Eine Chance für Unfallopfer

Niklaus Knecht ist 45, Berufsberater, Sozialversicherungs- und Personalfachmann. Er hat unter anderem als Leiter eines Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums und als Sachbearbeiter für die Invalidenversicherung IV gearbeitet. 2000 schrieb er ein Konzept, weil ihn folgendes Problem umtrieb: In der Schweiz werden bei Unfällen jährlich zwischen drei- und viertausend Personen schwer verletzt. Allein die Suva betreut rund 30’000 solcher «Komplexfälle».

Gleichzeitig wusste er aus eigener Erfahrung, dass diese Dossiers bei den Unfall- und Sozialversicherungen wegen Arbeitsüberlastung oft nur «verwaltet statt abgearbeitet» werden. Deshalb entwickelte Knecht zusammen mit der Suva eine professionelle Methode, um Unfallopfer in die Arbeitswelt zu reintegrieren.

2001 gründete er die Knecht BSN AG. «BSN» steht für «Beratung, Selektion, Neuorientierung» und ist unterdessen um den Begriff «Arbeitsintegration» ergänzt worden. Heute beschäftigt die Zürcher Firma fünfzehn Mitarbeitende, darunter vier, die bei Unfällen Behinderungen davongetragen haben. In gut vier Jahren sind hier die Dossiers von über 700 Komplexfällen – von Unfallopfern mit Hirnverletzungen, Schleudertraumata, Arm- oder Beinamputationen – bearbeitet worden. In rund dreissig Prozent der Fälle konnten die Verunfallten wieder in die Arbeitswelt eingegliedert werden.

Die Knochenarbeit der Vermittlung

Bei den Unfallversicherungen fallen rund fünf Prozent der Komplexfälle an. Sie verursachen aber um die achtzig Prozent der gesamten Kosten. Als Faustregel gilt: Zehn Rentenprozente, hochgerechnet auf ein Menschenleben, kosten 100'000 Franken. Hier setzt, nach dem Motto der IV «Wiedereingliederung vor Rente», Knechts Konzept an.

Wer nach einem Unfall zum Komplexfall wird, verliert zumeist seinen bisherigen Arbeitsplatz. In diesem Fall können die Case Manager der Suva oder der privaten Unfallversicherungen eine Unterstützung durch das externe Integrationsteam der Knecht AG anbieten. Sind die KlientInnen am Angebot interessiert, füllen sie eine Einwilligungserklärung aus, die Externen die Einsicht in ihre Krankengeschichte erlaubt. «Unser Auftrag ist es dann», sagt Knecht, «diese Person zu unterstützen bei der beruflichen Standortbestimmung und bei der Reintegration in die Arbeitswelt.» Dazu stehen von der Versicherung als Auftraggeber sechs Monate Zeit und eine Fallpauschale von 18’000 Franken zur Verfügung.

Mit einem umfangreichen Assessment wird nun zuerst abgeklärt, ob die Erfüllung des Auftrags voraussichtlich möglich sein wird. «Wir können nicht alles. Wenn jemand nicht wirklich reintegriert werden will oder – zum Beispiel aus psychischen Gründen – keine Reintegrationsschritte machen kann, geben wir den Fall zurück.»

Sonst beginnt die Knochenarbeit: «Wir gehen in die Wohnregion des Klienten oder der Klientin und suchen dort Arbeitgeber – zumeist in Klein- und Mittelunternehmen – mit hoher Sozialkompetenz, die den gesundheitlichen Einschränkungen angepasste Arbeit anbieten und die bereit sind, eine unbefristete Stelle zur Verfügung zu stellen, wenn ein unverbindlicher Arbeitsversuch von drei Monaten befriedigend verläuft.» Kommt es zur unbefristeten Anstellung, übernimmt der Arbeitgeber den effektiven Leistungslohn, die Versicherung im Fall eines gesprochenen Rentenanteils den Rest. Bis sie ein passendes Angebot gefunden haben, sprechen die MitarbeiterInnen der Knecht AG häufig bei zehn bis zwanzig Firmen vor.

In jedem Fall wird ein Schlussbericht mit Verlaufsprotokoll und statistischer Auswertung zuhanden des Auftraggebers und des Anwalts der betroffenen Person erstellt. «Wenns nicht geglückt ist, lernen auch wir daraus: Lags an uns oder lag’s am Auftrag?» Verläuft die Reintegration bis ein Jahr nach der Vermittlung erfolgreich, wird für die Knecht AG eine Provision fällig. Die Höhe ist Geschäftsgeheimnis. Sie wird zwischen der Person, die den Fall bearbeitet hat, dem Teampool und der Firma aufgeteilt.

Mehrfache Win-win-Situation

Aufgrund seiner Erfahrungen ist Niklaus Knecht heute der Meinung, dass mit Verunfallten «quasi ab Spitalbett» über die berufliche Neuorientierung gesprochen werden soll: «Nur so kann die Abwärtsspirale der Chronifizierung vermieden werden. Für die Betroffenen ist die Rente immer die schlechtere Variante: Längerfristig werden sie zu Sozialfällen und aus der Gesellschaft ausgegrenzt.»

Knecht ist überzeugt, dass sich die Versicherungen auf ihr Kerngeschäft beschränken und die Reintegration an SpezialistInnen outsourcen sollten. Zurzeit ist seine Firma allerdings weitherum ohne Konkurrenz, obschon sie weniger als ein Promille der anfallenden Komplexfälle bearbeitet: «Würden sämtliche Fälle mit einer vergleichbaren Erfolgsquote abgearbeitet, müsste es möglich sein, jedes Jahr hunderte von Millionen Franken einzusparen.» Und zwar mit einer Arbeit, die Knecht als mehrfache Win-win-Situation charakterisiert: «Die Klienten und Klientinnen können wieder arbeiten und werden nicht ausgegrenzt. Die Arbeitgeber tragen kein Risiko und bezahlen nur die Leistung, die effektiv erbracht wird. Tendenziell sinken die Versicherungsprämien, weil die Versicherungen Rentenprozente sparen. Und wir hier haben einen sinnvollen Job: Es macht Spass, jemandem zu einem neuen Arbeitsplatz zu verhelfen.»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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