«Ich will hören, wo die Fragen sind»

Christine Golls neuer Arbeitsplatz liegt in Bern, nicht weiot von ihrem alten entfernt: im Gewerkschaftshaus an der Monbijoustrasse 61 zehn Minuten Fussweg vom Nationalratssaal im Bundeshaus entfernt. Seit Mitte Oktober arbeitet die alt Nationalrätin hier als Ausbildungsleiterin von Movendo, dem Bildungsinstitut der Gewerkschaften, mit den Trägerorganisationen Unia, VPOD, Syndicom, SEV und Garanto. «Nach einem Vierteljahrhundert im Dienst des Volks», sagt die Christine Goll augenzwinkernd, «bin ich hier wieder voll in meinen Beruf zurückgekehrt: in die Erwachsenenbildung.»

Bildung hilft beim Beraten und für den Widerstand

Movendo bietet zum einen den Managementlehrgang für Gewerkschaftssekretärinnen und -sekretäre an. Zum anderen – und das ist Goll Bereich – gibt es Angebote für interessierte Gewerkschaftsmitglieder, Mitglieder in Personalkommissionen, für Vertrauensleute sowie Mitglieder in Stiftungsräten der Pensionskassen. Unabdingbar, denn Bildung ist ein wichtiges Werkzeug, um beraten und um sich wehren zu können. Unabdingbar, denn Vertrauensleute sind bei Problemen am Arbeitsplatz oft die erste Anlaufstelle, und in den Stiftungsräten sitzt die Arbeitnehmervertretung nicht selten dem eigenen Chef gegenüber.

Golls Themen sind Wirtschaft, Politik und soziale Sicherheit. Hier kennt sie sich aus: Sie war zwanzig Jahre lang Mitglied der nationalrätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit. Die Herausforderung für sie ist, nun ihr Wissen über diese komplexen Themen so aufzubereiten, dass die Kursteilnehmenden profitieren können. «Die Kurse sollen für sie einen unmittelbaren Nutzen bringen, indem sie aktuelle Informationen erhalten und Antworten auf zentrale Fragen erarbeiten.»

Fragen wie diese: Was ist zu tun, wenn es heisst, die Auftragslage sei schlecht, Löhne würden gekürzt, Stellen gestrichen? Wie führe ich ein Gespräch? Wie löst man Konflikte? Wie bleibe ich am Arbeitsplatz gesund? Was geschieht nach einem schweren Unfall oder bei chronischer Krankheit? Und wie geht es eigentlich nach der Pensionierung weiter?

Wichtig sei, dass man in den Kursen die Leute nicht an die Wand rede. Dass man in Blöcken von höchstens anderthalb Stunden und in Gruppen arbeite. Dass die Teilnehmenden eigene Probleme thematisieren, analysieren und diskutieren könnten. Und dass es Pausen gebe. «Der informelle Austausch über die Grenzen von Branchen, Verbänden und Regionen hinweg ist ein wichtiges Element gewerkschaftlicher Bildungsarbeit», sagt Goll.

Lernen für die AHVplus-Initiative

Christine Goll hat als Erwachsenenbildnerin seit Mitte der 1980er Jahre freiberuflich immer wieder für Gewerkschaften – auch für Movendo – gearbeitet. Aber erst jetzt hat sie Gestaltungsspielraum für eigene Konzepte. Zurzeit sitzt sie über dem Kursprogramm für 2014, setzt Themen, sucht Referentinnen und Referenten. Erste Erfahrungen sind Aufsteller: Letzthin hat sie Buchhaltungsfachleute der Unia gecoacht, die zum ersten Mal einen Kurs über doppelte Buchhaltung erteilt haben: «Das waren wirklich spannende Stunden, und am Schluss haben die Referenten aus der Gruppe ein Super-Feedback bekommen. Dieser Kurs bleibt im Programm!»

Die spannendste Bildungsarbeit sei stets jene, sagt Goll, die auf Freiwilligkeit basiere. «Auch deshalb will ich nicht nur programmieren und organisieren, sondern selber Kurse geben. Ich will hören, wo die Fragen sind.»

Aber auch Aktualität macht Bildungsarbeit spannend: Im Frühling lanciert der Schweizerische Gewerkschaftsbund die AHVplus-Volksinitiative für eine zehnprozentige Erhöhung der Renten. Goll hat aus diesem Anlass im April sechs Kurstage – davon vier in der Deutschschweiz – zum Thema Kampagnenschulung konzipiert. «Ziel ist es, dass unsere Leute ein Argumentationstraining erhalten. Tatsache ist: Die AHV ist sozial und solid finanziert, sie ist die wichtigste Säule der Altervorsorge, und sie schreibt schwarze Zahlen. Darum können wir gegen die bürgerliche Rentensenkungsrhetorik offensiv auftreten.» Goll hofft, dass bei der Kampagne auch viele junge Kolleginnen und Kollegen mitmachen werden. «Jeder von ihnen einbezahlte Franken wird im Umlageverfahren als Rente sofort wieder ausbezahlt. Ohne Generationensolidarität gibt es keine AHV.»

Vor drei Jahren stand Christine Goll als Nationalrätin und VPOD-Präsidentin noch im Schaufenster der nationalen Politik. «Den Abschied habe ich von langer Hand geplant», sagt sie. Danach hat sie eine längere Auszeit genommen und bloss gewusst: «Ich will noch einmal etwas Neues machen.» Dann kam das Stellenangebot von Movendo. Sie hat sich beworben. «Eben habe ich hier die Probezeit bestanden», sagt die 56jährige. «Es war ein guter Schritt.»

 

[Kasten]

Die Aktivistin

Christine Goll (* 1956) hat in Zürich die Ausbildung zur Real- und Oberschullehrerin gemacht. Danach unterrichtet  sie mehrere Jahre an der Oberstufe. Mitte der 1980er Jahre steig sie in die Erwachsenenbildung um.

Politisch beginnt sie sich früh zu engagieren: «Meitli-Gruppe» der Frauenbefreiungsbewegung FBB, Jugendgruppe «Maulwurf» der Revolutionären Marxistischen Liga, Gewerkschaftliche Kontakt- und Informationsstelle für Frauen im Zürcher Kreis 4, «Zürcher Volksuni» im Kanzlei-Schulhaus, ab 1987 Kantonsrätin der FraP! («Frauen macht Politik!»). Zwischen 1991 und 2011 Züricher Nationalrätin (zuerst FraP!, ab 1999 SP). Daneben ist sie freiberuflich tätig als Erwachsenenbildnerin und macht 1997/98 das Nachdiplomstudium «Management in Non-Profit-Organisationen». Zwischen 2003 und 2009 ist sie Präsidentin der Gewerkschaft VPOD. Seit Mitte Oktober 2012 arbeitet sie als Ausbildungsleiterin bei Movendo (Monatslohn 8187 Franken brutto pro Monat).

Christine Goll ist VPOD-Mitglied und lebt in Zürich. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und einen fünfjährigen Enkel. Ihre Hobbies: Bergtouren und Klettern.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


v11.5