«Eine Fiktion hat kein Bewusstsein»

Nun hat sie stattgefunden: Die Pressekonferenz der Pro Juventute (PJ), deren Verschiebung auf unbestimmte Zeit im letzten Herbst eine Gruppe von Berner LehrerInnen veranlasst hat, den Verkauf von PJ-Briefmarken zu boykottieren (WoZ 44/1985).[1]

5. Mai, Restaurant Urania, Zürich. Auf dem Programm: «Lösungen für die künftige Handhabung und Aufbewahrung der Hilfswerk-Akten»[2], sowie Stellungnahmen zu «weiteren Fragen» das «Hilfswerk» betreffend. Staunend nehmen die mehreren Dutzend MedienvertreterInnen gleich als erstes zur Kenntnis, dass die PJ offenbar gar nichts zu sagen hat. Nichts zu sagen hat Stiftungsratspräsident Rudolf Friedrich. Seine prägnanteste Formulierung, die Stiftung könne aus heutiger Sicht die damalige Arbeitsweise des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» nicht gutheissen etc. entsprach fast wörtlich den Formulierungen eines PJ-Communiqués vom 3.5.1985, die weder von den Berner LehrerInnen noch den Fahrenden als Entschuldigung akzeptiert worden waren. Zu weitergehenden Entschuldigungen der Stiftung PJ gegenüber den Fahrenden prägte Friedrich nun den epochalen Satz: «Eine Stiftung kann sich nicht entschuldigen. Sie ist eine Fiktion, sie hat kein Bewusstsein.»

Ebenfalls nichts zu sagen hatte Zentralsekretär Heinz Bruni, der mitteilte, dass die PJ den Aktenberg in ihrem Keller «bis Mitte 1986» den zuständigen Vormundschaftsbehörden der Kantone zustellen werde. Von dieser Idee und davon, dass sie von den Fahrenden abgelehnt wird, weiss man spätestens seit letztem Herbst.

Ebenfalls auf dem Podium die Nationalrätin und PJ-Abteilungsleiterin Angélique Fankhauser (SP), die das Image der heutigen PJ zu verkaufen versuchte und später in der Diskussion den bemerkenswerten Zynismus prägte: «Die Fahrenden haben die Genugtuung, dazu beigetragen zu haben, dass so etwas wie dieses Hilfswerk nie wieder passiert.» An Zynismen weiter erwähnenswert: «Wir verschleiern nichts, sonst wären wir nicht hier (Friedrich) und «Wiedergutmachung liegt in erster Linie beim Bund» (Bruni).

Dann betraten die Nichteingeladenen – eine zwanzigköpfige Delegation der Radgenossenschaft der Landstrasse[3] – den Raum. Nun wurde die Veranstaltung doch noch informativ. Verteilt wurde eine gut 60seitige Dokumentation, die neben viel Hintergrundmaterial unter anderem einen Forderungskatalog an die PJ enthält:

• «Eine öffentliche Entschuldigung der PJ für die unter ihrer Aufsicht geschehenen Verbrechen an den Jenischen. Bisher hat die PJ in verschiedenen Pressemitteilungen nur ‘bedauert’ (dass die Sache ans Licht kam?), dass ‘Fehler’ begangen wurden.

• Rechtliche und finanzielle Unterstützung unserer Bemühungen zur Wiedergutmachung der schlimmsten Schäden, soweit sie heute noch wieder gutzumachen sind […]

• Herausgabe der Akten an die Betroffenen, die dies verlangen.

• Herausgabe der restlichen Akten an eine von den Betroffenen als neutral anerkannte Stelle zur Durchführung von gerichtlichen und wissenschaftlichen Untersuchungen.

• Sofortige Beendigung der Vertuschungs- und Rechtsverwilderungsmanöver zum Schutze der für die Verbrechen an den Jenischen Verantwortlichen.

• Sofortige behördliche Versiegelung des Archivs der PJ, da diese ihre treuhänderischen Verpflichtungen wiederholt verletzt hat.»

Im nachhinein völlig unverständlich ist, warum die PJ diese Pressekonferenz überhaupt durchgeführt hat. Zu offensichtlich wurde klar, dass in dieser Auseinandersetzung – in der es «nicht nur um Fehler der PJ, sondern um die braune Vergangenheit der Schweiz» gehe (Mariella Mehr) – die PJ zwar alle Macht, die Jenischen aber alle Argumente haben. Von einem Insider war zu erfahren, der Druck auf das Zentralsekretariat, die Pressekonferenz endlich durchzuführen, sei von den einzelnen Regionalsekretariaten gekommen, in denen man befürchte, der Briefmarken-Verkaufsboykott könnte sich im nächsten Herbst ausweiten. Nach dieser neuerlichen Zelebrierung fürsorgerischer Machtarroganz ist nicht einzusehen, mit welchen Argumenten der Verkaufsboykott in diesem Jahr abgesagt werden könnte.

[1] Zusammenfassend dargestellt ist die Geschichte diese Verkaufsboykotts von Pro Juventute-Briefmarken in: Radgenossenschaft der Landstrasse [Hrsg.] / Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt, Zürich (Limmat Verlag) 19902, 99f. – Der Druck der Öffentlichkeit führte ein Jahr später, am 7. Mai 1987, dazu, dass sich das PJ-Stiftungsratsmitglied Paolo Bernasconi an Stelle seines Präsidenten entschuldigte mit den Worten: «Pro Juventute bittet alle Betroffenen um Entschuldigung und ersucht die Fahrenden, diese Entschuldigung zu akzeptieren.»

[2] Zum Zeitpunkt dieses Artikels lagen die «Hilfswerk»-Akten im Keller des PJ-Zentralsekretariats in Zürich: «Ende Juli 1987 sind die versiegelte Hilfswerk-Akten im Zürcher Pro Juventute-Zentralsekretariat entsiegelt und per stiftungsaufsichtliche Bundesverfügung ins Bundesarchiv überführt worden.» (Radgenossenschaft der Landstrasse [Hrsg.] / Thomas Huonker a.a.O., 115).

[3] «Radgenossenschaft der Landstrasse»: am 31. Mai 1975 in Bern gegründete Interessengemeinschaft der Jenischen.

Der Titel dieses Berichts lautete in der WoZ «Neuer Boykott vorprogrammiert». Illustriert war er mit zwei Fotografien von Gertrud Vogler. Gegeneinandergestellt sah man links die Gruppe der Jenischen mit der referierenden Mariella Mehr, rechts die PJ-VertreterInnen Fankhauser, Friedrich und den referierenden Bruni. In der Bildlegende stand unter anderem: «Ihre umfangreiche Dokumentation mit Gegeninformation trägt das Motto: «Und die da reden von Vergessen / und die da reden von verzeihn / all denen schlage man die Fressen / mit schweren Eisenhämmern ein.» [Das Zitat stammt aus der Neufassung von Bertolt Brechts «Dreigroschenoper» von 1948.]

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