neuen Strategien bei der Firma» informierte, gezeigt, dass er mit den Medien umzugehen versteht: «Die Firma Scheitlin + Borner AG, ein führendes Unternehmen im Bereich der Heimtextilien, will ihre Position im In- und Ausland verstärken. Es geht darum, gleichzeitig Qualität und Konkurrenzfähigkeit weiter zu verbessern. Das Unternehmen will auch fürderhin anspruchsvollste Kundenwünsche zu kostengünstigen Bedingung erfüllen können.» Nur wer sich noch eine Zeitlang weiter durch die süffigen Public Relations-Formulierungen las, erfuhr, dass die «neuen Strategien» vierzig Leuten den Arbeitsplatz kosten würden.

Therese Cescutti hat Glück gehabt. Sie arbeitete dreizehn Jahre in der Spedition von S + B, zuletzt für 2200 Franken im Monat, bevor ihr Ende September gekündigt wurde. Bereits seit 1. November arbeitet sie nun – dank des betriebsintern eingerichteten Stellenvermittlungsbüros – in der Küche des Worber Altersheims. Sie weiss aber von anderen Frauen, die weniger Glück haben, ältere, leicht behinderte, die keine Arbeit mehr finden und nun auf das Abfindungsgeld warten, das sich die Firma im Sozialplan verpflichtet hat zu zahlen. Der Sozialplan, von einem Gewerkschaftssekretär aus Zürich ausgehandelt, ist akzeptabel; weitergehende Forderungen nach Erhaltung der Arbeitsplätze sind nicht gestellt worden.

Bis jetzt habe noch niemand Geld gesehen, sagt Cescutti, aber wehren tue sich auch niemand. Schon damals im Betrieb sei es ihr manchmal verleidet, wenn alle zu ihr, der Gewerkschafterin, gekommen seien und gegenüber der Firma immer sie habe reden müssen. Was denn jetzt mit der Worber Sektion der Gewerkschaft Textil Chemie Papier (GTCP) sei? – «Die hat noch vor der Fabrik zugemacht.» Aber 1985 sei doch zum 50jährigen Jubiläum der Sektion noch eine Broschüre erschienen, «Zusammenschluss und Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Schweizerischen Leineindustrie», worin der GTCP-Präsident Hans Schäppi geschrieben hat: «Eine aktive und fortschrittliche Gewerkschaftsbewegung ist heute nötiger denn je. Die Broschüre zeigt uns, dass wir die heutigen Aufgaben nur lösen können, wenn sich alle Kolleginnen und Kollegen solidarisch in der Gewerkschaft zusammenschliessen. Gemeinsam sind wir stark.» Ob man in Worb anderer Meinung sei? – «Es war nichts mehr zu machen», sagt Cescutti. Die Türkinnen und Jugoslawinnen hätten sich nicht für die Gewerkschaft interessiert. Einmal im Jahr sei noch der zuständige Gewerkschaftssekretär gekommen, zur Hauptversammlung, die Gewerkschaft habe ein Abendessen spendiert, der Sekretär habe das Aktuelle erzählt, und dann sei man wieder heimgegangen. Das Jahr hindurch sei jeweils die Gewerkschaftszeitung in der Post gewesen, aber die habe eigentlich neimanden gross interessiert. 1990 seien sie dann nur noch vier oder fünf Frauen gewesen, da habe der Gewerkschaftssekretär bei ihr, der Sektionssekretärin, das Schriftliche abgeholt. Seither gebe es die Sektion nicht mehr. Nur noch die Fahne hänge im «Hirschen».

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Zum Mittagessen gibt es im Restaurant «Brauerei» in Worb natürlich «egger bier», «Das Bier aus unserer Gegend». Auf dem Bierdeckel steht: «Als Gottfried Egger 1863 die Brauerei in Worb gründete, wusste er, dass eines auch noch in hundert Jahren bleiben würde: die hohe, reine Qualität seines Bieres.» Auf die Qualität der einheimischen Produktion ist man hier stolz. Gerade letzthin trug auch ein Bericht über die S + B AG einen qualitäts- und traditionsbewussten Titel: «Das schönste Leinen kommt aus dem Bernbiet»: «Wohl kaum eine Schweizer Leinen- und Baumwollweberei wie die Firma S + B in Worb kann auf eine derartig lange und lückenlos belegte Geschichte zurückblicken.» («Schweizer Heimatwerk», 3/91)

Dass S + B in Worb eine lange Tradition habe, gehört natürlich zur Firmenideologie, ist aber mehr als das: Ihre Rechtsvorgängerin war die Firma Fankhauser in Burgdorf, gegründet um 1630, als Handelshaus für Tuch und Weine. Über sieben Generationen wurde die Firma von der Fankhauser-Dynastie regiert, seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit eigener Produktion von leinenen, halbleinenen und baumwollenen Tüchern. Erst Ende des 19. Jahrhunderts übernahm der aus St. Gallen stammende Oscar Scheitlin die Burgdorfer Firma und nannte sie Scheitlin & Cie. 1913 kaufte er seine Konkurrenz im oberen Emmental auf, die Walkringer Firma J. U. Röthlisberger & Söhne, die unter anderem die Leinenweberei Worb gegründet hatte. Scheitlin verlegte seine Produktion nach Worb und nannte die Firma nun Worb & Scheitlin AG. 1979 verschluckte die Borner AG aus Kleindietwil (vormals N. Roth & Cie.) die Worb & Scheitlin und taufte sich in Scheitlin + Borner AG um. 1936 arbeiteten im Betrieb 325 Leute, 1979 170, bis Herbst 1991 78, 1992 werden es noch 38 sein.

Aber woher kommt das «schönste Leinen» in Zukunft wirklich? «Borner prognostiziert für die künftige Schweiz einen Dualismus von modernem, international orientiertem Sektor mit hoher Produktivität und einen rückständigen, national und traditional orientierten Bereich mit niedriger Produktivität.» Dies prophezeit freilich nicht der Unternehmer Peter Borner, sondern sein Bruder, der Basler Ökonomieprofessor Silvio Borner. Zweifellos werden sich die beiden Brüder aber darin einig sein, dass der Gang in den europäischen Wirtschaftsraum unumgänglich geworden ist. Wo die S + B in Zukunft produzieren lässt, will Geschäftsleitungsmitglied Chevalley nicht sagen. Gerüchte gehen um, dass die Firma ihr Leinen in der ehemaligen DDR herstellen lassen will, danach die Stoffbahnen in Worb umpacken und zum Zuschneiden und Nähen nach Deutschland und Belgien verschicken wird, bevor die fertige Ware auf den Schweizer Markt kommt, «zur Freude aller Liebhaber von guter, einheimischer Qualität» («Schweizer Heimatwerk»). «Die Beziehung Fabrikant–Kundschaft ist doch viel mehr als nur eine Frage der preislichen Konkurrenzfähigkeit», wusste die Worb & Scheitlin AG schon 1963, als sie zum 50jährigen Bestehen der Firma in einer Sonderausgabe der Hauszeitschrift «Blütenweiss» einen mutigen Blick in die Zukunft tat: «Die Geschäftsleitung von W & S wird sich an die bisher bewährten Grundsätze halten, mit wachem Blick die Entwicklung verfolgen und jederzeit bereit sein, sinnvolle Neuerungen einzuführen, die der Verbesserung der Produktion dienen.»

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In seinem kleinen Büro hinter dem Bahnhöfli, der Endstation der beiden Berner Vorortsbahnen über Muri-Gümligen und durchs Worblental, beugt sich Peter Bernasconi, Worbs sozialdemokratischer Gemeindepräsident, über die grosse Planskizze des Worbbodens. Wenn nach der Arbeitsplatzsituation von Worb gefragt wird, spielt der Worbboden eine wichtige Rolle, denn er gehört zu den von einer kantonalen Arbeitsgruppe festgelegten wirtschaftlichen Entwicklungsschwerpunkten. Hier sollen, auf fünfzehn Hektaren grösstenteils unüberbauter Fläche, drei bis sechstausend Arbeitsplätze geschaffen werden: «Bürogebäude, Forschungs- und Ausbildungstätten, Industriebetriebe ohne grösseres Verkehrsaufkommen, Handelsbetriebe, Verkaufsgeschäfte».

«Für die Betroffenen ist die Schliessung der Produktion von Scheitlin + Borner ein harter und bedauerlicher Entscheid, obwohl sie quantitativ gesehen kein bedeutender Verlust ist», sagt Bernasconi. Die Landmaschinenfabrik APV Rosista zum Beispiel werde ihre Produktionsstätten im Worbboden abreissen und etwas nördlich neu bauen, 1992 würden dort 30 neue Arbeitsplätze geschaffen. Auf dem Worbboden Nord werde ein riesiger Technopark mit integrierter Kantonsstrasse zu stehen kommen. Die Sägesser AG im Worbboden Süd baue ausserhalb des Dorfes neu. Neu sei auch das Worber Gewerbe- und Dienstleistungszentrum. Hingegen die Grossmosterei mache in Worb zu und verlege die Produktion 15 Kilometer Richtung Thun nach Kiesen; umständlich, mit der Bahn hinzukommen, die 70 betroffenen Leute würden wohl mit dem Auto pendeln müssen. Ob das nicht ein sehr technokratischer Blick aufs Problem sei, immerhin stelle S + B vierzig Leute auf die Strasse? – Möglich, aber politisch könne man hierzulande nur quantitativ, über die Rahmenbedingungen, Einfluss nehmen auf die Arbeitsplatzsituation: «Als Gemeindepräsident habe ich von einem Journalisten erfahren, dass die Leinenweberei Leute entlassen will.»

Plötzlich öffnet sich die Bürotür. Eine Mitarbeiterin reicht einen eingepackten Blumenstrauss herein. Bernasconi: « Ich muss nachher an eine Geburtstagsfeier, eine Worberin wird heute hunderteins.» Dann erläutert er, warum Arbeitsplatzbeschaffung in Worb ortsplanerische Priorität habe: Nur so könne der Schlafstadteffekt bekämpft werden (Worb liegt kaum 15 Kilometer vor der Stadt Bern). Nur so könne die Pendlerbewegung verkleinert und mittels Parkplatzrestriktionen der Privatverkehr eingedämmt werden, nur so könne dem Zerfall des Gemeinwesens, der «gesellschaftlichen Entsolidarisierung» entgegengewirkt werden: Anfang Dezember haben die Worber und Worberinnen das Budget ’92 verworfen, obschon sämtliche Parteien dafür geredet hatten; Grund: Steuererhöhung um zwei Zehntel. Dieser Entscheid stelle die Gemeinde vor unlösbare Probleme, weil das Budget zu 80 bis 90 Prozent aus «gebundenem Aufwand» besteht, sagt Bernasconi. Deshalb ist er im Sinn des kantonalbernischen Finanzdirektors Ueli Augsburger für tiefe Steuern als Standortvorteil zur Wirtschaftsförderung.

Die Pläne zusammenfaltend seufzt Bernasconi und deutet auf den Blumenstrauss: «Diese Frau hat viele Probleme nicht mehr.» Aber ein anderes.

Beat Fankhauser ist seit Sommer 1992 Wirt im Worber «Hirschen» und weiss nichts von einer Gewerkschaftsfahne in seinem Restaurant. (10.2.1995)

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 159-164. (Dokumentiert wird die Buch-Version.)

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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