«Für ein Shooting muss ich oft jahrelang pickeln»

Er arbeitet für Keystone, die grössten Bildagentur der Schweiz. Sein Beruf ist Themenfotograf. Er illustriert Zeitthemen von der Jugendgewalt bis zum Verhältnis der Schweiz zur EU. Und er porträtiert er die Prominentesten aus Politik und Wirtschaft, insbesondere die Konzernchefs, die sich heute CEO (Chief Executive Officer) nennen. Über die Agentur gelangen seine Bilder in die Zeitungen und Zeitschriften des Landes. Ob Fiat-CEO Sergio Marcione oder Coop-Chef Hans-Ueli Loosli, ob Marcel Ospel oder André Dosé: Steht neben einem Porträt «Keystone», stammt es meist von Martin Rütschi.

Drei Sujets in zwanzig Minuten

CEO-Fotografie hat etwas von einer Grosswildjagd: Beides braucht viel Geduld und schnelle Reaktionen. «Beim Nestlé-Chef Peter Brabeck habe ich mehr als zwei Jahre immer wieder nachgefragt, bis ich einen Termin bekommen habe», erzählt Rütschi im grossen Living-Room seiner Wohnung in Schindellegi (SZ). «Daniel Vasella fotografierte ich zum letzten Mal in London vor sechs Jahren. Seit vier Jahren sind wir am Pickeln für einen neuen Termin.» Fehlen im Archiv der Agentur aktuelle Bilder einer gefragten Person, dann wird sie zu einem Fall für Rütschi.

Manchmal muss Rütschi «an die Grenze des journalistisch Vertretbaren» gehen, um überhaupt zu einem Termin zu kommen: «Ich habe als Notlösung auch schon angeboten: Wenn Sie mithelfen, überlassen wir ihnen einige Bilder zu einem Spezialpreis für den internen Gebrauch.» Wenn ein Unternehmen allerdings später bei der Bildauswahl mitreden wolle, wehre er sich: «Das ist journalistisch nicht o.k.»

Hat er den Termin schliesslich, stehen Rüetschi und seine Assistentin Ariane Pochon unter Druck: «Ich muss zwingend gute Bilder zurückbringen, sonst habe ich versagt.» Beim «Shooting», wie er den Fototermin nennt, müsse alles sehr schnell gehen: «Mehr als eine halbe Stunde kriege ich selten.» Häufig besucht er das Konzerngebäude deshalb einen Tag zum Voraus, um die Hintergründe für die Ad-hoc-Studios festzulegen, die er tags darauf für die drei Sujets einrichtet, die er braucht: «Zuerst mache ich ein Passfoto für den kleinformatigen Abdruck. Das zweite Bild soll die Person in ihrer Arbeitsumgebung zeigen. Das dritte und für mich das wichtigste ist ein Porträt, auf dem die Persönlichkeit vor einem ästhetisch interessanten Hintergrund zum Tragen kommen soll.»

Der Mensch hinter der Maske

Erscheint der CEO zum «Shooting», versucht Rütschi mit einem lockeren Wortwechsel, einen minimalen persönlichen Kontakt aufzubauen. Danach ist Konzentration alles: Sind die Filme wirklich geladen? Funktionieren alle Blitzlichter? Wie steht es mit Hintergrund, mit dem Vordergrund, der Blende, der Zeit? «Gewöhnlich spüre ich von einer bestimmten Bildsequenz sofort, wenn alles stimmt, ich beginne zu schwitzen und schneller zu atmen, weil plötzlich von der Chemie bis zum Licht alles stimmt. Da täusche ich mich selten.»

Die CEO grosser Firmen sind für solche Auftritte geschult. Wobei Rütschi beobachtet, dass es jene oft am schlechtesten machen, die am besten geschult sind. Am meisten bringe die Erfahrung: «Wer viel fotografiert wird, macht es gewöhnlich gut.» Als er nach einem «Shooting» mit Josef Ackermann – früher CEO der Credit Suisse, heute der Deutschen Bank – die gemachten Bilder verglich, war er perplex: «Hätte man die Köpfe ausgeschnitten, hätte man dreimal das gleiche Bild gehabt: Jedesmal absolut das gleiche Lächeln, nicht sehr authentisch, aber perfekt. Er ist ein absoluter Profi.»

Nicht nur bei der CEO-Fotografie ist Rütschi immer von neuem auf der Suche nach dem Authentischen im Bild, das auch bei jenen, die es betrachten, Gefühle auszulösen vermag. Mit gleicher Leidenschaft fotografiert er deshalb einen CEO, einen Bergbauer oder AIDS-kranke Menschen in Simbabwe. «Das Spannendste ist ja nicht, meine Bilder in den Zeitungen gedruckt zu sehen», sagt er, «spannend ist vor allem, was ich alles erlebe und sehe, indem ich zu meinen Bildern zu kommen versuche.»

 

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Fotograf aus Leidenschaft

Begonnen hat alles mit einer Kartoffel, die aussah wie eine Maus. Dass Martin Rütschi (* 1966) ein fotoverrückter Bub gewesen ist, hat man in Baar (ZG), wo er aufwuchs, schon früh gewusst. Als er etwa elf war, brachte ihm ein benachbarter Bauer diese merkwürdig geformte Kartoffel. Die Mauskartoffel wurde sein erstes Pressebild. Als er nach der Schule bei «Foto Weber» in Luzern die Fotografenlehre begann, betrieb er mit einem Kollegen  bereits die Fotoagentur «Pictura». An guten Wochenenden verkauften die beiden der Presse bis zu zwanzig Bilder, vor allem von regionalen Sportveranstaltungen.

Bis heute hat er Mühe, sich als professionellen Fotografen oder als Künstler zu verstehen, obschon seine Bilder mehrfach preisgekrönt worden sind: «Ich fotografiere einfach.» Stand allerdings zuerst die Neugierde an den technischen Möglichkeiten im Vordergrund und später das journalistische Interesse, mit einem Bild eine Geschichte wirkungsvoll zu erzählen, so sagt er heute: «Bilder müssen nicht nur schön sein, nicht nur inhaltlich stark, sie sollen auch Emotionen wecken.»

Rüetschi arbeitet seit 15 Jahren für die Bildagentur Keystone, zuerst als «Fotograf für besondere Aufgaben», heute als Themenfotograf. Er ist zu 80 Prozent angestellt und erledigt daneben freie Aufträge für Zeitungen und Werbeagenturen. Er ist Mitglied des Schweizerischen Verbands der Journalistinnen und Journalisten (SVJ). Sein steuerbares Einkommen ändert von Jahr zu Jahr. Für 2004 schätzt er es auf etwa 100000 Franken, den Umsatz auf eine Viertelmillion: Die Kosten für seine Fotoausrüstung schätzt er auf 200000 Franken.

Meine Titelvorschläge hatten gelautet: «Lauern auf den Termin / Das Gesicht hinter dem Gesicht / Der Grosswildjäger / Blick hinter das perfekte Lächeln». Der Beitrag ist stark gekürzt veröffentlicht worden. Hier präsentiert wird die integrale, damals von Rüetschi abgesegnete Version präsentiert.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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