Geschichte ohne rechte und linke Mythen

Gespräch: Stefan Keller, Fredi Lerch

WoZ: Die Schweiz der neunziger Jahre feiert ihre Geschichte: 1991 die 700-Jahr-Feier, 1998 150 Jahre Bundesstaat und 200 Jahre Helvetik. Welches sind die Unterschiede zwischen den beiden Jubiläen?

Elisabeth Joris: Von den Kulturschaffenden her ist ja 1990/91 generell die Frage des «Kulturboykotts» wichtig gewesen: Soll man sich einmischen oder zurückziehen? Dabei ging es auch um die Solidarität: Wenn man mitmachte, kündigte man die Solidarität mit anderen auf, die nicht mitmachten. Von der politischen Absicht her war der Anlass von 1991 rückwärts gewandt. Für die Öffentlichkeit stand der herkömmliche, traditionelle Mythos im Zentrum. Und deshalb mussten die Intellektuellen sich fragen: Macht man da mit? – Diese Frage hat sich 1998 so überhaupt nicht gestellt. Sie stellte sich auch nicht mehr in jener Art wie 1991, als Niklaus Meienberg und andere forderten, man solle gegen 1991 das 1998 ins Zentrum rücken als Symbol für den Fortschritt. Das war ein sehr dichotomisches Denken: 1991 der Mythos, 1998 der Fortschritt.

Albert Tanner: Ein Stück weit ist es ja so gekommen. Ich würde von einem Revival des modernistischen Fortschrittsglaubens oder genauer der Modernisierungstheorie sprechen, zwar nicht generell, aber sicher für die schweizerische Geschichtswissenschaft. Davon hat dieses 98er Jubiläum stark gelebt: die Interpretation der Helvetik als der Anfang der Moderne. Dieser fast naive Glaube, dass 1798 in der Schweiz die Moderne begonnen habe, der Bundesstaat 1848 quasi die Folge davon gewesen und es dann immer bergauf gegangen sei.  – 1991 hat gerade der Protest der Kulturschaffenden ein Stück weit verhindert, dass man einfach den Mythos hat aufleben lassen können, obschon das damals das Bestreben vieler Kreise gewesen ist. Aber auch in der Wissenschaft hat man sich damals wenig um den Mythos gekümmert. Es wurde verpasst, im europäischen Kontext über die Rolle der Schweiz im Mittelalter und in der frühen Neuzeit zu debattieren. Es gab zwar die Mythenzertrümmerer, doch die haben von ihrer Gegnerschaft gelebt und einen Antimythos zelebriert. Damals hätte man diese Dichotomien aufzubrechen müssen, die die nationale Geschichtsschreibung von links und von rechts so stark prägen.

Politisch umstritten war ja im Vorfeld der Jubiläen vor allem die Einschätzung der Helvetik.

Joris: 1798 war umstritten, weil dieses Jahr bis heute unter dem Stichwort Landesverrat steht, also unter dem alten Muster «Franzosenherrschaft gegen Unabhängigkeit». In dieser Knechtung erkennt man sich wieder: Das riecht nach Sonderfall Schweiz. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb hat dieses 1798 im letzten Jahr interessanterweise mehr öffentliche Statur erhalten als 1848. In Bezug auf die erwähnte Dichotomie oder Polarität von Modernität einerseits und Reaktion andererseits ist es ja gerade spannend, dass sich vor 1848 die Frage der Moderne bei den Reaktionären genau so stellte wie auf der Gegenseite. Beispiel Gotthelf, der sich aller modernen Mittel bedient und durchaus zukunftsorientiert gedacht hat in dem Sinn, dass es auch ihm nicht um Restauration, sondern um eine konservative Variante der Moderne ging. Solche Aspekte könnten heute zu spannenden Auseinandersetzungen führen, weil sie quer stehen zu diesem doch sehr einfachen Schema von «Fortschritt gegen Reaktion».

Tanner: Derartige Diskussionen haben sich im vergangenen Jahr allerdings auf einen engeren Kreis innerhalb der Geschichtswissenschaft beschränkt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Journalisten und Journalistinnen auf solche Differenzierungen nicht eingehen wollten und stark das dichotomische Geschichtsbild gepflegt haben: Die Konservativen stritten mit den Fortschrittlichen und wurden besiegt, danach kam sofort der Konsens. In Wirklichkeit hat es fast fünfzig Jahre gedauert, bis die Freisinnigen bereit gewesen sind, die Konservativen zu integrieren. Nach 1848 gab es in der Schweiz eine ausgesprochene freisinnige Parteiherrschaft. Das wollte man im letzten Jahr nicht hören, häufig wurde einfach die heutige Konkordanz zurückprojiziert auf 1848. Ich denke, wir müssen überlegen, womit diese dichotomischen Vereinfachungen zu tun haben. Auf der einen Seite lebt der Journalismus natürlich von Dichotomien und Polarisierungen: das Gute gegen das Böse; das Positive gegen das Negative; das Fortschrittliche gegen das Reaktionäre. Aber auch die schweizerische Geschichtsschreibung ist davon stark geprägt, und sie weigert sich bis zu einem gewissen Grad, daraus auszubrechen. Das ist für mich, auf der wissenschaftlichen Seite, das eher Bedrückende an diesen 1998er Jubiläen: Es ist einmal mehr nicht gelungen auszubrechen, auch nicht aus der helvetischen Nabelschau. Wir haben es verpasst, sowohl die Helvetik von 1798 als auch 1847/48 in einen internationalen Kontext zu stellen und mit Leuten von anderen Ländern zu diskutieren: Wie lief diese bürgerliche Revolution oder der Modernisierungsprozess in der Schweiz wirklich ab im Vergleich zu Frankreich, England, Süddeutschland oder im Vergleich zu den USA, die ja nach 1803 eine ähnliche Entwicklung wie die Schweiz erlebten.

Joris: 1848 hat man die Geschichte in der Schweiz weniger in Bezug auf Europa als in Bezug auf die Französische Revolution betrachtet, das heisst in Bezug auf einen Mythos, auf die Bastille als Symbol und das Volk auf der Strasse als Motor der Geschichte. Als Gegenstück zur Mythenfeier von 1991 hätte man von linker Seite her für das Jahr 1848 eben gerne ein revolutionäres Volk vorgeführt und die Schweiz als Avantgarde. Aber das geht nicht: Zwar gab es in der Schweiz damals durchaus avantgardistische Elemente, aber das revolutionäre Volk ist in der Schweiz so wenig konstituierbar wie anderswo.

Sie, Albert Tanner, haben vorhin bezweifelt, dass die Schweizer Moderne mit der Helvetik begann – wann hat sie denn begonnen?

Tanner: Die Moderne beginnt mit der Industrialisierung etwas früher. Aber es geht vor allem darum zu zeigen, dass diese Moderne von Anfang an eine ambivalente Moderne war. Was mich stört an der Art, wie man die Helvetik präsentiert hat, ist, dass ein Teil der Repräsentanten dieser Helvetik zu einer modernen Avantgarde gemacht worden ist. Man hat sie zu grossen Republikanern stilisiert, die für Gemeinwohl und Fortschritt eingetreten seien. So wurden sie zu jenen Helden, die sie schon in der alten nationalen Historiographie gewesen sind. Dabei hat man vergessen, dass diese Leute mit ihrem elitären Demokratieverständnis ja auch einen Klassenstandpunkt vertraten…

Joris: …und dass sie allesamt vorher schon öffentliche Funktionen innehatten…

Tanner: …das stimmt. – Man könnte ohne weiteres auch zeigen, dass es in der Helvetik Kontinuitäten gibt vom Ancien Régime und vom so genannten Mythos des Spätmittelalters her – und dass solche Relikte sogar revolutionär eingesetzt werden. Wenn man das sähe, käme man weg vom engen Bezug zur aktuellen politischen Diskussion und müsste wirklich historisch argumentieren. Ich meine, die Helvetik ist im letzten Jahr relativ plump instrumentalisiert worden. So hat man auch ganz vergessen – das war 1830 so und 1848 wieder –, dass es auch innerhalb der Helvetik eine Linke gab, die eine nicht elitäre Demokratievorstellung hatte, direktdemokratisch und lokal dachte. Diese Linke ist natürlich für die heutigen Modernisten des Teufels, weil man heute an Europa glaubt, also durfte es damals nicht nach Lokalismus riechen und nicht nach Kantönligeist oder gar bäuerlich Reaktionärem. Dabei vergisst man, dass die Leute Politik machen aus ihrer Lebenswelt heraus, dass sie in ihrer Lebenswelt legitime Interessen haben und diese in dem neuen politischen System danach äussern durften, ob es den Fortschrittsfreunden heute passt oder nicht.

Joris: In diesem Punkt werden auch wieder Kontinuitäten sichtbar. Diejenigen, die bereits Beziehungen zu den Machtstrukturen haben, bleiben längerfristig viel stärker involviert.

Tanner: Dazu kommt die auffällige Übereinstimmung mit dem französischen Kalender. Die Schweiz macht eine helvetische Revolution kurz vor jenem Zeitpunkt, in dem Napoleon erklärt, die Revolution sei beendet, womit sich auch in der Schweiz das Bürgertum und die Eigentumsfreiheit durchsetzt. Diese Eigentumsfreiheit wird zum Kern der bürgerlichen Gesellschaft, in der sie eben eine Freiheit und nicht ein Recht ist. 1848 wird dann erst recht ein bürgerliches Sozialmodell umgesetzt, das einen zwar fortschrittlichen Charakter, aber eben auch eine bürgerliche Schlagseite hat.

Joris: Klar zutage tritt diese bürgerliche Schlagseite gerade auch in der Geschlechterfrage. Unter diesem Aspekt fällt die Frage, ob das damals ein schweizerischer oder ein europäischer Weg war, nämlich schlicht dahin: Es war ein bürgerlicher Weg. Dieser Zusammenhang wurde im letzten Jahr vernachlässigt, die Geschlechterfrage ist in den Diskussionen häufig weggefallen, doch es ging bei der bürgerlichen Revolution auch um die Verfügungsmacht des Bürgers über die Arbeitskraft und das Vermögen der eigenen Frau. Es geht um Inbesitznahme, Verfügungsmacht und Investitionsmöglichkeiten. Das sieht man überall dort, wo es zu Recht-Setzungen im Sinn von Privat- und Staatsrecht kommt. Entsprechend entstehen die ersten Emanzipationsbestrebungen der Frauen nirgends um die Frage des Stimmrechts, sondern um jene der Verfügungsgewalt über ihr Eigentum. Die Frauen damals haben einen sehr klaren Begriff davon gehabt, was ihr Eigentum und ihre Arbeit ist. Dazu kam in vielen Kantonen die Geschlechtsvormundschaft: Wurde eine Frau Witwe, dann wurde von der Gemeinde irgendein Kerl zu ihrem Vormund ernannt, der bestimmte, was mit ihrem Erbe passieren sollte. Solche Aspekte haben keinen Eingang gefunden in den Diskurs, obschon sie in Bezug auf emanzipatorisches Handeln von zentraler Bedeutung sind.

WoZ: Ist diese Entwicklung wirklich eine spezifische Erscheinung der bürgerlichen Revolution? Wurden die Frauen im Vergleich zum Ancien Régime zurückgestuft?

Joris: Es war so: Die emanzipativen Forderungen der Männer, Bildung, politische Partizipation, Verfügung über das Eigentum, wurden zwischen 1798 und 1848 umgesetzt. Aber in Bezug auf die Frauen bleibt alles beim Alten. Und es gibt einen weiteren Aspekt: Der Beginn der Moderne war, sagt man, auch der Beginn des Individualismus, der persönlichen Freiheit. Diese Deutung ist, wenn ich sie vom Geschlechterverhältnis her anschaue, ideologisch, das heisst: Man verschweigt die Eingebundenheit der Einzelnen im Familienwirtschaftlichen und auch im Verwandtschaftlichen. Konkret wird das verschwiegen, indem man einfach verschweigt, dass es Frauen gibt: Man spricht von der persönlichen Freiheit der Menschen, gemeint sind aber nur Männer. Die Emanzipation der Frauen im Bürgertum hat also begonnen, weil die Frauen als freie, selbständige Individuen in dieses bürgerliche Schema gar nicht passten, und so waren die ersten Emanzipationsbestrebungen gleichermassen getragen von Bäuerinnen, Gewerbetreiberinnen, von Wirtinnen – von Frauen, die im Alltag handfest den Geschlechterkampf führten um das Geld und um die Arbeit.

WoZ: Ihr geht weg von der Ereignisgeschichte, von den revolutionären Momenten, und studiert längerfristige Prozesse. Wiederspricht eure Betrachtungsweise nicht grundsätzlich einer Kultur der Jubiläen?

Joris: Sie widerspricht der Kultur der Jubiläen, und trotzdem ist diese Kultur gut. Dank solcher Jubiläen fokussiert man den Blick auf ein bestimmtes Jahr; sie geben Gelegenheit, spezielle Fragen genauer zu studieren. Es ist ja nicht so, dass breiter diskutiert würde, wenn man keine Jubiläen hätte. Eher würde man dann gar nicht diskutieren.

Tanner: Das stimmt. Auf der anderen Seite hatte das Jahr 1998 blamable Seiten gerade für die offizielle Geschichtswissenschaft. Wenn man schaut, wer sich im letzten Jahr mit 1798 und 1848 auseinandergesetzt hat, dann ist das ja nicht in erster Linie die offizielle Geschichtswissenschaft. Die Lehrstühle in der Schweiz haben sich damit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum beschäftigt. Es gab praktisch keine Seminare, es gab vorgängig keine wissenschaftlichen Projekte. Wenn man 1991 Niklaus Meienberg ernst genommen hätte, dann hätten wir genügend Zeit gehabt, nationale Forschungsprojekte in Gang zu setzen. Man hat nicht einmal den Literaturstand aufgearbeitet. Viele Aufsätze, die produziert worden sind, kranken daran, dass sie Dinge für neu verkaufen, die so neu auch wieder nicht sind

Joris: Dass die Forschung von den Lehrstühlen nicht vorangetrieben wird, hängt auch damit zusammen, dass sich die Historiker – von den wenigen Historikerinnen spreche ich hier nicht – lieber nicht einmischen wollen, dass sie sich nicht als Citoyens, als politische Bürger verstehen. Sonst müssten sie ja ein Interesse haben, dass solche Themen öffentlich diskutiert werden.

WoZ: War 1998 nicht auch eine schlechte Zeit dafür, weil bereits die Debatte um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg lief?

Tanner: Das spielte vermutlich schon eine Rolle…

Joris: …ich verneine das. Durch die andere Debatte sind Historiker zwar noch eher gezwungen worden, öffentlich zu reden. Aber geredet haben eben die gleichen, die auch zu den Jubiläen redeten. Die Jubiläen haben unter der Diskussion um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg nicht gelitten. Im Gegenteil: Die ganze Auseinandersetzung um die Schweiz als Sonderfall ist jetzt dank dieser Diskussion gelaufen, und ich denke, der Mythos ist überwunden. Auf diese Weise wurde auch dem 1848er-Sonderfall-Mythos, dem linken Mythos vom revolutionären Volk und von der Schweiz als Avantgarde des Fortschritts der Boden entzogen.

Tanner: Das Problem ist aber schon das Verhältnis der schweizerischen Geschichtswissenschaft zur Öffentlichkeit. Es gilt als «unchic», sich in Debatten einzumischen.

WoZ: Nachdem 1991 der Mythos Schweiz beschworen worden war, gab der Bundesrat bekannt, er stelle ein Beitrittsgesuch an die Europäische Union. 1998 sind parallel zu den Feiern des Bundesstaates wichtige Schritte zur europäischen Integration der Schweiz passiert. Sind die Schweizer Jubiläen der neunziger Jahre eigentlich Totenfeiern?

Joris: Das sind sie vielleicht für gewisse Mythen. 1998 hätte der Abschluss der bilateralen Verträge, der zufällig in dieses Jahr fiel, der Diskussion um 1848 Auftrieb geben können: Die ganze Europa-Frage ist ja nicht nur eine Frage des Beitritts zur EU, sondern es geht um die Frage: Wo ist die Schweiz in diesem Europa? Auch 1848 war die Schweiz ein Teil von Europa und war eingebunden in den Markt und in die Auseinandersetzungen des aufsteigenden Bürgertums. Man hätte solche Parallelen etwas mehr betonen können.

Tanner: Dort, wo ich Publikumskontakt hatte, bei Vorträgen zum Beispiel, sind diese Fragen zur europäischen Integration eigentlich immer gekommen. Angenehm überrascht hat mich dabei, dass die Diskussion von den EU-Befürwortern nicht mehr wie 1992 zu einem simplen Analogieschluss benutzt worden ist: So wie sich die Schweizer Kantone in den Bundestaat integrieren durften oder mussten, so müsse sich nun die Schweiz in Europa integrieren. Das ist nicht mehr passiert, sondern man hat, wenigstens zum Teil, diskutiert: Was ist eine politische Einigung, was ist eine politische Vereinigung? Es wird ja nach wie vor oft so getan, als ob die europäische Integration schon an sich etwas Positives wäre. Aber Integration kann nur positiv sein, wenn sie etwas bringt. Heute ist fast allen klar, dass ein EU-Beitritt die Schweiz etwas kostet, ökonomisch jedenfalls. Deshalb muss man sich genauer überlegen, wie man Integration als etwas verkaufen kann, das auch einen Zweck und einen Sinn hat für uns, und zwar nicht nur ökonomisch. In der deutschen Schweiz hat man 1992 gesagt: Ihr werdet ökonomisch profitieren, die Wirtschaft wird einen Aufschwung erleben. Das war in der französischen Schweiz nicht so. Die Romands wollten nicht einfach in die EU, sie wollten nach Europa oder näher zu Frankreich. Die Deutschschweiz wollte nirgendwo hin, sie wollte nur noch etwas mehr profitieren. Auf solche Art hätten die Radikalen und die Liberalen 1848 keinen Bundesstaat zustande gebracht. Sondern ihnen war damals klar: Wir müssen etwas ändern, weil wir etwas Neues wollen. Und die anderen sollen uns daran nicht hindern können. Und wenn sie nicht wollen, dann zwingen wir sie eben mit Gewalt.

Joris: In diesem Punkt wäre 1998 auch mehr Diskussion nötig gewesen. Gerade was das Stichwort Integration betrifft: Integration wird gebraucht zur Verwischung der Gegensätze. Dank Integration wird alles gut! Integration müsste aber heissen: Gegensätze als solche, als Auseinandersetzung zu integrieren und lebbare Regeln aus diesen Gegensätzen heraus zu entwickeln. Das ist ja 1848 auch zum Teil versucht worden. Aber zum Teil war es dann einfach Machtausübung der freisinnigen Sieger…

Tanner: … immerhin sind damals Regeln eingeführt worden, unter denen sich auch die Gegner haben äussern können.

Joris: Das ist wahr. Nur war es eine Frage der Machtverhältnisse, wie stark Integration zugestanden wurde. Bis anhin war es ein konstitutives Element von Integration, Grenzen zu bestimmen und so zu definieren, wer ausgeschlossen werden soll – neben den Frauen waren das noch viele andere, die zum Teil bis heute ausgeschlossen sind. Wenn auf dieser Ebene über politische, soziale und auch diskursmässige Integration und Einbindung diskutiert worden wäre, hätte wir ausgehend von 1848 Vorstellungen entwickeln können für eine Integration als Einbindung und nicht als Ausschluss, auch nicht als Assimilation. Einbindung in einen Diskurs würde heissen: nicht Objekt einer Auseinandersetzung zu sein, sondern daran als Subjekt zu partizipieren. Das hätte eine spannende Diskussion geben können, auch um Fragen der Modernisierung, der Erneuerung und des Fortschritts im Sinn des Fortschreitens.

Tanner: Ich habe einen Gemeindeabend in Bachs bestritten. Dort habe ich mit den Leuten zweieinhalb Stunden lang debattiert über 1848. Dabei ist rasch die Frage gekommen: Was passiert, wenn wir den Franken aufgeben müssen? Es wurde klar: Natürlich kann man von 1848 nicht lernen, ob man in die EU soll oder nicht. Aber man kann an diesem Beispiel diskutieren, welche Kosten es gibt, wie solche Prozesse ablaufen und welche Interessen hinter solchen Prozessen stehen können. – Etwas anderes ist die Debatte um die Rolle des Nationalstaates. Auch sie hat im letzten Jahr weitgehend gefehlt, läuft aber langsam an. Vielleicht hat auch in dieser Frage 1998 etwas bewegen können. Schon wenn die Leute nur endlich wissen, dass erst damals der Nationalstaat in der Schweiz installiert worden ist, also ein nationaler Raum entstand und danach eine nationale Identität gebastelt wurde. Heute ist dieses Nationalstaats-Modell vielleicht ein Auslaufmodell, heute müssen wir uns überlegen: Wie wird im 21. Jahrhundert Staatlichkeit, Souveränität und allenfalls Nation – was immer das ist – verbunden oder von einander getrennt?

WoZ: Über die Beschäftigung mit 1848 konnte man 1998 also lernen, dass die Schweiz immer wieder veränderbar sind?

Tanner: Das konnte man lernen. Und das ist schon viel.

Joris: Vielleicht projiziere ich jetzt. Aber ich habe am Ende dieses Jubiläumsjahrs 1998 das Gefühl, dass die Frage der Wandelbarkeit oder der Veränderbarkeit irgendwie durchgedrungen ist – nicht in einem heroischen Kontext, sondern als Wille zur schlichten Veränderung, als unheroisches Gefühl für notwendige politische und soziale Veränderungen. Vielleicht sind, anders als 1991 von der Linken intendiert, auch gewisse linken Mythen abgebaut worden.

Der Historiker Albert Tanner war 1998 Leiter der «Geschichtsagentur 1998», einem Projekt der Allgemeinen Geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz (AGGS) zur Vermittlung von historischem Wissen an die Medien.

Die Historikerin Elisabeth Joris arbeitete 1998 freischaffend mit dem Eigenauftrag, die Geschlechter- und Emanzipationsfrage zwischen 1798 und 1848 in die öffentliche Debatte einzubringen. Unter anderem koordinierte sie für die WoZ die fünfteilige Serie «Die Frauen und der Liberalismus zwischen 1798 und 1848» (siehe WoZ, Nrn 5, 10, 16, 21 und 27/1998).

Ich danke Stefan Keller für sein Einverständnis, unsere gemeinsame Arbeit an dieser Stelle zweitveröffentlichen zu dürfen.

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