Goldmarie und Pechmarie als Krimi

Zum Journal B-Originalbeitrag.

Die Patientin Anais Graf tritt wegen «Suizidgedanken im Rahmen einer depressiven Episode» freiwillig in die psychiatrische Klinik Eschenberg ein. Auf der Station ist sie höflich und unauffällig, leidet an psychosomatischen Schmerzen und kritzelt mit dem Bleistift verblüffend gute Zeichnungen vor sich hin. Nach vier Wochen sagt die zuständige Psychologin bei der Fallvorstellung, sie wisse nicht, was sie mit der verschlossenen Patientin machen solle. Deshalb übernimmt die Oberärztin den Fall. 

Diese Oberärztin heisst Kassandra Bergen und ist in «Jenseits des Zweifels» bereits zum vierten Mal Protagonistin in einem Kriminalroman von Esther Pauchard. 

Unterhaltsames Erfahrungswissen

Auch Kassandra Bergen kommt in den Therapiegesprächen vorderhand nicht an die Patientin heran. Klar ist immerhin: Anais Grafs Vater ist «ein schwerreicher Berner Industrieller und Kunstmäzen» und sie hat eine Zwillingsschwester, die Camille heisst. Diese ist erfolgreiche Gynäkologin und als Malerin in der Berner Kunstszene ein Shootingstar. Anais und Camille: Schwestern wie Pechmarie und Goldmarie. Ansonsten haben die beiden als Jugendliche ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren. Was aber hinter der aktuellen depressiven Verstimmung von Anais steckt, bleibt vorderhand ein Rätsel.

So sitzt man lesend einige Dutzend Seiten lang häufig in der Klinik und bekommt einen kleinen Einblick in die Welt der heutigen stationären Psychiatrie. Dabei verknüpft die Autorin den Unterhaltungsanspruch des Krimigenres so geschickt mit ihrem beruflichen Erfahrungswissen, dass man sich gerne ein bisschen Psychiatriepolitik gefallen lässt. Pauchard weiss, wovon sie redet, wenn sie sich über «gute, gewinnbringende Psychiatrie» auf der Basis von Fallkostenpauschalen mokiert, wenn sie Folgen des Kostendrucks anspricht, wenn sie die Lesenden an einer Weiterbildung des Klinikpersonals zu TARPSY – der Tarifstruktur für die stationäre Psychiatrie – teilnehmen lässt. Und wenn sie die Anspruchshaltung der MedizinkonsumentInnen, denen man früher PatientInnen gesagt hat, thematisiert, kommt man ins Nachdenken: Gehört man am Ende auch zu denen, für die «Dinge wie Liebeskummer, Unzufriedenheit am Arbeitsplatz oder Zukunftsängste mehr und mehr medizinalisiert» gehören und die ihre Konfrontation mit der eigenen Vergänglichkeit nur noch als Zumutung oder als ärztlichen Kunstfehler zu sehen vermögen?

Langsam lösen sich die Zweifel auf

Item, Anais Graf mauert. Zwar wird sie doch ein bisschen zugänglicher, aber bevor Bergens Therapieversuche Entscheidendes bewirken können, interveniert die mächtige Zwillingsschwester bei der Klinikdirektion und erreicht, dass Anais auf eine Privatstation verlegt und so Bergens Einfluss entzogen wird. Gleichzeitig wird bekannt, dass in Bern eine Patientin der Gynäkologin Graf nach der Mitteilung eines eigentlich leichten Befunds und ein Gynäkologiepathologe, der Camille Grafs Operationsfleiss zunehmend kritisch mitverfolgt hat, beide Suizid begangen haben sollen. Und kurz darauf findet Kassandra Bergen in ihrem Büro zufälligerweise Rizinussamen, die giftig sind, unter die Bohnen ihrer Kaffeemaschine gemischt. Wie hängt das alles zusammen? Bergen bleibt dran, auch wenn sie als Psychiaterin nicht mehr zuständig ist.

Einblicke in die Graf’sche Familiengeschichte bringen erste Antworten auf Anais Grafs Verhalten als Patientin. Und auf die Frage nach der Operationsfreudigkeit ihrer Schwester gibt es eine Antwort, als allgemach schemenhaft ihr Liebhaber auftaucht, ein bösartiger und geldgieriger Mann, dem Camille mit Haut und Haar verfallen ist. Kassandra Bergen begegnet diesem Herrn nur einmal kurz und verpackt ihren Eindruck später in die Ferndiagnose einer «antisozialen Persönlichkeitsstörung». Je mehr sich so die Schleier lichten, desto mehr verschieben sich die Rollen der Zwillingsschwestern: Pechmarie wird Goldmarie und umgekehrt.

Der Bösewicht seinerseits wird immer bedrohlicher: Zum schlechten Ende für Kassandra Bergen kommt es hinter dem Restaurant Neuhaus am oberen Ende des Thunersees nur deshalb nicht, weil eine auffliegende Ente mit hektischem Flattern und scharfem Schnattern sie aus einer sehr ungemütlichen Situation rettet. Schliesslich kommt es bei stürmischer See vor der Inselgruppe der Kornaten in der Adria zum Showdown: Diesmal sind es drei Delphine nebst einem herrenlos im Meer treibenden Schiffscontainer, die dem kurvenreichen Plot den Weg zum Happy End ebnen. 

Die Sache mit dem «Jugo»

Fragen kann man sich, warum die antisoziale Persönlichkeitsstörung ohne grosses Figurenprofil, die den Bösewicht markiert, Miran Kovačević heissen und Kroate sein muss. Esther Pauchard lässt den Mann in den frühen neunziger Jahren als Kind aus dem Jugoslawienkrieg elternlos zu Verwandten nach Deutschland flüchten. Ein zwingender Grund für die Konstruktion, den Bösewicht mit dem alten Macho-Vorurteil des «Jugos» zu verbinden, ist allerdings nicht ersichtlich. (Der im «Dank» am Schluss des Buchs vermerkte «Familiensegelurlaub in den kroatischen Kornaten» ist zwar ein autobiografischer Hinweis auf Detailkenntnisse, aber nicht auf den Grund der Konstruktion.) 

So führt Kassandra Bergen dem Lesepublikum für diesmal keine einheimische «antisoziale Persönlichkeitsstörung» vor. Aber jenseits des Zweifels ist klar: Sie bleibt dran.

Esther Pauchard: Jenseits des Zweifels. Kriminalroman, Bern (Lokwort Verlag), 2020, 376 Seiten, 34.-. – Eine Übersicht über alle Kriminalromane von Esther Pauchard findet sich hier.

Aktuell

Zum Projekt

 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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