Hilf dir selbst

Das «Kuckucksnest» ist eine unabhängige Zeitung von Leuten, die es wegen einer Lebenskrise vorübergehend in Berns Psychiatrische Institutionen verschlagen hat. Diese Leute sollen im «Kuckucksnest» alles schreiben können, was ihnen auf der Seele liegt. Wirklich alles?

Die Redaktionsgruppe ist sich schon seit der ersten Nummer einig, dass alle mitschreiben können, sofern sie zwei, drei Leitplanken respektieren, Leitplanken, die nicht irgendein Waldauchef befohlen hätte, sondern die sich aus der redaktionellen Verantwortung ergeben. Im «Kuckucksnest» werden keine Menschen mit anderem Geschlecht, anderer Hautfarbe oder anderem kulturellem und religiösem Selbstverständnis beleidigt oder sonst wie verletzt. Deshalb würde die Redaktion Texte ablehnen, die rassistisch, sexistisch oder, im speziellen, frauenfeindlich wären. Soweit waren wir uns einig.

Nun hat die Redaktionsgruppe aus aktuellem Anlass über eine weitere Leitplanke diskutiert. Aufgrund vorliegender Texte standen wir vor der Frage, ob sich das «Kuckucksnest» zur Plattform für religiöse Traktate machen lassen solle. Daraus ergab sich die Gegenfrage: Haben wir etwas gegen den lieben Gott? – Nein, das haben wir nicht. Aber wir haben etwas gegen Leute, die auf eine bestimmte Art über den lieben Gott reden.

Die Bibel ist ja ein merkwürdiges Buch, von vielen zu verschiedenen Zeiten geschrieben und deshalb in vielem mehrdeutig, manchmal sogar widersprüchlich – vor allem gibt es in der Bibel einen strafenden und einen verzeihenden Gott. Darum kann man mit Bibelzitaten Leute aufmuntern oder ihnen Angst einjagen, ihnen neuen Mut machen oder neue Schuldgefühle aufladen; man kann mit Bibelzitaten versuchen, ihnen neuen Boden unter die Füsse zu geben oder ihnen den Boden endgültig unter den Füssen wegzuziehen. Von den letzteren halten wir nicht viel. Wer mit Tod und Teufel droht, tut das, um Macht und Einfluss zu gewinnen über jene, die er zu verunsichern versucht. Wer Menschen in Krisen in dieser Art verunsichert, der versucht, sie von sich abhängig zu machen.

Nein, wir haben wirklich nichts gegen die ernsthafte Auseinandersetzung mit den letzten Fragen, die ja die Menschen aller – nicht nur der christlichen – Glaubensrichtungen gleichermassen beschäftigen. Aber wir haben etwas gegen solche, die uns mit grosssprecherischem Brimborium auf unsere letzten Fragen ihre hinterletzten Antworten aufdrängen wollen. Wenn wir über den christlichen Gott etwas wissen wollen, schlagen wir die Bibel auf. Wir können nämlich lesen und machen uns am liebsten selber ein Bild. «Hilf dir selbst, so hilft dir Gott», haben wir in der Schule gelernt. Gegenüber religiösem Sektierertum gilt aber auch: Hilf dir selbst, sonst hilft dir der bornierte Gott dieser Leute. Und das wäre das Letzte, was wir, aber – wie wir meinen – auch das «Kuckucksnest» und seine Leser und Leserinnen brauchen.

Für die Redaktionsgruppe: Fredi Lerch

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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