Duldung ist nicht Asyl

Seit dem 9. März duldet der Kirchenkreis Köniz – befristet bis Ende März – eine Gruppe von «Sans-Papiers» im Schlossgebäude. Beim Entscheid der Kirchenkreiskommission hat, so die Medienmitteilung, «die Solidarität mit anderen Kirchgemeinden, welche die Besetzung bereits duldeten, und Jesu Wort ‘Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan’» eine wichtige Rolle gespielt. Köniz ist – nach der katholischen Marienkirche, der Pauluskirche, der reformierten Kirche Bethlehem und der Johanneskirche – die fünfte Station des Berner Sans-Papiers-Kollektivs.

Zehn Tage zuvor, am 27. Februar, hatte die Kantonspolizei die Gruppe mit einer Razzia aus der Johanneskirche vertrieben. «Mit diesem brachialen Akt», schreibt die «Gesamtschweizerische Koordination der Sans-Papiers-Kollektive» in einem Offenen Brief an die kantonalbernische Polizeidirektorin Dora Andres, habe sich die Polizei «über die Jahrhunderte alte Tradition des Kirchenasyls» hinweggesetzt und damit einen «Tabubruch» begangen.

Zwar wird die Razzia auch vom Diakonatskapitel der Reformierten Kirchen Bern-Jura als «schockierendes historisches Ereignis» interpretiert, weil sie «die Auflösung eines ungeschriebenen, sozialethischen Vertrages zwischen Kirche und Staat» bedeute. Der Leiter der Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura, der Theologe Benz H. R. Schär, andererseits bestreitet, dass die «Duldungen» der Kirchgemeinden, die das Sans-Papiers-Kollektiv als «Besetzungen» bezeichnet, überhaupt als «Kirchenasyle» interpretiert werden können: Dazu brauchte es eine viel aktivere Rolle der Kirchgemeinden. Nicht die Kirchenmauern schützten ja die Schutzsuchenden, sondern die Solidarität informierter Kirchgemeinden. Dazu komme, dass ein Schutz der Sans-Papiers vor dem Zugriff der Polizei, anders als bei früheren Kirchenasylen für an Leib und Leben bedrohte Kriegsflüchtlinge, juristisch und ethisch kaum als Notstand gerechtfertigt werden könnte.

Enger Spielraum

Für die Kirchgemeinden, die einen Ausgleich finden müssen zwischen der radikal-humanistischen Forderung «Kein Mensch ist illegal» und dem realpolitisch Möglichen, wird der Handlungsspielraum zusehends enger. Sowohl der Kirchgemeinderat Johannes als auch der Kirchenkreis Köniz haben sich in ihren Stellungnahmen deshalb explizit von der Forderung der so genannten «kollektiven Regularisierung» des Sans-Papiers-Kollektivs distanziert. Andreas Lanz, Kirchgemeinderatspräsident in Köniz, sagt, zur Zeit höre er einerseits den Vorwurf des Halbherzigkeit von Leuten, die mehr kirchliches Engagement forderten, andererseits habe es in den letzten Tagen Kirchenaustritte gegeben wegen des Duldungsentscheids. Eine Informationsveranstaltung zum Thema werde zwar diskutiert, aber sie sei sicher erst nach dem Abzug der Sans-Papiers möglich.

Überzeugungsarbeit zu leisten, die die Kirchgemeinden für verstärktes Engagement einnehmen würde, ist unter dem Zeitdruck der Besetzungsaktionen nicht möglich. Darum wird das Kirchenvolk von seinen gewählten Gremien immer wieder vor faits accomplis gestellt.

An diesem Punkt kritisiert Schär die Sans-Papiers-AktivstInnen: Ihnen dürfte es nicht genügen, von den Kirchgemeinden geduldet zu werden. Die Sans-Papieres müssten bereit sein, den Gemeinden jene Autonomie einzuräumen, die für eine selbstverantwortete Solidarität nötig ist. Sonst lebten sie in den Kirchgemeinden immer mehr «exterritorial».

Wie weiter?

Die Sans-Papiers-Bewegung ihrerseits sieht sich weiterhin im Dienst einer utopischen Menschlichkeit, die sie auch in Zukunft mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen ins Gespräch bringen will. Am 12. März zum Beispiel besetzte sie auf dem Flughafenareal in Bern-Belp symbolisch die Büroräumlichkeiten der Sky Work-Airline, weil diese, so das Kollektiv in einem Communiqué, im Auftrag des Bundesamts für Flüchtlinge «menschenverachtende und mörderische Ausschaffungen» durchführe. Bei dieser Gelegenheit forderte sie erneut die kollektive Regularisierung der Sans-Papiers – darüberhinaus den freien Personenverkehr, einen sofortigen Ausschaffungsstopp und «die Aufwertung der Lebens- und Arbeitsbedingungen aller».

Es ist wahr: Kein Mensch ist illegal, und allen soll es immer besser gehen. Aber diese Parole allein verändert noch nichts.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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