Die verkaufte Avantgarde

Bolschewik ist plötzlich chic. Im Zeichen von «Perestroika» und «Glasnost» dürfen sich einige clevere Sammler und einige kunstbeflissene Steinreiche des freien Westens brüsten, im Reich des Bösen die vom sozialistischen Realismus jahrzehntelang verdrängte inoffizielle sowjetische Kunst endgültig entdeckt zu haben. Neben Baron Thyssen in Lugano, dem Londoner Auktionshaus Sotheby’s in Zürich, der «Art» in Basel hat sich auch das Berner Kunstmuseum in ihren Dienst gestellt: Die Kunst des Widerstrands und der Avantgarde wird umgepolt zur «Kunst am Umbau» der sowjetischen Verhältnisse.

«Die russischen Konstruktivisten mussten erkennen, dass die kapitalistische Gesellschaft in der Lage war, ihre Produkte unter das Gesetz der Ware zu stellen und so ihnen ihre Wahrheit abzukaufen.» (Hans-Peter Riese, anlässlich der Bochumer Ausstellung über unabhängige Kunst aus der Sowjetunion, 1979)

«Die Gefahr, dass man der herrschenden Ideologie erliegt, besteht immer.» (Erik Bulatow, anlässlich seiner Einzelausstellung in Zürich, 1988)

Kurz nach 17 Uhr ist Hans Christoph von Tavel, Direktor des Kunstmuseums Bern, letzten Freitag im grossen Ausstellungssaal seines Hauses ans Rednerpult getreten und hat zur ausgedehnten Begrüssungsfloskel angesetzt: Herr Bundesrat, Frau Botschafterin undsoweiter. In der Tat: Von der Ehrenpatronin der Veranstaltung, Ihrer Exzellenz Zoya Nowoschilowa, Botschafterin der UdSSR in der Schweiz, und Bundesrat Flavio Cotti bis hinunter zum unverwüstlich durch die Reihen strahlenden Berner Polizeidirektor Marco Albisetti sass alles, was Rang und Namen aufweisen konnte, auf den Stühlen. Die Kunstbeflissenen bildeten, dichtgedrängt stehend, im hinteren Teil des Raumes die akkurate Kulisse. Schon trat Co-Ehrenpatron der zu eröffnenden Ausstellung, Alfred Defago, Direktor des Bundesamtes für Kulturpflege, ans Rednerpult und rief stracks die richtigen Worte aus: «Diese Ausstellung wird Geschichte machen.» Sie sei «kulturpolitisch» von grösster Bedeutung, denn zum ersten Mal könnten die inoffiziellen Moskauer Künstler hier gezeigt werden, denen es gelungen sei, «das Interesse des Westens zu erringen». Darum nötige Glasnost und Perestroika «jedem, wo er politisch auch steht, zumindest Respekt ab». Im Zeichen der neuen politischen Entwicklungen sei «ein kultureller Wettstreit zwischen der Schweiz und der Sowjetunion sehr zu begrüssen». Die Ausstellung sei eröffnet. Die Botschafterin hat nichts gesagt.

Das Ausstellungskonzept

In seinem Aufsatz «Die Moskauer Avantgarde aus der Sicht des Jahres 1988», der den informativen Ausstellungskatalog einleitet, unterscheidet Jewgenij Barabanow drei Phasen, die in der Berner Ausstellung dokumentiert würden:

• Die «Proto-Avantgarde» der fünfziger und sechziger Jahre: Hierzu rechnet er sowohl die Weiterentwicklung der historischen, konstruktivistischen Avantgarde von 1910 bis 1920 (Wladimin Nemuchin) als auch Tendenzen, die der eigenen Gefühlswelt, religiösem Schaffen oder der Volkskunst verpflichtet sind (Dimitrij Krasnopewzew, Michail Schwarzman);

• die Avantgarde der siebziger Jahre, die den sozialistischen Realismus und die offizielle Propaganda im sowjetischen Alltag in ihren Bildern ironisch analysiert. Hierzu zählt Barabanow unter anderen die im Westen bekanntesten Künstler Erik Bulatow (Einzelausstellung in Zürich, 1988) und Ilia Kabakow (Einzelausstellung in Bern, 1986);

• die «Post-Avantgarde» der achtziger Jahre, deren kaum dreissigjährige Vertreter Boris Orlow, Wadim Sacharow und Kostja Swesdotschotow einem wilden Pluralismus verpflichtet sind. Ihre «heitere Après-nous-le-déluge-Haltung» sei mit «hiesigen postmodernen Alles-ist-erlaubt-Allüren» vergleichbar (Tages-Anzeiger Magazin Nr. 23/1988).

Im Vorwort zum Katalog betont von Tavel, die Auswahl der Künstler sei «ausschliesslich und subjektiv» durch ihn getroffen worden: «Es geht mir darum, meinen Einblick in die verschiedenen Generationen der Moskauer Avantgarde in den 1980er Jahren wiederzugeben.» Leider habe sich, ergänzt er, «nur eine überzeugende Künstlerin finden lassen» (Berner Zeitung, 9.6.1988). Irina Nachowa ist in Bern mit drei grossformatigen Tableaux vertreten, zwei von ihnen zeigen mit Gerüstbalken strukturierte Räume, das dritte Figuren in spielkartenartigen Rechtecklein, die über eine weite hellblaue Fläche verstreut sind.

Bildbetrachtung I

Das Bild, das der Berner Ausstellung den Namen gibt, stammt von Erik Bulatow. Das zwei mal zwei Meter grosse Ölbild zeigt den Ausblick aus Bulatows Moskauer Atelierfenster ins grelle Sonnenlicht. Von links flieht über dieses Strassenpanorama ein kyrillischer Schriftzug entlang der Diagonalen des quadratischen Formats ins Bildzentrum. Auf der andern Seite tritt ein zweiter analog aus dem Zentrum an den rechten Rand zurück. Die beiden Schriftzüge bedeuten: «Ich lebe – ich sehe». Neben dem Bild steht auf einem Informationstäfelchen diskret: «Privatbesitz Bern».

Das Bild gehört dem in Bern wohnhaften ehemaligen Direktor des Bundesamtes für Aussenwirtschaft, Paul Jolles. Schon vor zehn Jahren hat er sich während offizieller Missionen in Moskau heimlich von Atelier zu Atelier reichen lassen: «Ich durfte ja nicht riskieren, dass mein Interesse an der inoffiziellen Kunst den Absatz von Schweizer Werkzeugmaschinen beeinträchtigte», hat er sich im letzten Winter erinnert (Schweizer Illustrierte, Nr. 3/1988). Während er den Russkis Werkzeugmaschinen andrehte, befreundete er sich mit Leuten wie Bulatow und Kabakow und kaufte ihnen ihre Bilder ab. Dafür dürfen die beiden nun bei ihm wohnen, wenn sie in der Schweiz sind, zum Beispiel wenn Bulatow anfangs 1988 an die Ausstellung seiner Bilder kommt, die die Kunsthistorikerin Claudia Jolles als Gastkuratorin in der Zürcher Kunsthalle organisiert, sich dergestalt mit Papis Moskauer Freunden eine Karriere bastelnd.

Zugreifen, Herrschaften!

Im Zeichen des «Umbaus» geht es heute nicht mehr bloss um Werkzeugmaschinenverkäufe, heute sind in grossem Massstab «Joint Ventures» angesagt, sowjetische Unternehmen mit sozialistischen und kapitalistischen Partnern. Dazu braucht es im Westen ein investitionsfreudiges Klima, also sowjetische Imagepflege. Dazu wiederum eignet sich in idealer Weise der Export nicht offizieller Kulturgüter, was den West-Investoren mit ihrem Menschenrechtsfimmel die neue Toleranz der alten Herrschaft beweist.

Erst recht rosig würden die Aussichten, wenn die Helgen im Ausland gleich verkitscht würden. Dann verschwände die einheimische nicht vereinnahmte Kunst auf Nimmerwiedersehen in den privaten und öffentlichen Sammlungen des Westens, und niemand – die Künstler am wenigsten – dürfte sich beklagen, dass die Kunst dort, wo sie gezeigt werden müsste, nie zu sehen sein wird: in Moskau, wo sie entstanden ist und auf eine bestimmte gesellschaftliche Situation reagiert hat. Der Verkauf der Bilder war deshalb folgerichtig die Bedingung, die die sowjetischen Behörden an die Ausführung der Arbeiten geknüpft haben. Der Verkauf der Bilder in Bern sei überhaupt kein Problem, sagt ein Insider: Der ausgetrocknete europäische und amerikanische Kunstmarkt lechze nach ihnen. Nach Moskau zurück kommt also von den 44 ausgeführten Exponaten keines mehr. Zurück kommen (laut Preisliste) 380000 Schweizer Franken.

Die Berner alt Gemeinderätin Ruth Geiser-Imobersteg zum Beispiel war an der Vernissage «auf der Suche nach einem nicht allzugrossen und nicht allzuteuren Kunstwerk ‘als Andenken an diesen historischen Moment’» (Berner Zeitung, 11.6.1988). Die WoZ empfiehlt ihr den Kauf einer Arbeit von Irina Nachowa: «Wand No. 1» und «Wand No. 2» sind für je 14000.- zu haben, Formula für 18000.-. Für lumpige 46000.- ist alles zu haben, was uns diese Nachowa zu bieten hat. Hereinspaziert! Zugreifen! (Der Katalog dokumentiert ein Interview mit der Künstlerin: «Vor kurzem erst ist etwas in mir entzweigegangen, als ich eingewilligt habe, meine Bilder zu verkaufen. Ich habe sie prinzipiell nie verkauft. Gar nie. Weil ich dachte – und auch heute noch denke –, dass jemand, der anfängt, seine Bilder zu verkaufen, auch anfängt, darüber nachzudenken, gefallen einem andern seine Arbeiten oder gefallen sie ihm nicht, können sie verkauft werden oder nicht. So entsteht Abhängigkeit.») – Zugreifen, Herrschaften!

Zeit der Avantgarde

Einen Tag vor der offiziellen Eröffnung findet eine Presseführung statt. Markus Landert, von Tavels Assistent, führt in einen Saal, in dem noch gearbeitet wird. Ein Mann schneidet am Boden Tapetenstücke zu und reicht sie einer jungen Frau, die sie – auf einem Gerüst stehend – als Hintergrund für grossformatige Bilder mit einer munter knallenden Bostitchmaschine an die Wand pinnt. Landert: Er habe das Vergnügen, uns Ilia Kabakow vorzustellen. Dieser dreht der West-Pressemeute demonstrativ den Rücken zu und schiebt Claudia Jolles auf dem fahrbaren Gerüst einen Meter weiter. Wie ein Kind, das die Hände vors Gesicht schlägt und sagt, gell, du siehst mich nicht, ignoriert er, was ihn wiederlegt: die Welt der anderen Werte, in der er ausstellt.

Seit Stalins Tod vor gut dreissig Jahren ist in Moskau eine Gruppe von marginalisierten Kunstschaffenden aus verschiedenen Generationen zu einer Kunstszene am Rande zusammengewachsen. Voller Eigensinn und ideologieresistent gegen die abgestorbenen Textmassive der Politpropaganda. Neben der eigentlichen Kunstproduktion bildete sich eine «Hauskultur der Avantgarde» heraus, bei deren beinahe familiären Zusammenkünften nicht das «Werk» im Zentrum stand: Werke schufen lediglich den Rahmen für das ästhetische Ereignis. Der Blick wurde umgelenkt vom Werk auf die Situation, von der Kunst auf das Leben. Die Gruppe «Kollektive Aktionen» zum Beispiel veranstaltete seit 1975 «Reisen aus der Stadt», die aus einer gemeinsamen Fahrt der geladenen Gäste in die Natur bestand, wo mit kleinsten Aktionen der «gerade Blick», die «absolute Nullebene, die das sowjetische Künstlerbewusstsein erreicht hat» gelehrt und gelernte wurde (Katalog S. 25, 209, 218 ff.).

Hier im Westen ist alles anders. Die Werke sind verwandelt in Waren. Statt «Situationen» zu initiieren, initiieren sie die Frage nach der Preisliste. Statt Gebrauchsgegenstände kultureller Überlebensstrategie zu sein, werden die Bilder zu «Kulturobjekt[en] in Opposition zum Mythos Sozialismus» (Bund, 11.6.1988). Der Öffentlichkeit des westlichen Kunstmarktes hat die Moskauer Avantgarde nichts entgegenzusetzen: Hier wird zu allem kaltschnäuzig O.K. gesagt und jeder Preis bezahlt.

Zeit der Versuchung

Wer fragt, wie die Moskauer Avantgarde weitermacht nach diesem Run auf ihre Werke, fragt vermutlich, wie das Kalb weiterlebt, nachdem es geschlachtet worden ist. Die aktuellen Berichte westlicher Beobachter aus der Moskauer Szene lauten übereinstimmend: «Die ehemalige Not- und Schicksalsgemeinschaft der inoffiziellen Künstler beginnt sich aufzulösen. Konkurrenzdenken und gegenseitige Kritik treten vermehrt an die Stelle der ehemaligen Solidarität» (Markus Landert, Bund, 11.6.1988). Ein eigentlicher Ausverkauf der Ateliers finde statt: «Das Atelier von Meister Ilia Kabakow steht, bis auf ein paar ältere Exponate, leer. […] Nur gerade zwei Bilder stehen im geräumigen Dachatelier von Erik Bulatow.» (Roger Anderegg, Schweizer Illustrierte Nr. 23/1988). Eine kontinuierliche Weiterarbeit und eine fundierte Traditionsbildung sind verunmöglicht. In seinem eben erschienen Kunstband über die «Künstler in Moskau» schreibt Eric A. Peschler: «Galeristen und Ausstellungsmacher [fallen] wie die Heuschrecken in die Moskauer Ateliers ein und inszenieren dort den Saisonausverkauf. Einige clevere Künstler, die nicht nur von Kunst, sondern auch von Kommerz etwas verstehen, sehen es mit Wohlgefallen, wie vife Spekulanten die Preise ihrer Bilder auf Kunstmessen in Paris oder New York ins Astronomische treiben. Andere – und die sind in der Mehrzahl –  lassen sich arglos übertölpeln und vertrauen phantastischen Versprechungen, die sich nur selten erfüllen.»

Der 29jährige Wadim Sacharow, dessen achtteilige Bildfolge «Reproduktion» in Bern hängt und für 80000 Franken zu haben ist, schreibt in einer einleitenden Notiz zum von ihm selbst gestalteten Ausstellungskatalog: «Diese russische Welle wird schlimm für uns enden. Man will uns ans allgemeine Netz anschliessen. Aber für viele wird diese Spannung die ‘Katastrophe’ bedeuten. Die Einzigartigkeit der Moskauer Kunstszene ist bereits zerstört. […] Die Zeit der Versuchung ist angebrochen. Schon stehen Leute in der Ecke und offerieren, alles bis auf den letzten Halm aufzukaufen. Wer wird überleben? Wer wird der Vergewaltigung auf dem Fürstenbett entgehen?»

Bildbetrachtung II

Dmitrij A. Prigow stellt unter anderem folgende Arbeit aus: Nebeneinander aufgehängt sind acht grösstenteils bildlose Zeitungsseiten aus der «Prawda» (= Wahrheit), der Tageszeitung des Zentralkomitees der KPdSU. Auf jeder dieser Seiten hat er einen halbseitengrossen Buchstaben gemalt und seine Umrisse ausufernd eingeschwärzt. Die acht Buchstaben ergeben das Wort «Glasnost» (= Durchsichtigkeit, Transparenz), und zwar so, dass dort, wo Glasnost nicht hinreicht, grossflächig alles schwarz ist, durch den durchsichtigen Glasnost-Buchstaben aber die Sicht frei wird auf die kompakte Bleiwüste der Prawda. Mit einer analogen Arbeit, die den Begriff «Perestroika» (= Umbau, Umgestaltung) bearbeitete, ging Prigow anfangs Mai «zeitungslesend» in die Moskauer Metro. Das hat ihm ein fünfstündiges Verhör eingebracht. Danach habe er kommentiert: «Glasnost und Perestroika sind wunderbar. Aber geändert hat sich für uns noch gar nichts» (Schweizer Illustrierte, Nr. 23/1988).

Abgründige Mehrdeutigkeiten, unvereinnahmte Lebensfreude, böser Witz, ironische Verfremdungen, innere Emigration: widerständiges Reden, Lachen und Spotten, Träumen und Grübeln ist mir in dieser Ausstellung immer wieder begegnet; aber auch ein Bundesrat, tessinerisch small-talkend mit einer schweigsam lächelnden russischen Botschafterin, umwieselt von Dolmetschern und Lebwächtern. Wenn es so ist, dass ich dank verordneter Perestroika exotische Helgen bewundern soll, dann wünsch ich sie zum Teufel. Wenn es aber so ist, dass ich – zwar neutralisierte, aber nicht ganz zum Schweigen gebrachte – Belege einer anderen Widerstandskultur studieren kann, dann habe ich zu lernen. Es lohnt sich, ins Berner Kunstmuseum zu gehen, trotz Joint Venture und Perestroika. 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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