Die Zeit der Almosen und Gnadenakte ist vorbei

«Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich», heisst es im ersten Absatz des Artikels 4 der Bundesverfassung. «Mann und Frau sind gleichberechtigt», steht im zweiten. Die Bieler FDP-Nationalrat Marc F. Suter, selber auf den Rollstuhl angewiesen, regt mit seiner parlamentarischen Initiative einen dritten Absatz an mit dem Wortlaut: «Keine Person darf wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden. Das Gesetz sorgt für die Gleichstellung der Behinderten vor allem in Schule, Ausbildung und Arbeit, Verkehr und Kommunikation; es sieht Massnahmen zum Ausgleich oder zur Beseitigung bestehender Benachteiligungen vor. Der Zugang zu Bauten und Anlagen sowie die Inanspruchnahme von Einrichtungen, die für die Öffentlichkeit bestimmt sind, ist gewährleistet.»

An einer Pressekonferenz in Bern warnte Suter am Dienstag vor finanziellen Hoffnungen. Der «Spielraum für kostenträchtige Neuerungen» sei eng geworden. Für die nächste Zeit müsse die Lösung sein: «Bewahrung des Erreichten». Seine Initiative zielt denn auch weniger auf das Quantitative, die Sozialversicherungsleistungen, als vielmehr auf eine qualitativ neue Betrachtung der Behindertenpolitik. Behinderte Menschen sollen nicht mehr als BittstellerInnen, sondern als ernstzunehmende Interessensgruppe auftreten können. Dazu brauchen sie ein Diskriminierungsverbot und ein Gleichstellungsgebot, das heisst vor allem: wirksame, einklagbare Rechte.

Von einem «Paradigmenwechsel» sprach bei gleicher Gelegenheit in Bern auch die behinderte Aiha Zemp, politische Aktivistin und Autorin: «Menschen mit einer Behinderung wollen nicht länger als fremdbestimmte Objekte der ‘sozialen Fürsorge’ auf Almosen und Gnadenakte angewiesen sein. Sie verstehen sich als sich selbst bestimmende Subjekte, die ihre rechtliche Gleichstellung einfordern, sie verstehen sich als Bürgerinnen und Bürger mit den gleichen Menschenrechten.» 

In der Schweiz leben heute über 500'000 Menschen mit einer Behinderung. 160'000 von ihnen sind geistig behindert. 154'000 (von denen 42'600 als psychisch behindert gelten) leben von einer IV-Rente. So mannigfaltig die Behinderungen, so vielfältig sind heute die Diskriminierungen, die den Alltag von Behinderten so sehr bestimmen, «dass sie fast schon zum Leben gehören», wie Claudia Babst, Zentralsekretärin von «insieme», der Schweizerischen Vereinigung der Elternvereine für geistig Behinderte, festhielt. 

Diskriminierung bedeutet heute konkret: Im Sozialversicherungsrecht wird psychische Behinderung nach wie vor sachlich falsch unter geistige Gesundheitsschäden subsummiert. Im Kanton Waadt ist Blinden einerseits die Ausbildung zum Lehrer oder zur Lehrerin verwehrt, andererseits dürfen an Blindenschulen nur Personen mit anerkanntem Lehrdiplom unterrichten. Unmöglich ist deshalb das Sinnvollste: dass Blinde Blinde unterrichten können. Für Gehörlose diskriminierend ist die Tatsache, dass sie keine Tarifreduktionen erhalten, obschon die Kommunikation mit Schreibtelefonen drei- bis fünfmal länger dauert als mit akustischen etc.

Mit Suters parlamentarischer Initiative sollen all diese Alltagsbenachteiligungen nun dadurch angegangen werden, dass über die Bundesverfassung die Gleichstellung angegriffen wird, die nach wie vor geneigt ist, die Benachteiligungen als normal und die Benachteiligten als abnormal einzuschätzen. Entstanden ist Suters Vorstoss in Zusammenarbeit mit Fachleuten der DOK, der «Dachorganisation der privaten Behindertenhilfe», die als Lobbystruktur der massgeblichen schweizerischen Behindertenorganisationen und Gesundheitsligen funktioniert. Während die Initiative nun auf den Weg durch die parlamentarischen Instanzen geschickt wird, sitzen DOK-JuristInnen bereits hinter der Frage, welche gesetzmässigen Auswirkungen die Verfassungsänderung im einzelnen haben müsste.

In der neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 gibt es im Artikel 8 mit dem Titel «Rechtsgleichheit» einen Absatz 4, in dem es heisst: «Das Gesetz sieht Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vor.»

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