Eine Arche Noah im Meer des Menschenabfalls

Würde heute eine Thinktank von Schamanen im Dienst ihrer Herrschaft die Grundlagentexte für die Menschendressur neu zu schreiben haben, nähmen sie die Mose-Bücher als Vorlage, schon nur, um sich zu einer zeitgemässen Variante der Noah-Geschichte inspirieren zu lassen. Gibt es ein leuchtenderes Bild für die manichäische Lüge von den wenigen Gerechten in einer Welt «voller Frevel von den Menschen her»? Und für einen göttlichen Ausrotter, der deshalb kundtut: «Das Ende alles Fleisches ist bei mir beschlossen»? Alles Fleisches, ausser jenem des gerechten Noah samt Anhang, der sich, um der «Sündflut» zu entgehen, in göttlichem Auftrag eine Arche baut, und zwar «aus lauter Zellen», wie Zwingli in 1. Mose 6, 14 feinsinnig anmerkt (Luther spricht von «Kammern»).

Freilich würden diese Schamanen heute zweifellos ein anderes Bild brauchen, um die Politik des Teilens und Herrschens, die Rettung der Wenigen und die Vernichtung der Vielen als moralisch notwendig zu begründen. Aus aktuellem Anlass würden sie den Frevel jener Menschen ins Zentrum rücken, die sich auf den Weg nach einem guten Leben begeben, statt sich dort kaputt machen zu lassen, wo sie bisher gelebt haben und beherrscht worden sind; Menschen, die sich anmassen zu gehen, wenn durchgeknallte Zauberlehrlinge der Macht in Krieg und Frieden die Zerstörung der Lebensgrundlagen und den Massenmord realisieren.

Statt der Geschichte der «Arche Noah» würden die Schamanen zum Beispiel heute die Geschichte von den Rechtschaffenen in der «Festung Europa» erzählen und mit einer Moral versehen, die behauptet, für alle innerhalb der Festung gelte nach dem Willen ihres Gottes die Besitzstandwahrung (je mehr man hat, desto sicherer), für alle anderen jedoch, die sich hätten verführen lassen zur Unsesshaftigkeit, zur Teilnahme an einer unbewilligten Völkerwanderung – für sie alle sei der Untergang zumindest nicht auszuschliessen (ob in der Armut oder in der Sündflut des Mittelmeers würde die wirtschaftsliberale Dichtung feinsinnig offenlassen).

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In der Noah-Geschichte gibt es keinen Hinweis auf den Gemütszustand jener, die nach dem Willen ihres Gottes weiterzuleben hatten, während der Rest der Welt in den steigenden Fluten der moralischen Klimaerwärmung absoff. Aber vorstellen kann man sich: So wie seinerzeit Noahs Söhne Sem, Ham und Japhet am Tannenholzgeländer der Arche ein bisschen melancholisch in den Landregen hinaussinniert haben, warum sie eigentlich nicht glücklicher seien, wo es für sie als die göttlich patentierten Guten doch quasi das Minimum sei, obenauf zu schwimmen, so mögen heute besitzstandgesicherte Gewerkschaftsmitglieder auf den Zinnen der Festung Europas darüber sinnieren, warum es sie nicht wirklich glücklich macht, wenn sie mehr flankierende Massnahmen gegen die Lohndrückerei durch Schwarzarbeit von Dahergelaufenen fordern.

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Die Medienberichte über die Mittelmeer- und die Balkanroute, auf denen Flüchtlinge in diesem Sommer zu Hunderttausenden nach Europa gekommen sind, lässt auch unter den sozial gesinnten Demokraten der Zinnenhocker keinen Zweifel aufkommen: Es gibt immer mehr überflüssige Menschen!

Soweit Überflüssige durch den «Regimewechsel» von einem passivierenden zu einem aktivierenden «Wohlfahrtsstaat» hervorgebracht werden, sind sie von Heinz Bude und anderen beschrieben worden, wobei Bude sagt, überflüssig könnten alle möglichen Menschen werden, «ohne in gleiche sichtbare soziale Lagen zu geraten».[1] Die Rede ist hier also von einer sozialstaatlich abgefederten Überflüssigkeit, wie die Rede von Armut in Mitteleuropa zumeist eine sozialstaatlich gefederte Armut meint. Wie es daneben eine nicht abgefederte Armut von Menschen gibt, gibt es auch eine nicht abgefederte Überflüssigkeit. Wie es radikal arme Menschen gibt, gibt es auch radikal überflüssige, nämlich: die aus jeder politisch verfassten Gemeinschaft Ausgeschlossenen.

Der italienische Rechtsphilosoph Giorgio Agamben hat mit seiner Interpretation des römischen «Homo sacer» an eine Figur erinnert, die heute aus der Zukunft zurückkehren könnte. Der Homo sacer war ein Mensch, der vom Volk eines Delikts angeklagt und deshalb – obschon einer getäuschten Gottheit gehörend und deshalb «sacer», heilig – getötet werden durfte, ohne deswegen des Mordes schuldig zu sein.[2]

Heute sind insbesondere Staatenlose Homines sacri. Karl-Heinz Wedel weist darauf hin, dass souveräne staatliche Macht neben dem politisch verfassten ein anderes, nämlich das biopolitisch «nackte» Leben produziere. Staaten- und Papierlose leben demnach in einem Status, der den «Verlust der Rechtssubjektivität» bedeutet, in dem man «Freiwild für jedermann» wird – auch für die Staaten. Zur Illustration zitiert Wedel den Ich-Erzähler Gales in B. Travens Roman «Das Totenschiff» (1926): «Im Grunde […] war ich ja schon lange tot. Ich war nicht geboren […] konnte nie im Leben einen Pass bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn ich war ja niemand, war offiziell überhaupt nicht auf der Welt, konnte infolgedessen auch nicht vermisst werden. Wenn mich jemand erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte nirgends.»[3]

Für 2014 schätzt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) die Zahl der staatenlosen Menschen auf zehn Millionen. Weitere knapp sechzig Millionen waren 2014 auf der Flucht – die grösste Zahl, die je registriert wurde. Auch all diese Flüchtenden riskierten die Papier- und Staatenlosigkeit, um ihr nacktes Leben zu retten. Um sie in ihrer staatsbürgerlichen «Nacktheit» symbolisch zu schützen, müsste man sie eigentlich für heilig erklären – gleichzeitig ist klar, dass das Interesse gering ist, die Tötung solcher Überflüssiger als Mord zu sanktionieren: Homines sacri.

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Jedoch ist das unaufhaltsame Anwachsen der Ströme überflüssiger Menschen nicht nur auf europäische und US-amerikanische Militärinterventionen zurückzuführen, die seit dem Zweiten Irakkrieg 2003 fortgesetzt zum Zerfall von Staaten führen. Die Produktion von überflüssigen Menschen als «menschlichem Abfall» ist, so der Soziologe Zymunt Bauman, «ein unvermeidliches Ereignis der Modernisierung und eine untrennbare Begleiterscheinung der Moderne».

Es gebe nicht nur die Kategorie des «Homo sacer», schreibt Bauman, die sich «im Verlauf der modernen Einrichtung geordneter (sich an Gesetzen orientierender, vom Recht geleiteter) und souveräner Herrschaftsbereiche entwickelt» habe, auch wenn es stimme, dass bis heute «das Aussieben, Absondern und Entsorgen des beim Aufbau von Ordnung entstandenen Abfalls die Hauptbeschäftigung und Metafunktion» der Nationalstaaten sei. Daneben aber produziere auch der wirtschaftliche und technologische Fortschritt als schöpferische Zerstörung laufend menschlichen Abfall in Form von «Überbevölkerung»: «Vermittels einer massiven Deportation des betroffenen Teils der Bevölkerung» hätten die hochindustrialisierten Gesellschaften ihre selber produzierten sozialen Probleme bislang immer exportiert. Darum sei «die Ära der Moderne […] von Anfang an eine Zeit grosser Wanderungsbewegungen» gewesen, in denen «nicht zu zählende Massen entwurzelter Menschen» sich rund um den Globus in Bewegung gesetzt hätten, weil ihnen ihre Heimat keinen Lebensunterhalt mehr geboten habe.

Neu ist, dass der wirtschaftliche und technologische Fortschritt, der den Überschuss an Europäern als ökonomische MigrantInnen in die ganze Welt exportiert hat, unterdessen bewirkt, dass der mit ihnen exportierte wirtschaftliche und technologische Fortschritt andernorts überflüssig gewordene Menschen Richtung Festung Europa in Bewegung setzt. Bauman: «Flüchtlinge, Heimatlose, Asylbewerber, Migranten, alle Menschen ohne Papiere – sie sind der Abfall der Globalisierung.»[4]

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Womit ich während der Zeitungslektüre über die Flüchtlinge auf dem Mittelmeer und auf der Balkanroute zurzeit täglich konfrontiert bin, bedeutet demnach auch dies: Die marktradikale Globalisierung hat auf transnationaler Ebene den wirtschaftlichen und technologischen Fortschritt in einem zuvor nicht gekannten Mass vom gesellschaftlichen abgekoppelt. Diese Entwicklung spaltet in den Nationalstaaten das Rentable radikal vom gesellschaftlich Notwendigen ab. Ein Effekt davon ist, dass die Produktion von menschlichem Abfall als externalisierter Kostenfaktor der Globalisierung sich beschleunigt.

Weil die Finanzierung der Menschenrechte dieses Abfalls von jenen Staaten übernommen werden müsste, deren Konkurrenzfähigkeit bereits jetzt durch Sozialabbau finanziert wird, ist der Druck gross, den Abfall moralisch auszugrenzen. Das blosse Leben der angeschwemmten Überflüssigen als frevelhaft zu denunzieren. Die alte Leiher des ausrottenden Gottes anzustimmen und den Arche- oder Festungsbau hochleben zu lassen. – Kurzum: die untergehenden Menschen als «Homines sacri» zur Disposition zu stellen.

Und was tue ich, wenn ich die Zeitung weggelegt habe?

[1] Heinz Bude/Andreas Willisch [Hrsg.]: Exklusion. Die Debatte über die «Überflüssigen», Frankfurt am Main (suhrkamp) 2008, 19 f. + 31.

[2] Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2002, hier 81 f.

[3] Zitiert nach Karl-Heinz Wedel: Rechtsform und «nacktes Leben». Anmerkungen zu Giorgio Agambens Homo Sacer, in: Krisis, 30.12.2003.

[4] Zymunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne, Hamburg (Hamburger Edition) 2005, 49 f., 51 ff., 85.

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