Im Gewehrfeuer der Füsiliere

Grenchen ist einen Ausflug wert: Spaziert man durch das Städtchen vom Südbahnhof via Marktplatz zum Nordbahnhof und durch die Lindenstrasse zurück, erhält man zurzeit an neun Standorten auf insgesamt 27 grossformatigen Schautafeln Einblick in die Ursachen und den Ablauf der dramatischen Ereignisse vom Spätherbst 1918: Auch hier in Grenchen hat man damals den Aufruf des Oltener Aktionskomitees befolgt und ist am 12. November in den Generalstreik getreten. Die Forderungen waren wichtig und dringlich genug: Neuwahl des Nationalrates, Frauenstimmrecht, 48-Stundenwoche, Alters- und Invalidenversicherung, Reorganisation der Armee, Sicherung der Lebensmittelversorgung, Tilgung der Staatsschulden durch die Besitzenden.

Aktivdienstler gegen Streikende

Gegen die Streikenden werden als Ordnungstruppe vorerst Landstürmler aus der Region aufgeboten – darunter viele Arbeiter, die keine Lust haben, gegen ihre eigenen Kollegen vorzugehen. Am zweiten Streiktag, dem 13. November, kommt es zu Scharmützeln. Es wird demonstriert, Streikbrecher werden aus den Fabriken geholt, Geschäfte werden zwangsweise geschlossen, Bahngeleise mit Barrikaden blockiert, zwei Weichen beschädigt. Jetzt rücken in Grenchen Waadtländer Infanteristen ein. Am frühen Nachmittag des 14. Novembers treiben vorrückende Füsiliere eine Gruppe von Streikenden in ein Seitengässchen. Die Zurückweichenden bleiben wegen des Staus für einen Moment blockiert, beschimpfen die näher ommenden Soldaten, Major Henri Pelet, ein Architekt aus Lausanne, fühlt sich bedroht und befiehlt zu schiessen. Die Soldaten zielen aus nächster Nähe nicht auf die Beine:

• Der 21jährige Fritz Scholl, Arbeiter in einer Uhrenfabrik, SMUV-Mitglied (Sektion Pieterlen), wird von drei Schüssen in den Rücken getroffen.

• Der 17jährige Marius Noirjean, Lehrling in einer Uhrenfabrik, SMUV-Mitglied (Sektion Grenchen) fällt durch einen Genickschuss.

• Der 29jährige Hermann Lanz, Uhrmacher, SMUV-Mitglied (Sektion Grenchen), wird in den Kopf getroffen; «wie es scheint, durch einen Schuss von hinten», sagt der Pfarrer später in der Kirche.

Wiedereroberte Erinnerung

Die Ausstellung im Freien ist ein Projekt des Kulturhistorischen Museums Grenchen. Dessen wissenschaftliche Mitarbeiterin Angela Kummer sagt: «Jahrzehntelang hat man in Grenchen nicht über die Tage des Generalstreiks gesprochen.» Die hiesigen Bürgerlichen – etwa der spätere freisinnige Bundesrat Hermann Obrecht – hätten hinter dem Streik eine bolschewistische Verschwörung vermutet. «Uns ist es ein Anliegen, die Geschichte aufzuarbeiten und zu zeigen: Es ging damals nicht um die Revolution, es ging um berechtigte Forderungen und um einen ‘Aufschrei sozialer Not’, wie unsere Ausstellung ja auch heisst.»

Alfred Fasnacht, der die Ergebnisse seiner lokalhistorischen Forschungen in einem informativen Begleitheft zur Ausstellung vorstellt, erzählt: Seinerzeit habe man auf dem Friedhof von Grenchen für die drei Gefallenen einen Gedenkstein errichtet. Dieser sei um 1948 bei Grabräumungsarbeiten abtransportiert worden und seither spurlos verschwunden.

Am 14. November 2008, ab 16.00 Uhr, weihen nun Grenchens Stadtpräsident Boris Banga und Paul Rechsteiner als Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) auf dem Zeitplatz eine bronzene Tafel ein. Die Stadt Grenchen, der SGB und der kantonale Gewerkschaftsbund, der Schweizerische Eisenbahnerverband und die Unia Grenchen erinnern darauf an die drei erschossenen Arbeiter, die «im Feuer der Ordnungstruppen […] für eine gerechtere Welt» gestorben seien.

Fortschritt erkämpfen

Stadtpräsident und SP-Nationalrat Banga, sagt, der Generalstreik von 1918 sei «die Keimzelle der Errungenschaften unseres Sozialstaates» gewesen, habe aber in Grenchen zu einer «vorprogrammierten Katastrophe» geführt. SP-Nationalrat Paul Rechsteiner doppelt nach, der damalige Armee-Einsatz «als Instrument des Klassenkampfes» sei eine Erinnerung daran, «dass sich der soziale Fortschritt nicht von allein einstellt, sondern dass er immer wieder erkämpft werden muss».

Kultur-Historisches Museum [Hrsg.]: Generalstreik 1918 in Grenchen. Illustrierte Beschreibung der Ereignisse in Grenchen und Region, (Albrecht Druck) Obergerlafingen 2008.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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