Ein Geruch wie Sommerregen

«Und plötzlich war da etwas, ein Punkt, an dem du dich orientieren konntest, ein Zentrum, wo es Gleichgesinnte gab, die dich verstanden. Damals war ich Stift im Coop von Altstetten, Lebensmittelverkäufer, die bekloppteste Lehre, die du machen kannst. Aber sie ging nur zwei Jahre. Nach dem frühen Tod des Vaters musste ich Geld verdienen.

Nach der Arbeit fuhr ich von nun an jeden Abend mit dem Töffli der Limmat entlang in die Stadt hinauf zum AJZ. All die Leute dort, die zu arbeiten begannen, weil sie plötzlich begriffen: Hey, das hat ja einen Sinn, ich zieh hier eine Schraube an und dann hält dieses Geländer wieder. Diese Leute, die so vor sich hin geschafft haben, bewunderte ich mehr als die Schreihälse. Man muss wissen, die Liegenschaft an der Limmatstrasse war abbruchreif. Es hat alles neu gemacht werden müssen. Man hat gebaut, auf der einen Seite eine neue Treppe, der ganze Dachstock ist saniert worden. Gut, das Bauamt hätte bei jedem Treppentritt sagen können: Der ist lebensgefährlich.
Aber für kurze Zeit hatte das Bauamt eben nichts zu sagen. Es wurde eine Bar gebaut, richtig schön mit Theke. Daneben gabs eine Küche, es gab eine Druckerei, ein Stockwerk mit Frauenräumen; einer erteilte Schlagzeugunterricht, ab und zu wurden irgendwelche Kurse erteilt, und fast jeden Abend spielten Musikgruppen. Einmal zum Beispiel Jimmy Cliff. Der war ja damals schon mega bekannt: Nach seinem offiziellen Konzert in der Stadt kam er ins AJZ und machte gleich noch ein zweites. Welcher Künstler befasst sich schon mit der Stadt, in der er auftritt? Doch höchstens mit dem Hotel: Sind die Betten weich genug? Aber Cliff, der hat was geschnallt, der begriff, dass was lief in dieser Stadt. Als er zu spielen begann, standen bloss die Leute vom AJZ da und hörten zu. Dann begann Schawinski mit seinem Radio live zu übertragen, und aufs Mal war ganz Zürich da, die Leute standen bis hinüber zum Bahnhof. Das war schön: der warme Abend, der Reggae. Eigentlich fast ein bisschen zu romantisch.

Bei den Demos war ich dabei, aber nicht bei denen, die in vorderster Front Steine geschmissen haben. Ich hab immer gedacht: Es muss doch einen anderen Weg, es muss doch einen Weg zum Dialog geben. Aber das hat irgendwie nie geklappt. Mit der Zeit kriegtest du einen Hass. Ich bin auch drangekommen, verhaftet und registriert worden. Damals hast du gesehen, wie gefährlich die Gesellschaft sein kann, wie schnell das geht, wie schnell aus dieser Gesellschaft – ich sags mal extrem – eine Nazigesellschaft werden könnte.

Auf der anderen Seite hat das AJZ damals alles aufgesogen, da ist viel zusammengekommen, eine Konzentration von Problemleuten, die Hilfe gebraucht hätten. Manchmal ists eskaliert. Nie vergessen werde ich eine Frau, die durchgedreht hat. Auf jener Seite, wo die WCs waren, gabs auf einmal ein Geschrei. Ich rannte hin und sah eine junge, hübsche Frau, die sich mit einem Messer in den eigenen Unterleib hineinstach. Ich hab sie gekannt, weil sie auch von Altstetten kam. Mag sein, sie hatte einen Trip geschluckt, aber sie muss zuvor viel durchgemacht haben, vielleicht ist sie vergewaltigt worden. Andere haben sie dann hinausgeschleppt. Es war nicht so wie heute, wo du mit dem Handy schnell anrufen kannst, wenn ein Fixer zusammenkracht. Damals ist das fast eine Stunde gegangen, die Sanität hatte sowieso wenig Lust, beim AJZ vorbeizuschauen. Als sie die Frau wegtrugen, ist das Blut nur so herausgelaufen. Davon habe ich später verschiedentlich geträumt.

Klar erinnere ich mich an den Fixerraum. Am Anfang war er kahl. Dann begannen sie zu bauen, genau wie in den anderen Räumen, terrassenartige Stufen, auf denen man sitzen und sich seine Knälle machen konnte. Ich ging dort manchmal reinschauen aus Interesse oder wenn ich meinen Freund suchte, der damals schon gespritzt hat. Das war für mich ein Mysterium: Was machen die? Sich da Nadeln reinstecken – ich hab den Sugar damals lediglich durch die Nase raufgezogen, und er ist mir gut reingekommen. Meistens wars ziemlich dunkel drin, du sahst sie rumsitzen, du sahst das Blut – saubere Spritzen, Alktupfer und Ascorbin, die ganzen Utensilien, die du heute überall beziehen kannst, gabs damals nicht. Das war alles noch nicht sehr hygienisch, Aids war noch kein Thema.

Natürlich kamen auch die Junkies an die Demos, die hatten was zu verteidigen. Wo hats ausserhalb des AJZ einen Fixerraum gegeben? Nirgends! Draussen war die totale Leere. Aber dort drin hast du guten pakistanischen Stoff bekommen. Paki ist gut reingekommen, hat lange hingehalten und war billig. Damals konnte nicht einer kommen und linggs Züüg rauslassen. Der Stoff ist von Leuten im Fixerraum kontrolliert worden, bevor einer ihn verkaufen konnte. Hier konntest du in Ruhe reinlassen, den Löffel hast du selber mitgebracht, die Spritze musstest du irgendwie auftreiben. Und du hast gewusst, dass alles hoch illegal ist und dass du dran bist, wenn sie dich draussen reinnehmen. Damals wurde dort allerdings nur grammweise gedealt, nicht wie heute, wo am selben Ort kiloweise eingeführt wird.

Das AJZ war der Ort, von dem ich endlich sagen konnte: Da gehöre ich hin. Es hat einfach alles gepasst. Die Konzerte, die Kultur, du konntest was lernen, wenn du wolltest, jeden Abend hast du deine Leute getroffen. Und dann ist immer klarer geworden, dass das alles nur ein Traum bleiben würde. Dass das gar nicht existieren darf. Dass das Ganze zum Untergang bestimmt ist. Das hat viele an den Anschlag gebracht. Den Bagger mit der Riesenschaufel, der dann das AJZ unter Polizeischutz plattgewalzt hat, kenne ich nur aus der Zeitung. Das war Frühling 1982, damals machte ich die Lehrabschlussprüfung. Die wenigstens wollte ich durchziehen. Ich schaffte es, sogar mit Auszeichnung, was aber bei einer Verkäuferlehre keine Kunst ist. Wegen der guten Noten wollten sie mir sogar eine Filiale anhängen. Aber ich hatte in der Lehre gesehen, was das bedeutet. Als Filialleiter musst du abends noch die Kasse machen bis fast um neun, hast die ganze Verantwortung. Das war mir zu viel. Und verdienen tust du auch nichts.

Ich liess deshalb den Lehrvertrag auslaufen und ging nach Spanien. Die Lehre fertig, das AJZ kaputt, ich dachte nur: weg von hier! In Barcelona bin ich rumgehängt, habe viel gekifft, habe Leute kennen gelernt. Ich lebte vom Ersparten und den tausend Franken, die ich vom Coop für die abgeschlossene Lehre bekommen hatte. Ich suchte mir ein billiges Hotel und lebte so zwei, drei Monate. Die Typen, die ich kennen lernte, kannten Spunten, von denen kein Bulle eine Ahnung hatte, dort ging das Zeug über den Ladentisch. Allerdings kein Sugar. In Spanien habe ich nur gekifft.

An meinen ersten Knall erinnere ich mich nicht mehr, aber daran, wie ich zum ersten Mal mit Fixen aufhören wollte: Das war am Theaterspektakel, draussen am See. Ich fuhr mit meinem Freund hin in einem geklauten Auto, einem geilen MG. Dort haben wir unseren letzten Knall inszeniert. Danach haben wir die Spritzen weggeworfen, sind darauf herumgehüpft und haben behauptet: Das war das letzte Mal! Jetzt gehen wir an das Spektakel und dann ist fertig. Denkste. Am nächsten Tag haben wir uns schon wieder getroffen, und wir waren noch ganz am Anfang.

Es gibt verschiedene Gründe, um Heroin zu nehmen. Viele nehmen es, um ihren Mind abzustellen, damit sie nicht mehr viel nachdenken müssen über den ganzen Scheissdreck. Zuerst habe ich gemeint, alle anderen, die fixen, seien auch so wie ich, wir seien so etwas wie eine grosse Familie, das war Fixerromantik. Mit der Zeit lernte ich die Leute kennen: Es gibt urmenschliche Instinkte. Sobald es um das Eigene geht, werden alle so – fixen hin oder her. Sobald es um viel Geld geht, oder sobald du weisst: Ich komme grausam auf Entzug, wenn ich das, was ich habe, jetzt nicht nehme, dann teilst du nicht mehr. Das würde jeder Mensch so machen, wenn er in dieser Situation wäre. Die meisten kennen das an sich einfach nicht. Drum schauen sie auf die Junkies hinunter. Dabei machen die nichts anderes als die Leute, die sich schlagen, wenn es um den letzten Helikopter geht, der sie aus dem Krisengebiet herausfliegen kann. Wenn du das einmal wirklich erlebt hast, dann weisst du, was Sache ist. Verstehst du?

Die schlimmste Zeit war die, als ich auf Coci gewesen bin. Platzspitz, daran erinnere ich mich nicht gern. Wenn du Coci schnupfst, ists was anderes, aber wenn dus dir reinlässt, dann machst du pro Tag so viele Knälle, du kannst sie gar nicht mehr zählen, und wenn du schon kein Geld mehr hast, brauchst du Sugar, um vom Coci wieder herunterzukommen, weil du sonst in eine totale Paranoia hineinkommst. Und dann musst du abrechnen gehen mit dem Dealer, und wenn du zu viel reingelassen hast, dann hast du Schulden. Und auch im Kopf: Kokain ist das Schlimmste.

Seit bald zehn Jahren habe ich nun das Methi. Etwas, wogegen ich mich eigentlich immer gewehrt habe: Methadon bedeutete für mich immer Staat und Kontrolle. Aber irgendeinmal ist es nicht mehr gegangen. Wenn dir der Vertrauensarzt einer Bank einmal Löcher im Arm attestiert hat, dann hast du keine Chance mehr: Ich hab keinen Job mehr gefunden, hatte kein Geld mehr. Seit ich jeden Tag mein Methi hole, ist die Zeit nur noch so vorbeigeflutscht. Das gibt so einen Rhythmus, ein Dauerdilemma: Weg kommst du nicht. Methi-Entzug ist noch schlimmer als Sugar-Entzug.
Noch heute, wenn ich von auswärts komme und im Bahnhof Zürich einfahre, ist sofort dieses Feeling wieder da: Jetzt muss ich etwas suchen. Das wirst du nie mehr los. Das hat nicht unbedingt mit dem Dope zu tun, sondern mit der Stadt und den Erlebnissen: Dort habe ich mal einen Knall gemacht und hier ist mal was gelaufen. Du siehst alles wieder vor dem inneren Auge. Für mich ist Zürich Heroin. Wobei Heroin eben auch etwas Schönes sein kann: Wenn du einen Frust hast und dann an einem schönen Platz am Fluss einen Knall machst: Vielleicht ist das das Schönste, was es gibt.

Mein Freund hat sein Methadon ganz langsam abgebaut. Vor zwei Jahren ist er schliesslich fast sauber gewesen. In dieser Phase hast du ab und zu so eine Anwandlung: Jetzt wieder mal ein richtig geiler Knall. Aber eigentlich kannst du nicht mehr einschätzen, wie stark der Stoff ist. Du denkst, du müsstest wieder so viel reinlassen wie früher. So ist mein Freund gestorben. Ein schöner Tod, aber schade ist es trotzdem – viel zu jung halt.

Ich bin weiter auf Methadon, und ich will es auch gar nicht verteufeln. Es ist ja ein Riesenfortschritt, dass man es heute abgibt. Aber persönlich hätte ich viel lieber sauberen Stoff und nicht wegen jedem Scheiss in die Kiste und nicht wegen einem halben Gramm eine Busse von über tausend Franken. Dann wäre mir der Sugar wirklich lieber als dieses Sirupsäftli. Was soll ich sagen, wir sind alle Patienten geworden, Patientinnen irgendwo, dort und da. Es läuft nichts mehr.

Die AJZ-Zeit war für mich die intensivste, und wenn du mich fragst, was damals das Wichtigste war, so sage ich: die Energie, die Energie, die damals in der Luft gelegen hat. Manchmal frage ich mich: Woher ist die gekommen? Wo ist die hin? Gibts die nicht mehr? Kann man die nicht wieder herausholen aus den Leuten? Damals ist wirklich etwas in der Luft gelegen. Manchmal habe ich sogar das Gefühl gehabt, ich rieche es, wenn ich mit dem Töffli in die Stadt gefahren bin. Es war ein geiles Feeling, ein Geruch wie Sommerregen.»

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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