Ein Exempel, aber gottvergessen

In der kleinen Bibliothek der Strafanstalt Saxerriet im Rheintal. «Meine bedingte Entlassung fällt genau auf den 23. April 1996», sagt Alois Mehr, «ab Mitte November, Sonntag den 12., komme ich in die Halbfreiheit – wenn mir der Kanton Graubünden den Drittel gewährt.» Das ist am 15. September 1995 gewesen und der Aufseher, der mich freundlicherweise am Bahnhöfchen von Salez abgeholt hatte, sagte während der kurzen Fahrt: «Der Mehr ist einer, der auch seine Grossmutter verkaufen würde.» Offenbar war der Aufseher einer, der noch nie in die Situation gekommen ist, seine Grossmutter verkaufen zu müssen. Trotzdem schien er nicht sonderlich glücklich zu sein.

Heute sagt Paul Brenzikofer, der Direktor der Strafanstalt Saxerriet, der Häftling Mehr habe sich «problemlos» gehalten, darum habe man ihm im November die Halbfreiheit gewährt. «Menschlich ist dieses Vorgehen korrekt gewesen», sagt er, «juristisch allerdings gibt es einen Vorbehalt.» Den hat die Justizdirektion des Kantons Graubünden angebracht, und zwar genau am 19. April 1996, nachdem Alois Mehr seit gut fünf Monaten ohne Unregelmässigkeiten als Chauffeur für eine Gerüstbaufirma im St. Gallischen gearbeitet hatte, und vier Tage vor der Entlassung. Der Bescheid aus Chur lautete, bei der bedingten Entlassung sei nicht nur das Verhalten während des Strafvollzugs, sondern auch die Zukunftsprognose in Rechnung zu stellen, und die sei schlecht: «Die bei Ihnen künftig zu erwartenden Lebensverhältnisse lassen im Vergleich zu vergangenen Lebensgewohnheiten keine wesentlich neuen, vor allem positiven Schlüsse zu.» In Saxerriet habe man einen Fehler gemacht, dass man dem Mehr die Halbfreiheit ohne Rücksprache mit Chur zugesprochen habe. Der Häftling sei auf den 1. Mai in den Normalvollzug zurückzuschicken. Das war Alois Mehrs 19. April: damit zurechtzukommen, statt in vier Tagen ein freier Mann zu sein, für bis zu vierzehn Monate ins Gefängnis zurückkehren zu müssen.

Du musst ein wenig mehr wollen

Alois Mehr ist ein grosser, breiter Mann. Die schwarzen Haare hat er in den Nacken gekämmt, im Schnurrbart zeigen sich erste weisse Fäden. Jahrgang 1949. Im linken Ohr trägt er einen Ring, der ein kleines Dreieck umschliesst. Dieser goldene Schmuck gehöre zu seiner Familie, sagt er, zum Bündner Zweig der jenischen Sippe Mehr. Schon als Sechsjähriger sei er hausieren gegangen, mit Knoblauch und Wäscheklammern im Dutzend, zusammen mit seinem Vater mit Stricken und Seilen den Bauernhöfen entlang: «Später habe ich als Antiquitäten- und Alteisenhändler gearbeitet, Kupfer, Aluminium, Messing, Bronze. Eingekauft, verkauft, ein wenig beim Gewicht beschissen, gut, das muss sein, das macht jeder, auch der Obsthändler auf dem Markt. Dort liegt noch etwas mehr Verdienst drin.»

Am 31. Oktober 1991 verkaufte Alois Mehr beim Bahnhof Landquart einem Mann aus Jugoslawien, der sich «Dragi» nannte, Waffen, «zwei gutaussehende Dekorationswaffen mit plombiertem Lauf und eine alte tschechische Astra», von der er nicht einmal wisse, ob es dazu noch Munition gebe. Mit dem Geld, das der Käufer geboten habe, sei zwar sein Ankauf gedeckt gewesen, «aber wie’s im Geschäftsleben ist: Du musst ein wenig mehr wollen». Nun habe der Käufer zusätzlich ein Säckchen Kokain über den Tisch geschoben. Damit sei er schnurstraks zu seinem alten Bekannten M., bei dem er sich gewöhnlich seinen Eigenbedarf an Haschisch holte und dem er schon ab und zu zugeschaut hatte, wie er Kokain für den Gassenverkauf vorbereitete: Der versteht’s, der ist in Frankreich wegen Drogengeschichten schon fünf Jahre gesessen, der muss es verstehen. M. streckte die 17 Gramm, die ihm Mehr brachte, auf 41 Gramm. Am 1. November gab Mehr insgesamt 28 Gramm an zwei Süchtige weiter, drei Gramm bleiben bei M., den Rest habe er in den Rhein geworfen, sagt Mehr, weil ihn M. als «Fusel» taxiert habe. Als die beiden belieferten Süchtigen einige Tage später von der Bündner Staatsanwaltschaft in Drogensachen einvernommen werden, nennen sie den Namen eines Dealers: Alois Mehr. Am 12. November 1991 wird er verhaftet; den Handel mit den 41 Gramm Kokain gesteht er.

Aber das genügt den Untersuchungsbehörden nicht. Diebstahl, Hausfriedensbruch, Übertretung der Verkehrsregeln und schon einmal Drogenbesitz, einer mit so einem Vorstrafenregister, der ist jetzt einmal reif, der windige Vagant. Und die Behörden haben Glück: M., der das Kokain gestreckt hat, versucht seinen Kopf zu retten, indem er seinen Kollegen belastet: Viermal in den letzten anderthalb Jahren habe ihm Mehr je exakt fünfzig Gramm Kokain angeboten. Zu beweisen ist das nicht, aber weil die Behauptung den Untersuchungsbehörden in den Kram passt, wird sie immer wahrer, je länger sie wiederholt wird, zum Beispiel beim «Konfrontverhör» in Gegenwart des Angeschuldigten. Mehr erinnert sich an diese Veranstaltung: «Immer wenn ich M. etwas erwidern wollte – denn ich wusste ja, wo ich ihn abholen konnte, ich wusste ja, was nicht wahr ist – hiess es: Sie sind ruhig. M. war für den Untersuchungsrichter relevant, ich war irrelevant.» Das Konfront-Protokoll hat 16 Statements von M. festgehalten, gerade deren zwei von Alois Mehr. Bereits am 24. März 1992 wird er vom Kantonsgericht der mehrfachen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz für schuldig erklärt und zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. «Das war speditiv», sagt Mehr in der Bibliothek von Saxerriet, «gewöhnlich geht so etwas ja sieben, acht Monate. Aber sie wollten mich aufs Exempel nehmen. Und sie haben’s getan, aber gottvergessen. Das Maximum vom Maximum, keinen Tag hinunter, drei Jahre Antrag, drei Jahre Urteil. Aus den 17 Gramm, die ich von diesem Jugoslawen genommen habe, haben sie 241 Gramm gemacht, die es nie gegeben hat.» Für den Vollzug wird Mehr in die Strafanstalt Realta überführt.

Eine Weihnachtsfeier im Obwaldnischen

Endlich findet Mehr jetzt einen Verteidiger, der bereit ist, etwas für ihn zu tun, statt, wie der erste, während der Einvernahmen lediglich als Studienkollege und Duzfreund mit dem Untersuchungsrichter zu schäkern. Rechtsanwalt Andrin Perl reicht am 12. Juni 1992 beim Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde gegen Mehrs Verurteilung ein und macht geltend, «die Beweisführung des Kantonsgerichts sei unhaltbar und daher willkürlich» gewesen. Die Ablehnung dieser Beschwerde wird Mehr im November während eines Urlaubs bekannt. «Dass möglicherweise die Beweise auch anders hätten gewürdigt werden können», genüge nicht, liest er, «um darzutun, dass die getroffenen Beweisschlüsse offensichtlich unhaltbar» seien. Beweise! Beweisschlüsse! Wo doch sonnenklar ist, dass der M., um von seiner Platzspitz-Dealerei abzulenken, ihm 200 Gramm Kokain angehängt hat. Jetzt entschliesst sich Alois Mehr, der Bündner Rechtssprechung auf die Beine zu helfen. Er entscheidet, dass er für die 17 Gramm Kokain des Jugoslawen lange genug gesessen sei und begeht «Urlaubsmissbrauch»: Er verschwindet.

Ebenfalls im November 1992 erhält Mehrs Anwalt in Chur merkwürdigen Besuch. M., der Kronzeuge der Anklage gegen Mehr, taucht auf, er müsse einiges klarstellen. Als er von der Polizei einvernommen worden sei, habe er zuvor Methadon und «Rohypnol» geschluckt. Während der tagelangen Verhöre sei er auf Entzug gekommen, gleichzeitig habe ihn die Polizei bedrängt zuzugeben, dass Mehr kein kleiner Fisch, sondern ein Grossdealer sei. Der einvernehmende Polizist habe schliesslich ein von ihm selbst unterschriebenes Geständnis abgeändert und nicht zu den Akten genommen (siehe «Beobachter» 7/1993). Der Anwalt stellt aufgrund dieser neuen Sachlage ein Revisionsgesuch ans Kantonsgericht, nach dessen Abweisung eine staatsrechtliche und eine Nichtigkeitsbeschwerde ans Bundesgericht. Auch sie werden abgewiesen.

Alois Mehr kümmert’s nicht. Genau 25 Monate und 12 Tage lässt er seinen Anwalt alleine kämpfen und bleibt verschwunden. Er lebt in Frankreich und in Deutschland und arbeitet «streng rechtlich», wie er sagt, wenn auch schwarz. Ab und zu hat er auf den Bauplätzen Glück, wenn die Polizei Kontrollen macht: Für einmal hat nicht er das Aussehen des Fremdesten, der immer drankommt. Er schaut zu, wie kosovo-albanische Schwarzarbeiter abtransportiert werden, schweigt und arbeitet weiter. Um Weihnachten 1994 zieht es ihn in die Schweiz. Er strandet im Obwaldnischen und wird für den Abend von einem alten katholischen Geistlichen eingeladen. «Als ich abends um sieben bei ihm ankam, war er nicht dort, dafür die Polizei, die mich verhaftet hat. Zuerst gab ich einen falschen Namen an, Amsler. Aber ich hatte einen Lottozettel aus dem Deutschen im Portemonnaie, so hatten sie mich wieder.» Urlaubsmissbrauch wirkt zwar nicht strafverlängernd, aber strafverschärfend schon: Vom 28. Dezember bis zum 3 Januar wurde Mehr in Realta in Bunkerhaft gehalten, dann kam er für gut vier Monate in Einzelhaft mit Videoüberwachung in den Sennhof in Chur, am 8. Mai 1995 wieder in den Normalvollzug, diesmal nach Saxerriet.

Die Rechtswege sind zum Davonlaufen

Die 200 Gramm Kokain, die man ihm angehängt hat, akzeptiert er nach wie vor nicht. Darum will Mehr jetzt auspacken. Er überwindet sein Misstrauen gegenüber der Obrigkeit, obschon er sich noch an die Zeiten erinnert, «als über vierzig Personen mit Namen Mehr unter der Pro Juventute administrativ versenkt gewesen sind». Seinem Anwalt schildert er nun M., den Kronzeugen, als einen, «der im grossen Stil mit verschiedenen Rauschmitteln, insbesondere mit Haschisch, Heroin und Kokain handle», und von dessen Eltern, die er ja seit den frühen siebziger Jahren kennt, sagt er, dass diese von den Drogengeschäften nicht nur gewusst, sondern den Sohn aktiv unterstützt hätten. Die Mutter zum Beispiel habe als bald sechzigjährige Frau in Apotheken und Drogerien der ganzen Gegend kiloweise «Mannite Saprochi», ein Abführmittel für Säuglinge, zusammengekauft, damit der Sohn die Drogen habe strecken können. Und der Vater habe ihm selber erzählt, dass er das Drogengeld, das der Bub zu Hause abliefere, für die Hypothek seines Hauses einsetze.

Mehrs Anwalt reicht nun beim Kantonsgericht ein zweites Revisionsgesuch gegen das Urteil vom März 1992 ein und nimmt darin den Kronzeugen M. nach Strich und Faden auseinander. Dann resümiert er, Mehr könne «nurmehr der Vorwurf gemacht werden, er habe ca. 41 g sehr stark gestrecktes Kokain weitervermitteln wollen […]. Die dieser Straftat effektiv angemessene Strafe hat der Gesuchsteller inzwischen zweifellos bereits verbüsst.» Am 4. Juli 1995 lehnt das Kantonsgerichtspräsidium das Gesuch ab, ohne die vorgebrachten «Beweisofferten», eine ganze Reihe von Offizialdelikten immerhin, zu überprüfen. Gegen diesen Entscheid legt Mehrs Anwalt am Bundesgericht wiederum staatsrechtliche und Nichtigkeitsbeschwerde ein. Und um die Bündner Justiz doch noch zu zwingen, aktiv zu werden, erstattet er eine Strafanzeige gegen die Familie M.

Soviel wussten wir, als wir in der Bibliothek in Saxerriet dann schliesslich über Mehrs Blutdruckprobleme redeten, die ihn im Gefängnis zu plagen begonnen hatten. Im November kam er dann wirklich in Halbgefangenschaft und begann als Chauffeur zu arbeiten. Sein Arbeitgeber war zufrieden, bot ihm einen Arbeitsvertrag als Gruppenleiter an, bis er sich wieder selbständig machen könne. Bereits war in Sevelen eine kleine Wohnung gemietet, bereits wartete dort seine langjährige deutsche Freundin, nachdem sie ihr Beizchen verkauft hatte, um frei zu werden für den Umzug in die Schweiz. Was interessierte jetzt noch, wenn aus Lausanne wieder Ablehnungen der Beschwerden eintrafen oder wenn sich die Staatsanwaltschaft Graubünden mit Brief vom 9. April 1996 weigerte, gegen die Familie M. ein Strafverfahren zu eröffnen, weil die «beanzeigten Personen» bei der polizeilichen Befragung die ihnen in der Anzeige vorgeworfenen Verfehlungen entschieden bestritten hätten und deshalb der Nachweis, dass sie sich strafbar gemacht hätten, nicht zu erbringen sei. Über eine solche Begründung konnte man ja jetzt schon wieder lachen.

Aber am 19. April hat man Alois Mehr mitgeteilt, dass er auf 1. Mai in den Normalvollzug zurückzukehren habe. Bis zum 30. April hat er seine Arbeit als Chauffeur gemacht. Dann hat er der Bündner Rechtssprechung zum zweiten Mal auf die Beine geholfen.

Viel Glück, Alois Mehr.

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