Druckprobe für Stifte

Wenns knallt, ist ein kleiner Gaseinschluss explodiert. Dann sprühen flüssige Metalltröpfchen als Funkenregen über den Arbeitstisch. Der Knall lässt den Jugendlichen unwillkürlich zurückschrecken: Nach sechs Wochen Lehre ist man noch kein Routinier. Dann beugt er sich wieder vor, breitbeinig, die grosse, dunkle Brille vor dem Gesicht, die linke Hand führt den Schweissdraht, die rechte den Schweissbrenner. Eben erst hat er gelernt: Aus den beiden Schläuchen am Griff des Brenners strömt ein Sauerstoff-Azetylen-Gemisch. Die kleine Flamme, die die Metallplättchen auf dem Schraubstock innert Sekunden zum Glühen bringt, hat im Zentrum 3200 Grad Celsius. Respektvoll packt er mit der Zange die zwei zusammengeschweissten Plättchen und lässt sie im Wasserkübel unter dem Tisch aufzischen.

«Smuv-Info» heisst der Faltprospekt, den Ernst Biedermann meist kommentarlos neben die konzentriert arbeitenden Heizungsmonteurstifte legt, blickt einer zu ihm herüber, wechselt er ein paar Worte. Man kennt ihn hier bereits: Er ist wie ein älterer Kollege, kann auch beim Schweissen einen Tipp geben, macht Mitgliederwerbung für die Gewerkschaft und sagt: «Du hast das Recht, Nein zu sagen. Aber du hast auch das Recht, Ja zu sagen.»

Berufe mit Imageproblemen

Hätte die SBB das «Näherbaurecht» an die Geleise nicht gewährt, wäre der Neubau noch etwas schmaler ausgefallen. Das Einführungskurszentrum für Spengler, Sanitär- und Heizungsmonteure steht haargenau eingepasst zwischen den Bahngeleisen, die von Bern nach Zollikofen führen, und der Strasse hinüber nach Ittigen. Offiziell eröffnet worden ist es am 22. August, mit Bundessubventionen erbaut vom SSIV, dem Schweizerischen Spenglermeister- und Installateur-Verband, dessen Berufsbildungskommission auch bestimmt, wie die Ausbildung der schweizweit 3300 Lehrlinge in den SSIV-Betrieben auszusehen hat.

Der Präsident dieser Berufsbildungskommission, der Thuner Spenglermeister Hugo Walser, hat in einem Interview letzthin gesagt: «Wir können nicht verschweigen, dass wir vorab bei der Besetzung von Lehrstellen Probleme haben. Wir haben nicht genug und nicht die besten Leute.» 

Kurt Stählin, Kursleiter der Spengler in Zollikofen, sagt: Die Berufe, die man hier lerne, seien für viele keine «Wunschberufe». Das sehe man daran, dass sich die jetzt angelaufenen Kurse erst in den letzten Wochen gefüllt hätten. Nicht selten kämen Jugendliche hierher, weil man halt irgendeine Lehre machen müsse. Es gebe welche, die gleich zu Beginn sagten: Ich brauche den Lehrabschluss, weil ich danach zur Polizei will. 

Das gibt Probleme mit der Motivation und der Disziplin. Im Bereich von Ordnung und Pünktlichkeit wird in Zollikofen zurzeit eine härtere Linie durchgesetzt. Stählin, Kursleiter seit vierzehn Jahren, beobachtet, dass das durchschnittliche Schulniveau der Stifte kontinuierlich sinkt. Es hapere vor allem beim Rechnen und beim Vorstellungsvermögen: an der Fähigkeit, aus den Plänen ein praktikables Arbeitsvorgehen herauslesen zu können. 

Walter Freymond, Kursleiter bei den SanitärmonteurInnen, bestätigt: «Wer die Schule nicht schafft, schafft nach meiner Erfahrung auch die praktischen Anforderungen nicht.» Wer sich die Lösung der gestellten Aufgabe nicht vorstellen könne, der beginne zwar überall ein bisschen, werde aber nicht fertig, weil er nicht zielgerichtet arbeiten könne.

Gewerkschafter fallen nicht vom Himmel

Pause. Im zweiten Stock ist ein Aufenthaltsraum mit Flachdachterrasse. Wenn, wie heute, die Sonne scheint, ist die Tür offen. Fährt draussen ein Güterzug vorbei, versteht man das eigene Wort nicht mehr. An einem Sechsertisch unter rauchenden Männern sitzt die einzige Frau, die heute hier einen Kurs besucht: eine angehende Sanitärmonteurin. Vor dem Getränkeautomaten stauen sich in blauen Überhosen die Stifte. Einer sagt: Doch, er habe auch schon einmal von diesem Smuv gehört, sein Vater habe einmal etwas davon erzählt: «Das ist wohl schon eine gute Sache», vermutet er. In seinem Kurs habe man aber noch nicht darüber diskutiert, ob man beitreten solle.

Ernst Biedermann trinkt einen Kaffee und schätzt, dass vielleicht zwei von hundert Jugendlichen im ersten Lehrjahr bereits gewerkschaftlich denken – gewöhnlich hätten die schon im Elternhaus mitbekommen, wozu Gewerkschaften da seien. «Und vielleicht einer von tausend», fügt er bei, «könnten sagen, was es mit dem neuen Berufsbildungsgesetz oder der Lehrstelleninitiative auf sich hat.» Er werbe hier nicht «Gewerkschafter», sondern «Mitglieder». Gewerkschafter werde man erst mit der Zeit, indem man sich zu interessieren beginne; Mitglied sei man bereits, wenn man einsehe, dass Gewerkschaftsarbeit sinnvoll sei und man sie deshalb unterstützen müsse. Biedermann ist zufrieden. In der Brusttasche trägt er die drei Beitrittserklärungen, die ihm heute Vormittag zugesteckt worden sind.

Doppelt gebogene Kupferrohre

An der Lehrabschlussprüfung der SanitärmonteurInnen wird es in knapp drei Jahren um «Ausführung», «Sauberkeit», «Vollständigkeit» und «Massgenauigkeit» gehen und bei der «Druckprobe» der Installation darum, dass die Schweissnähte nicht zu tropfen beginnen. Jetzt geht es darum, zum ersten Mal in ein schmales Kupferrohr zwei rechte Winkel zu biegen, ohne dass das Metall auf der Aussenseite reisst oder auf der Innenseite wellt. Bei der Massgenauigkeit, sagt Freymond, habe es bei der Lehrabschlussprüfung des letzten Jahrgangs im Durchschnitt eine 3,9 abgesetzt: «Das kann es ja wohl nicht sein.» Allerdings habe es auch einen Lehrling gegeben, der mit der Gesamtnote von 5,6 abgeschlossen habe.

Freymond wird von einem Lehrling unterbrochen, der ihm sein doppelt gebogenes Kupferrohr hinstreckt. «Saubere Arbeit, aber sicher nicht nach der Vorgabe», sagt Freymond lächelnd, ohne nachzumessen. Der Stift, verunsichert, zückt den Klappmeter aus der Aussentasche der Überhose, nimmt, wie er es gelernt hat, noch einmal das «Mitte-Mitte-Mass», flucht: fünf Zentimeter daneben.

Verteilt auf die ganze Ausbildung absolvieren hier Spengler und Sanitärmonteure vier, Heizungsmonteure fünf Kurse. Was jetzt stattfindet, ist der zweiwöchige Grundkurs, der die Spengler in das ganze Berufsfeld einführen soll. Der zweite Kurs in einem knappen Jahr wird eine Woche dauern und dem Schweissen gewidmet sein. Im dritten, wieder zweiwöchigen Kurs, wird nach zwei Jahren zuerst repetiert, danach – als Hauptprobe zur Lehrabschlussprüfung – selbständig ein grösserer Auftrag erledigt. Der einwöchige vierte Kurs ist dem Bau von Blech- und Doppelfalzdächern und der Folienverarbeitung bei Flachdächern gewidmet.

Um die Mittagszeit sind die meisten Stifte in Zollikofen unterwegs, kaufen sich im Denner oder im Coop ein Picknick. Einer bleibt allein im Aufenthaltsraum zurück, hängt in einem Stuhl, die Beine auf dem nächsten, Kopfhörer um die Ohren, träumend, sehr jung. Bis vor den Sommerferien war er irgendwo Neuntklässler, jetzt Erstlehrjahrstift mit einem Monatslohn von knapp 500 Franken, die Sechsfahrtenkarte für seine Anreise mit dem Postauto bis Oberdiessbach und von dort mit der Eisenbahn via Bern hierher kostet gut 50 Franken. Dafür sitzt er diese Woche vier Tage in diesem Zentrum und einen Tag in der Gewerbeschule. Noch ist es schwierig, den Ernst des Lebens erwachsenenmässig ernst zu nehmen. Sauerstoff-Azetylen-Gemisch – Doppelfalzdach – Berufsbildungsgesetz: Als ob nicht noch ganz anderes vorstellbar wäre.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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