Ein aufrechtes Leben

Für Suti, der in seiner Galerie dreissig ihrer Arbeiten zeigt, ist Esther Altdorfer «eine eigen-quere Person» gewesen, «nirgends angepasst, eine eigenwillige, brüskierende Künstlerin», die im Gegensatz zur «beachteten Künstlerin» Meret Oppenheim, mit der sie eine Hassliebe verbunden habe, lange Zeit «karrieremässig nicht vom Fleck gekommen» sei: «Sie hat gemacht, was sie machen musste, schubartig. Wenn in ihr etwas abging, konnte sie in ihrer Mansarde unter dem Dach an der Gerechtigkeitsgasse nächtelang malen, ohne Staffelei, auf dem Fussboden kniend.» Viele Arbeiten hat sie bei späterer Durchsicht als nicht geglückt taxiert und zerstört. Ihr Oevre, etwa 330 Arbeiten aus 28 Jahren, hat sie 1985 in einigen grossen Zeichnungsmappen dem Galeristen Suti zur Verwahrung übergeben.

Viele sind Esther Altdorfer in Bern begegnet, in den Beizen, auf der Gasse. Viele erinnern sich an Gespräche mit ihr, die oft brennende Monologe waren; an die Geschichten und Argumente, die einer eigenen Logik folgten, plötzlich aufblitzend in brillanten Einsichten; an das Beängstigende, das ihre bedingungslose Präsenz, Fremdheit und Wahrhaftigkeit ausstrahlten; an ihre Ausbrüche und Abstürze. Nach einem Marokko-Aufenthalt 1972 wurde Esther Altdorfer von der Drehtüren-Psychiatrie erfasst. Der Zeitgeist «zwischen Psychedelik und Punk, zwischen Glamour und Trash» (Sandro Fischli), den sie in seltener Authentizität verkörperte, war seither diagnostisch abgetan: Schizophrenie. Seit einem Waldau-Aufenthalt 1985 schluckte sie regelmässig Medikamente. Das habe ihr, so Suti, zwar eine gewisse Ruhe gebracht, aber «die Psychopharmaka haben ihre Kreativität getötet».

In der Galerie «c/o Suti» sind mehrere Werkgruppen von Gemälden aus den Jahren 1975 bis zu ihrem Tod zu sehen: Selbstporträtartige Figuren im «Zwielicht» (so der Schriftzug in einem Bild), die Auseinandersetzung mit dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan, die späteren Pferdedarstellungen, die auf die schwärmerische Bewunderung Altdorfers für Person und Arbeit der Dressurreiterin Christine Stückelberger zurückgehen.

Eine Übersicht über alle Schaffensperioden gibt die gleichzeitige Einzelausstellung von Esther Altdorfers Werk im Berner Kunstmuseum: Zeichnungen, Aquarelle, Gouachen, Collagen, Objekte. Für die Künstlerin Suzanne Baumann, die Altdorfer seit den frühen sechziger Jahren gekannt hat, sind diese Arbeiten ein «Testament und ein Gesamtkunstwerk, das man nicht abtrennen kann von der Person». Ähnlich Josef Helfenstein, der die Ausstellung im Kunstmuseum zusammengestellt hat: «In diesem Werk liessen sich zwar herausragende Arbeiten und Werkgruppen isolieren. Was aber aufs Ganze dominiert, ist die ‘Fieberkurve’ des Erlebten und der Eindruck des ästhetisch Unbeschönigten.»

Wenn Suti von der Berner Kunstszene der «wilden sechziger Jahre» erzählt, dann erzählt er von einem untergegangenen Bern: die intensive Vernetzung der Kunstszene, die schillernden Persönlichkeiten, die abendlichen Debatten im Treffpunkt «Commerce», die durchfeierten Nächte, die Experimente mit allen möglichen und unmöglichen Drogen, die ausgedehnten Reisen, das provisorische Von-der-Hand-in-den-Mund-Leben, der avantgardistische Versuch, Kunst und Leben zusammenzubringen. Im Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum schreibt Helfenstein: «Esther Altdorfer gehörte zu einer Generation von Künstlern, die in den sechziger Jahren durch die radikale Infragestellung des gesellschaftlichen Kontextes – nicht nur was Norm und Verhaltensweisen, sondern auch, was die Funktion der Kunst betraf – geprägt wurden.»

Mittlerweile ist in Bern alles wieder viel normaler geworden: Die Künstlerin liegt in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Bremgarten-Friedhof, und «ihre Bilder aus dem beschädigten Leben» (Helfenstein) werden in diskreten Wechselrahmen zum Kauf angeboten. So in den Winkel gebracht und hinter Glas geklemmt sehen diese bedrohlich ehrlichen Ungebärdigkeiten doch ganz dekorativ aus. Auch die Preise sind normal. (Altdorfer selber hat wenig verkauft, unter anderem deshalb, weil sie befürchtete, man streiche ihr dann ihre kleine IV-Rente.)

Während der Recherche an diesem Bericht habe ich Ende Juni 1989 ein Gedicht über Esther Altdorfer geschrieben, dessen fünf Strophen im Innern vom Altdorfer-Wort «seltsammeln» zusammenhalten werden: «altdorfer / seltsammeln». Erneut auf Esther Altdorfer gestossen bin ich im Gespräch mit der Künstlerin Lilly Keller; vgl. Fredi Lerch: Lilly Keller Künstlerin, St. Gallen (Vexer Verlag) 2015, S. 26 ff.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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