I wett hüt vo mine Fründe verzeue

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Der Autor Christoph Simon (* 1972) ist kein Blender. Zur Vorzeigeprominenz schafft er es nie, obschon seine Arbeit schon lange unübersehbar ist. Ab 2001 hat er mehrere geistreich unterhaltende Romane geschrieben. Und seit er nun auch auf Kleintheaterbühnen auftritt, ist er nebenbei zweimal Poetry Slam-Schweizer Meister geworden. Als Autor und als Performer ist er ein begnadeter Humorist. Das merkt man daran, dass er kaum laute Töne und plumpe Pointen nötig hat: Sein Humor hat stets etwas Himmeltrauriges – und seine Himmeltraurigkeit wird immer überstrahlt von beiläufig selbstironischem Witz.

Jetzt ist Simons erstes Solo-Kabarett-Programm, «Wahre Freunde», als Hörbuch erschienen, mitgeschnitten beim Auftritt auf der Kellerbühne St. Gallen im September 2016. Simon monologisiert als «Amatöör-Schriftsteuer», der sich routinemässig zwischen alle Stühle und Bänke setzt, und mit einem Freund zwischenhinein auch städtische Parkbänke abschraubt und sammelt, damit er genug davon hat, wenn er sich doch einmal nicht nur dazwischen setzen will.

Serges unvergesslichster Satz

Worum es geht, sagt Simon als Ich-Erzähler einleitend so: «I wett hüt vo mine Fründe verzeue. Und zwar itz, solang si sech no chöi were. Glii si si alt und trääg, chnüble griesgräämig a irne Höörgräät ume, zahnlosi Deppe mit kabuttgfärbte Haar. U eine nach em andere fahrt id Gruebe, kene wott dr erscht si, aber o kene dr letscht.»

So beginnt der Protagonist von seinen Neunzigerjahren zu erzählen: von Max, dem Zahnarztstudenten, mit dem er seine erste WG teilt: «Mit miir uf ängem Ruum isch e Tschälänsch gsi.» Er erzählt von der «Liebestragödie» zwischen ihm und der Buchhändlerin Sonja und von Max’ Freundin Natascha, «superlieb, supergschiid, Sozpäd», in die er sich unglücklich verliebt: Sie heiratet Max, und er ist vorgesehen als Götti für das erste Kind.

Er erzählt auch von Serge und davon, wie er mit ihm seinerzeit das Konfirmationslager an eine Tanne gefesselt erlebt hat. Dann von Amir, dem Festangestellten auf der Post, mit dem er, die Aushilfe, zusammenarbeitet. Von der bald neunzigjährigen Nachbarin Frau Schmutz, die er wegen Geldknappheit entführen muss. Von Herrn Topalidis, dem Besitzer und Herausgeber des Gratisblatts «Gäng gärn Bärn», für den er zum Geldverdienen Berichte schreibt und mit dem er sich nach einem Zusammenstoss anfreundet. Zwar gelingt es ihm trotz mehrerer Versuche nicht, Topalidis zum Mäzen seiner schriftstellerischen Ambitionen zu machen, dafür schenkt ihm Amir, der Kollege von der Post, 10’000 Franken, bevor er auf dem Dach des Insel-Bettenhochhauses in einem Rollstuhl stirbt.

Das sind die neunziger Jahre des Erzählers, der dabei lernt: «Fründe si Mönsche, wo eim häufe, ohni das me ne mues drohe.» In den folgenden Jahren «verhocket» er Amirs 10'000 Franken in der Szenebeiz «Luna Llena», notiert, was er sieht und bastelt aus den Notizen seinen ersten Roman («Luna Llena» heisst denn auch ein Roman von Simon). In der letzten Episode von «Wahre Freunde» amtet der Erzähler als Babysitter seiner Göttitochter Caramella, während Max und Natascha ein Openair-Kino besuchen. Als die Eltern heimkommen, ist die Apotheose angerichtet, und es ist Zeit, den unvergesslichsten Satz von Jugendfreund Serge anzubringen: «We das nid e schööne Momänt isch, de weiss i nid, was schöön isch.»

Zwischen den Rollen und den Sprachen

Christoph Simon war Schriftsteller, bevor er Slam-Poet und Performer wurde. Der «Amatöör-Schriftsteuer», den er gibt, ist das Understatement, hinter dem ein versierter Romancier steht.

Dass es Simon auch um ein ironisches Spiel mit der Selbstverkleinerung geht, merkt man zum Beispiel an Formulierungen, die so raffiniert sind, dass sie als umgangssprachliche Geistesgegenwärtigkeiten nicht durchgehen: Sie sind vorformulierte Autorenarbeit, zu kunstvoll verberndeutschten Sätzen gedrechselt und für den Vortrag eingeübt. Simons Autorenroutine zeigt sich, wenn er Wortwechsel in direkter Rede ohne jede rollenspielende Modulation vor sich hinredet. Man merkt sie an mehreren kurzen, quasi-essayistischen Einschüben – etwa wenn er mit wenigen plastischen Strichen die achtziger und die neunziger Jahre skizziert oder in einem Exkurs erläutert, was das Leben lebenswert macht. Man merkt sie am Bau der Konfirmandenlager-Geschichte, der er die Form einer Rahmenhandlung gibt – im Plauderton vorgetragen eine eher unübliche Konstruktion. Oder man merkt sie am Titel des Hörbuchs: «Wahre Freunde» (statt «Wahri Fründe»).

Auf solches kann man achten, muss man aber nicht. Wichtiger ist, Christoph Simon genau zuzuhören, damit man neben dem leichthin Gesagten auch einiges vom weniger leichthin Gemeinten mitbekommt. Es lohnt sich.

Christoph Simon: Wahre Freunde. Audio-CD. Luzern (Der gesunde Menschenversand) 2016.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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