Eine Fundgrube für alle

Unfall? SUVA! Entlassen? Arbeitslosenkasse! Krank? Krankenkasse! Behindert? Invalidenversicherung! Pensioniert? AHV-Rente!

1848, bei der Gründung des Bundesstaats, gab’s noch keine dieser Einrichtungen. Die industrielle Revolution hat damals die Warenwelt explodieren lassen und die Fabrikherren reich gemacht. Sie brachte aber auch die miserablen Lebensverhältnisse des Proletariats: Zerstörung der Selbstversorgung, lange Arbeitszeiten, kaum Lohn, gefährliche und ungesunde Arbeitsbedingungen, Armut und Elend, Unterernährung, Wohnungsnot, mangelnde Hygiene, Krankheit und frühes Siechtum.

Hilfe kam ausschliesslich von privater Seite, als Almosen und punktuell: von Nonnen und Pfarrherren, von Schulmeistern und Fabrikantengattinnen. Der Schriftsteller C. A. Loosli hat solche Leute später als «Philanthropophagen» verspottet – als menschenfressende Menschenfreunde. Gerechterweise muss man sagen: Die Almosenwirtschaft hat im Einzelfall geholfen. Aber, wie schon Heinrich Pestalozzi gesagt hat: «Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade.»

Freisinniger Wurf

Zwischen damals und heute liegt die Schweizer Geschichte der sozialen Sicherheit. Und genau zu diesem Thema hat sich das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) 2013 zu seinem hundertsten Geburtstag ein Geschenk gemacht: Fachleute der Universitäten Genf und Basel haben unter der Leitung von Matthieu Leimgruber und Martin Lengwiler eine frei zugängliche Website mit dem Titel «Geschichte der sozialen Sicherheit der Schweiz» gestaltet. Sie präsentiert historische Hintergründe, aktuelle Zahlen und (Zeit-)Bilder zu AHV, Arbeitslosen- und Mutterschaftsversicherung & Co. Die Seite ist ein Wurf und eine tolle Dienstleistung. Sie ist ein sorgfältig aufbereitetes, vielfältiges sowie sowie kreuz und quer verlinktes Textsystem.

Sie möchten mehr wissen über den eigentlichen Vater der AHV, den freisinnigen Bundesrat Walther Stampfli? Oder über den grossen Ausbauer der AHV, SP-Landesvater Hans-Peter Tschudi? Die Website bietet es. Oder Sie interessieren sich dafür, was die AHV heute kostet oder mit wie viel sie vor fünfzig Jahren zu Buche schlug? In Prozent des Bruttoinlandprodukts? Dies und noch viel mehr weiss die Website. Und sie liefert auch die ausführliche Literaturliste dazu.

Unglaublich, wie zäh der Kampf für den Sozialstaat gewesen ist! Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bringt zwar 1877 das Fabrikgesetz mit dem 11-Stunden-Tag und dem Arbeitsverbot für Kinder (in den Fabriken, nicht auf den Bauernhöfen). Aber erst 1890 sagt die Schweiz Ja zur Verfassungsgrundlage. Sie soll als ersten Schritt zum Sozialstaat eine nationale Unfall- und Krankenversicherung ermöglichen. Zehn Jahre plant das Parlament. Schliesslich bringt es die Lex Forrer des freisinnigen Nationalrats und späteren Bundesrats Ludwig Forrer zur Abstimmung. Ein sozialpolitischer Wurf: obligatorische Kranken- und Unfallversicherung mit integrierter Militärversicherung, mit Wöchnerinnen- und Sterbegeld sowie Invaliden- und Hinterlassenenrenten.

Am 20. Mai 1900 sagen knapp 70 Prozent der damals ausschliesslich männlichen Stimmenden Nein. Die antistaatliche Propaganda der privaten Kranken- und Hilfskässeler-Lobby hat gewirkt. Der Aufbau des Sozialstaats wird um Jahrzehnte verzögert: Die Kranken- und Unfallversicherung kommt erst 1912, der Erwerbsersatz für die Soldaten 1940, die AHV 1947, die Invalidenversicherung 1960, die Arbeitslosenversicherung 1984 und die Mutterschaftsversicherung sogar erst 2004.

Fundgrube für alle

Den Aufsatz zur Lex Forrer findet sich auf der Website in der Rubrik «Synthese», wenn man auf der Zeitachse das Jahr 1900 anklickt. Gehen wir in die Rubrik «Akteure», finden wir unter «Verbände und Organisationen» zum Beispiel auch eine kleine sozialgeschichtliche Würdigung der Gewerkschaften: «[Sie] richteten bei ihrer Gründung gegenseitige Hilfskassen zum Schutz ihrer Mitglieder vor Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall und Invalidität, Alter und Tod ein.» Gerade diese eigenen sozialpolitischen Strukturen führten dazu, dass die Gewerkschaften die Entstehung des Sozialstaats zwar kritisch-solidarisch, aber nicht naiv unterstützt haben.

Und wenn man in diesem Land eines Tages versuchen sollte, das Mistloch der Gnade wieder zu öffnen, wird es sich lohnen, auf die Barrikaden steigen. Warum? Bitte nachlesen!

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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