Entgrenzt leben und schaffen

Ausstellungshalle des neuen Erweiterungsbaus im Kunsthaus Grenchen: Der Raum ist verstellt mit Gemälden, Glasstelen, «Büchern» und andern Objekten. Über dem Einrichtungsplan brüten Marco Eberle und Jürg Ottiger, die Ausstellungstechniker. Weiter hinten im Raum zwei Frauen, die eine grossformatige Tapisserie durch den Raum ziehen. Während Eva Inversini, die künstlerische Leiterin des Hauses, noch letzte Falten aus dem gewobenen Teppich streicht, steht die Künstlerin schon an der gegenüberliegenden Wand und sagt: «So, dort passt’s.»

Die Künstlerin, das ist Lilly Keller, schlank, yogageschmeidig, flink auch im Kopf, voller präziser Argumente, polemischer Durchblicke, starker Episoden. Eine Fünfzigjährige mit Jahrgang 1929. Seinerzeit neben Meret Oppenheim eine der prägenden Figuren jener nonkonformistischen Berner Kunstszene der fünfziger und sechziger Jahre, für die heute Namen wie Spoerri, Tinguely, Luginbühl oder Szeemann stehen. Kellers Name fehlt gewöhnlich. Zwar umfasst ihr Werk unterdessen mehr als tausend Nummern. Aber sie ist halt bloss eine Künstlerin.

Künstlerinnen waren damals nicht vorgesehen. «Die Männer», sagt Lilly Keller, «haben dich nicht als Kollegin, sondern bloss als attraktives Wesen wahrgenommen. Ging es um Ausstellungen, wurdest du gewöhnlich übergangen.»

Frau La Roche unterm schwarzen Kreuz

Das Argument, dass in jener Berner Kunstszene die Frauen doch immerhin eine Gegenmacht gebildet hätten, bringt Lilly Keller zum Lachen: «Ach was! Nehmen wir Meret Oppenheim zum Beispiel: nie Geld, kein Erfolg bis kurz vor dem Tod, hat bescheiden gelebt in ihrem kleinen Atelier an der Zieglerstrasse. Den Auftrag für ein grosses Wandbild, das sie so gern gemacht hätte, hat sie nie bekommen, bloss für eine kleinere Arbeit im Treppenhaus der damaligen Mädchenschule Monbijou – übrigens neu renoviert, man kann sie besichtigen.» Bei ihrer Beerdigung sei auf dem Wegweiser zur Abdankungshalle auf dem Basler Friedhof Hörnli «Frau La Roche» gestanden, der Name ihres fast zwanzig Jahre zuvor verstorbenen Ehemanns. Und während der Abdankung hätten ihre Überreste unter einem riesigen, schwarzen Kreuz gestanden: «Ausgerechnet! Meret, die grösste Atheistin!» Und erst die Reden: «Loblieder auf Merets Pelztasse, die sie so oft zum Teufel gewünscht hat. Lauter salbadernde Männer. Grauenhaft!» Nein, wirklich: «Frauenszene? Ich bin mein Leben lang eine Einzelkämpferin gewesen.»

Klar habe es daneben einzelne Männer gegeben, von denen sie habe profitieren können. Einen erwähnt sie: den Kunstmaler Toni Grieb, ihren 2008 verstorbenen Ehemann. «La’s nume gsorget si», habe er jeweils gesagt, sie ins Atelier und in Ausland gehen lassen und im Haushalt gemacht, was habe gemacht werden müssen. 

Keine Grenzen ausser selbstgewählten

Lilly Kellers Gesamtwerk ist riesig. Die Einzelausstellung, die jetzt im Grenchner Kunsthaus zu sehen ist, ist deshalb weniger eine umfassende Retrospektive als ein repräsentativer Einblick in alle zentralen Schaffensphasen.

Der Kunstkritiker Konrad Tobler spricht im Zusammenhang mit diesem Werk von einer Kunst der «Entgrenzungen». Tatsächlich hat Lilly Keller immer wieder Grenzen niedergerissen und überschritten: als Frau und als Reisende, die ausser Ostasien alle Kontinente gesehen hat; vor allem aber als Kunstschaffende, die vom amerikanischen Expressionismus herkommend immer weitergegangen ist: von der zweiten in die dritte Dimension, vom Bild zum Objekt, von der Tapisserie zum Environment, vom Metall zum Polyurethan – immer wieder offen für Neues.

Was Lilly Keller ärgert: dass ihr von der Kunstkritik vorgeworfen wurde, ihr Werk könne nicht eingeordnet werden. «Materialsprünge», sagt sie, gebe es in ihrem Werk ungefähr alle zehn Jahre – von Pinsel und Leinwand über das Weben, die «Bücher», die mittels Collage und Malerei zu Kleinskulpturen werden, die Lithographie, das Glas bis zum Kunststoff. «Jede Periode dauert, bis ich anstosse. Ich arbeite mit dem Material so lange, bis es für mich ausgeschöpft ist.»

Die Formel «Kunst der Entgrenzung» gefällt ihr: «Der Bürger hat sein Heim, der Kleinbürger sein Gärtchen, der Kleinstbürger sein Schrebergärtchen, und jeder hat eine Grenze mit einem Zäunchen, und wenn’s nur um seine zwei Quadratmeter ist.» Aber auch offenere Menschen seien von Grenzen umgeben: Landesgrenzen, materielle und soziale Grenzen, Grenzen durch Heirat. «Ich habe mich weder an den Kunstmarkt noch an Konventionen anpassen müssen. Insofern konnte ich wirklich entgrenzt leben und schaffen. Ich hatte nie einen Vorgesetzten; die einzige Grenze, die ich jeweils akzeptierte, um sie zu überwinden, gab mir mein freier Wille vor – zum Beispiel, eine riesige, komplizierte Tapisserie fertigzukriegen.»

Was Lilly Keller von jemandem, der Kunst macht, erwartet, ist nicht politisches Engagement, sondern «eine geistige und ethische Haltung. Von wem sonst könnte man sie verlangen?» Es geht Keller nicht darum, die Welt zu verbessern, sondern um den unbedingten Willen zur grenzenlosen Selbstrealisation. «Solange das Militär mit dem Panzer nicht durch meinen Garten fährt, gibt es keinen Krieg», sagt sie.

Was sie einer heute jungen Künstlerin raten würde? «Vor allem: keine Kunstschule besuchen, dort wird sie bloss zur Marktfrau verzogen. Dafür reisen. Aber so, dass sie sich als eine der Armen unter den Ärmsten erfährt und sich inhumanen Erniedrigungen bewusst wird. Wenn sie zurückkommt und noch etwas zu sagen hat, dann soll sie es sagen. Dann muss sie es tun.»

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Hommage an Lilly Keller

Lilly Keller ist eine der bedeutenden Künstlerinnen dieses Landes und bis heute unterschätzt. Aufgewachsen ist sie in Muri bei Bern. Sie lebt in Montet (VD) und in Thusis (GR). Nun haben ihre Nachbarn in Thusis – das Journalistenpaar Andreas Bellasi und Ursula Riederer – ein wirklich gut geschriebenes Buch über sie veröffentlicht. In kurzen, informativen Kapiteln werden die Lebensstationen und die wichtigsten Aspekte von Lilly Kellers Werk umrissen. Eine Hommage mit viel empathischer Recherche und wenig kunsttheoretischem Ballast, ergänzt mit einem Vorwort von Beat Stutzer, Direktor des Bündner Kunstmuseums Chur, und einem Essay des Kunstkritikers Konrad Tobler. 

Andreas Bellasi, Ursula Riederer: Lilly Keller. Das Leben. Das Werk. Bern (Benteli) 2010.

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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