Die unbekannteste Minderheit stellt sich vor

Zum Journal B-Originalbeitrag

Nicht alle Reden von Bundesräten bringen etwas in Bewegung. Bundesrat Alain Berset schaffte das, und er brauchte genau genommen nicht einmal eine ganze Rede. Wenige Sätze haben genügt. An der Feckerchilbi auf der Schützenmatte sagte er am 15. September 2016 zu den Anwesenden: «Im April haben Sie meinem Departement eine Petition überreicht. Darin fordern Sie, dass sie auch so genannt werden, wie sie sich selber nennen, nämlich ‘Jenische’ und ‘Sinti’. Und eben nicht einfach ‘Fahrende’, weil viele von Ihnen nicht fahrend leben. Ich anerkenne diese Forderung nach Selbstbezeichnung. Ich werde mich dafür einsetzen, dass der Bund Sie künftig ‘Jenische’ und ‘Sinti’ nennt. Und dass künftig auf den allgemeinen Begriff ‘Fahrende’ verzichtet wird. Das ist nicht Wortklauberei, mit Sprache schafft man Realität.» 

Ein kultureller Prozess kommt in Gang

Am kommenden Freitag und Samstag findet in der Pfrundscheune im Brünnengut die Jubiläumsveranstaltung «20 Jahre Standplatz Bern Buech» statt. Dort wird sich zeigen, dass Bersets Anrede «Liebe Jenische, liebe Sinti» den damals Anwesenden nicht nur «das Wasser in die Augen» getrieben hat. Was Berset sagte, hat tatsächlich Realität geschaffen: Noch an der Feckerchili 2016 gründeten die anwesenden Sinti – wie es die Jenischen mit der «Radgenossenschaft der Landstrasse» schon 1975 getan hatten – eine gesamtschweizerische Organisation: den Verein «Sinti Schweiz». Und seither haben sie nun die Wanderausstellung «Latscho Diwes» erarbeitet, die im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wird (Vernissage: Samstag, 8. September, 17 Uhr).

Projektleiterin bei dieser Wanderausstellung war die Kulturvermittlerin Katrin Rieder. Sie erzählt: «Nicht ich bin auf die Gemeinschaft der Sinti zugegangen, sie haben mich angefragt. Und zwar, weil für sie die Zeit reif war, jetzt vor die Öffentlichkeit zu treten.» Die Arbeit sei dann «von A bis Z ein partizipativer Prozess» gewesen: «Ich war sozusagen die Hebamme, die Inhalte haben sie gebracht. Die Verantwortung und die Entscheide lagen bei den Sinti. Es war ein vertrauensvoller und berührender Prozess. Wir waren ein Team, in dem alle ihr Bestes gegeben haben, und für mich war es eigentlich eine Ehre, dabeisein zu dürfen. Ganz wichtig ist: ‘Latscho Diwes’ ist keine Ausstellung über die Sinti, sondern eine von ihnen.» 

Schatz, Schutz und Geheimnis

«Latscho Diwes» heisst übrigens «Guten Tag». Und dass das ausserhalb der Sinti-Minderheit bis heute kaum jemand gewusst hat, erklärt Rieder so: «Sinti sprechen die Sprache Sintitikes, eine Variante des Romanes, also der Sprache der Gruppen, die – so sagt es die Sprachforschung – im 8. und 9. Jahrhundert in Indien aufbrachen, durch das byzantinische Reich zogen und im 15. Jahrhundert in Westeuropa ankamen.» In der Schweiz leben heute etwa 3000 Sinti als kulturelle Minderheit – grösser ist die Zahl in Deutschland, in Nordfrankreich und auch in Italien. «Bis in die letzten Jahre haben die Sinti es vorgezogen, unter sich zu bleiben und wenig von sich preiszugeben. Ihre Sprache ist nicht nur ein kultureller Schatz, sondern auch immer wieder ein Schutz: In den nationalsozialistischen Konzentrationslagern zum Beispiel konnten sie sich verständigen, ohne dass die Aufseher etwas verstanden.»

Auch andere Eigenheiten der Sintikultur haben den Arbeitsprozess an der Wanderausstellung geprägt. Zum Beispiel die Gebote, nicht öffentlich über Beerdigungsriten zu sprechen oder nicht Bilder von verstorbenen Menschen öffentlich zu zeigen. Rieder: «Das sind kulturelle Gebote, nicht religiöse. Sinti sind mehrheitlich katholisch, eine Minderheit ist evangelisch.» Darum sei während des Arbeitsprozesses – zum Beispiel im Rahmen eines Workshops, an dem von den Grosseltern bis zu den Kindern alle teilgenommen hätten – immer wieder wichtig gewesen herauszufinden, was aus Sicht der Sintikultur in der Ausstellung gezeigt und gesagt werden solle und was nicht. 

Die Texte, die daraufhin mit Unterstützung des Journalisten und Publizisten Marc Lettau erarbeitet worden sind, wurden der Sintigemeinschaft vorgestellt und bis zur letzten Formulierung ausdiskutiert und bereinigt. Rieder: «Mit dem, was unterdessen vorliegt, mit dieser Visitenkarte, diesem gemeinsam erarbeiteten Verständnis der eigenen Identität, wollen die Sinti – und zwar Männer und Frauen, Alte und Junge – jetzt den Dialog mit der Mehrheitsgesellschaft aufnehmen.» 

Die Ausstellung «Latscho Diwes»

Entstanden ist eine kleine, feine Wanderausstellung, die die Sinti in Zukunft auch auf ihren Reisen mitnehmen können. Neben fünf Hintergrundtafeln gibt es Thementafeln mit den Titeln «Die Ankunft und das schwere Erbe», «Die Geschichte des Aufbruchs», «Die Sprache als Schatz und Schutz», «Im Zentrum steht die Gemeinschaft», «Die Glaubenswelt der Sinti», «Ein Alltag voller Traditionen», «Vom Arbeiten und Verdienen» und «Das Leben auf Reise». Dazu gibt es einen Medienturm mit Video- und Hörstationen, mit zeitgeschichtlichen Beiträgen und mit Musik der Sinti (neben aktueller auch solche vom legendären Gitarristen und Sinto Django Reinhardt). 

Fino Winter ist Präsident des Vereins Sinti Schweiz. Man habe die Ausstellung nicht nur deshalb gemacht, weil sie eine Freude, sondern auch, weil sie heute notwendig sei. Es gehe um Aufklärung, darum, der Mehrheitsgesellschaft Kultur und Tradition der Sinti näher zu bringen, «weil der Rassismus extrem zugenommen hat»: «Die Medien haben in den letzten Jahren über die Probleme mit ausländischen Fahrenden immer wieder gross und pauschalisierend berichtet. Auch, man solle solchen Leuten keine Arbeit mehr geben. Das hat dazu geführt, dass auch wir – die wir zu den wohl bestkontrollierten Schweizern überhaupt gehören – zunehmend Probleme haben, unseren Lebensunterhalt verdienen zu können.» 

Die Wanderausstellung «Latscho Diwes» ist eine Einladung an die Mehrheitsgesellschaft, «die unbekannteste Minderheit der Schweiz», wie sie sich selber bezeichnet, kennenzulernen. Ganz abgesehen davon, dass man in der Pfrundscheune auch mit der einen «Sintezza» oder dem anderen «Sinto» wird ins Gespräch kommen können.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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