Ein Anarchist, der bis zuletzt kämpfte

Diesmal hat er es nicht mehr geschafft. Am 5. Juni schrieb er noch: «Am Montag benötige ich Physio, weil ich wegen meinem ‘pilek’ (Schnupfen) fast am Ersticken bin…» In der Nacht auf den 7. Juni ist er mit einer Lungenentzündung ins Surya Husadha-Spital von Denpasar, der Hauptstadt Balis, eingeliefert worden. Am 8., seinem 58. Geburtstag, habe er noch einmal kurz die Augen geöffnet. Am Vormittag des 9. Juni ist Christoph Eggli gestorben.

Streitbarer Kunstmaler

«Die Zärtlichkeit des Sonntagsbratens» (Zytglogge 1986) ist ein Buch, das drei Geschwister gemeinsam verfasst haben: Christoph Eggli zusammen mit Ursula (1944-2008) und Daniel (1946-2001). Es berichtet über die Familie Eggli in Dachsen (ZH), in der die drei aufgewachsen sind, Ursula und Christoph durch progressive Muskeldystrophie behindert.

Alle drei haben sich später einen Namen gemacht: Daniel als Publizist und Gründer der Gastrozeitschift «Salz und Pfeffer»; Ursula als Schriftstellerin, die der politisch radikalen Behindertenbewegung der siebziger und achtziger Jahre eine Stimme gab; und Christoph, der Kunstmaler wurde. Als ihm Anfang der neunziger Jahre die Krankheit das Weiterarbeiten unmöglich machte, schenkte er sein bilderisches Werk dem «Museum im Lagerhaus» in St. Gallen. Immer mehr war er jetzt auf seinen «technischen Butler James» angewiesen – ein durch Blasen oder Saugen des Munds gesteuertes Gerät, mit dem er Türen öffnete oder das Telefon abnahm.

Als die WoZ Anfang 1984 ein Dossier über aktive Sterbehilfe plante, arbeitete Christoph Eggli mit. Er schrieb einen historisch fundierten Aufsatz mit dem Titel: «Ich wäre ein Nazi-Opfer». Während der Arbeit schickte er der Redaktion zum Thema einen Bericht über eine gelähmte Frau, die für ihr Recht kämpfte, beim Suizid unterstützt zu werden. Sein Kommentar: «Das Verrückte ist, dass solche ‘Beispiele’ gerade bei linken und Anarchokreisen einhängen, welche ein ‘Recht auf den Freitod’ postulieren. Ein solches Recht ist aber in einer nicht anarchistischen Gesellschaft ein Bumerang, meine ich als denkender Anarchist.»

Eggli hatte ein Flair für Politisch-Philosophisches und er dachte kompromisslos: Aus ideologischen Gründen überwarf er sich auch mit solchen, die ihm halfen, den Alltag zu bewältigen. Ursula Eggli hat geschrieben: «Der mutige Kläffer Christoph, der alle verärgert, der alle angreift, der alle kritisiert, die um ihn herum leben, auch wenn er für jede Handreichung von ihnen abhängig ist.» Für ihn war der Kampf um Autonomie – für ein unbeengtes Leben und eine unbehinderte Sexualität – nicht verhandelbar.

Adi Putras Villa Christoph

In den neunziger Jahren lebte Eggli in Wohnungen des Zürcher Vereins für «Integriertes Wohnen für Behinderte». Obschon das selbstbestimmte Wohnen dort unterstützt wird, fühlte er sich aber von Regelungen und Vorgaben immer mehr eingeengt.

Als er am 25. Mai 2000 nach Bali auswanderte, tat er es als «Sozialflüchtling des Schweizer Invalidenheims». Dass ihm – eine hirnlose gesetzliche Schikane – als Geburtsbehindertem die IV nicht ins Ausland überwiesen wurde, bremste ihn nicht. Der Dokumentarfilm «Villa Christoph» von Gabrielle Antosiewicz (2002) zeigt, wie schnell er sich auf Bali eingelebt hat.

Im Dezember 2003 besucht ihn Ursula Eggli: «Er hat ein hübsches Haus, das er mit einer Rampe elektrorollstuhlzugänglich machen liess. Er organisiert sich mit drei männlichen Assistenten und Ida, einer ehemaligen Prostituierten, die dort als seine Frau gilt.» Damit sie tatsächlich als seine Frau galt, konvertierte er zum Islam. Seine Weblog-Einträge[1] zeichnete er seither mit «Muhammad Adi Putra (Christoph Eggli)». 

Sein letzter Kampf galt den 6000 Franken, die er von seiner 2008 verstorbenen Schwester Ursula geerbt hat. Sie sollten Idas Sohn, dessen sozialer Vater er geworden war, für die Ausbildung zukommen. So wie es aussieht, verhindern das Egglis langjährigste Feinde, die «Pappnasen der Schweizer Bürokratie». Das Geld gilt ihnen als Einkommen und geht deshalb voraussichtlich an die «Sozialhilfe für AuslandschweizerInnen», die ihn in den letzten zehn Jahren unterstützt hat.

Als Quelle für diesen Nachruf verwendete ich unter anderem Egglis Website Christoph-in-bali.ch/weblog. Sie ist nicht mehr aufgeschaltet. [fl., 12.3.2013]

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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