Die tägliche Notportion Volksseele

1. Bild. Krummenau, 7. März 1987: Der «Sonnen»-Saal ist überfüllt. Die Theatergruppe des Männerchors Krummenau führt einen Schwank in drei Akten, «Die spanische Fliege», auf. Auf der Bühne geht’s hoch her, gespielt wird prächtig, und hinter dem Vorhang fiebert einer mit, der zwei Tage später in der Zeitung, die alle lesen, schreiben wird: «Die Spieler haben die vielen Pointen und Höhepunkte so brillant herausgearbeitet, dass ich beim Soufflieren oft selber fast vom Stuhl fiel vor Lachen. » Das ist der 63jährige Leiter des Verkehrsbüros Krummenau; der Uneheliche, Verdingbub, Vollwaise, administrativ Versorgte; der Knecht, Pächter, Keller, Trainsoldat, Werkstattschreiber, Parteisekretär (SP); der «Blick»- und «Diner’s Club Magazin»-Redaktor; der Nachrichtenchef und Kursleiter im Zivilschutz; der freie Toggenburger Volksschriftsteller, der «Blick»-Kolumnist, der Familienvater (drei Kinder, geboren 1950, 1954, 1958), der in gut zwei Monaten, am 27. Mai, zum ersten Mal Grossvater werden wird – er wird an diesem Tag vor Nervosität «uulidig» und «sürmlig» sein, sich dann aber mit einer Erinnerung trösten: «Damals war meine Frau eben schwanger, und als Bauernknecht, der immer wieder mit Geburten im Stall zu tun hatte, was man solches gewöhnt»; er wird dann aber alles gut gehen, das Grosskind wird Sanna heissen, und Anfang August wird er sie zum ersten Mal zu Besuch haben: «Ich betrachtete sie, ich hielt sie auf dem Arm und schaute in ihre Äuglein»; das also ist der Treusorgende, der für seinen Hund und seine Hennen, für seinen Güggel Bettino und seinen Esel Benjamin gleichermassen da ist und von seiner Frau sagt, sie sei jene, «die mir getreulich Socken strickt und sonst alles besorgt», beifügend: «Erst wenn man, wie ich, 38 Jahre verheiratet ist, erkennt man den Wert eines Hochzeitsfotos, auf dem die Frau wie ein Engel aussieht. Gedankenvoll schaut man das Bild hin und wieder an und freut sich über die schmale Braut, die man damals in die Kirche führte»; und wie nun der Schwank zu Ende ist, zerren – wir dürfen es annehmen – die zehn Laienschauspielerinnen und -schauspieler, darunter ein Dachdecker, eine Drogistin, eine Geschäftsfrau, Gemeindeangestellte, Bauern, Weissküfer, Maurer, zerren sie ihren Souffleur mit auf die Bühne, und wie dieser sich, ein wenig sperrig und ungeschickt, geblendet vom unverhofften, grossen Rampenlicht, verbeugt, ruft eine helle Stimme ins Tosen und Johlen des Applauses: «Das ist ja der Turi Honegger!» (Tusch)

2. Bild. Brig/Naters, 27./28. Juni 1987: Das 20. Eidgenössische Jodlerfest ist voll im Gang. In den nächtlichen Strassen juchzt, jodelt und hornt es. Gleich um die Ecke schmettert ein hochgestimmtes Chörli inbrünstig «Kamerade wämmer sii». «Die ganze Nacht vom Samstag auf den Sonntag waren die Jodler, Fahnenschwinger und Alphornbläser in Brig und Naters unterwegs, netzten ihre Kehlen mit Fendant, jauchzten aus tiefster Volksseele und tanzten zu Schwyzerörgelimusik auf den Strassen», wird Turi später schreiben. In dieser Nacht aber steht er mit glänzenden Augen in Brigs Gassen und sinnt den Melodien nach, die in den sommerlichen, nachtblauen Himmel steigen. Doch, Turi ist zufrieden mit sich und der Welt, er hat’s zu etwas gebracht, obschon er in frühen Jahren bös untendurch musste: «1956 erhielt ich als Obermelker 300 Franken plus Wohnung und einige Naturalien in einem Viehstand von 50 Stück. Tagwache um viertel nach drei, Feierabend um neun Uhr abends.» Vom namenlosen Melker hat er es unterdessen zur dröhnenden Lautsprecherstimme der «Volksseele» gebracht. Einem Land, in dem es auch unsereiner zu etwas bringen kann, denkt Turi, einem solchen Land muss man von ganzem Herzen dankbar sein. Und für einen Augenblick summt er mit, als ein vorbeiwankender Jodler stierengrindig «Nach em Räge schynt d’Sunne» vor sich hingrölt. Bei diesem leisen Ton von weit her fällt ihm die legendäre Jodlerin Marteli Mumenthaler ein, die Mitte März gestorben ist: «Im tiefsten Emmental taten wir Dienst, müde vom langen Marsch durch Nacht und Schnee – doch der Abend machte uns wieder munter: ‘s’Marteli chunnt!’, ging es wie ein Lauffeuer durch die Kompanie. Am Abend sassen wir eng aneinandergedrängt im Saal des Gasthofes und lauschten fast andächtig den wunderschönen Liedern, die sie für uns junge Soldaten sang.» Ja, seufzt Turi in Brig. Er ist zeitlebens in Beizensälen, Festhütten und auf Schwingplätzen daheim gewesen, die «höhere Kultur» ist ihm immer suspekt geblieben. Mindestens Kultur muss doch eine Sache für die kleinen Leute sein, muss eine saubere positive Sache bleiben, eine heile Welt mit unkompliziertem Happy-End, ein Paradies-Reservat, sonst weiss der Schweizer am Ende gar nicht mehr, weshalb er seine Schiesspflicht erfüllen soll: «Jeder von uns hat einen Karabiner oder ein Sturmgewehr im Kasten, für alle Fälle. Und darauf sind wir Schweizer stolz. Gewiss – wir sind ein freies Land.»

3. Zürich, 17. November 1987, «Rheinfelder Bierhalle».

Turi Honegger, du sagst, «wir» seien ein freies Land. Was heisst das?

«Unser Land ist bis Tschernobyl und Sandoz-Inferno von Katastrophen verschont geblieben. Kriege haben wir unversehrt überstanden, und mit viel Arbeit haben wir uns einen Wohlstand geschaffen, der sich sehen lassen kann – auch wenn wir noch viele arme Menschen im Land haben.»

Armut kennst du ja aus deiner eigenen Jugend.

«Damals schaute die Armut aus vielen Fenstern und auch aus den Gesichtern der Leute. Heute verstecken sie sich, sie schämen sich ihrer Armut, und ihr Stolz gibt es nicht zu, Hilfe zu erbitten. Sie sind unsichtbar, leben unter uns, aber sie jammern nicht: die 300000 bis 400000 Armen, die auf die ‘Segnungen’ der Wohlstandsgesellschaft verzichten müssen und unter dem Existenzminimum leben. Und wir?»

Du meinst also nicht die Armen, wenn du «wir» sagst. Wie hältst du’s mit den Alten und den Kranken?

Es ist schon eigenartig und traurig, wie wenig uns der Schutz der alten und kranken Menschen interessiert. Warum ist es uns peinlich, uns um alte Menschen zu kümmern, ihnen ein liebes Wort zu geben, sie zu besuchen und ihnen Mut zum Alter zu machen?»

Langsam bleiben nicht mehr sehr viele, die in deinem «wir» eingeschlossen sind. Wer sind «wir»?

«Die Arbeit, das Planen, die Angst, es ja nicht schlechter zu machen als im Vorjahr, prägt unser Denken.»

Jetzt wird’s deutlicher: «Wir» sind also die Tüchtigen. Aber das ist mit den anderen?

«Da sind wir Schweizer schon ein bisschen einäugig, wenn es um Diskriminierung geht. Vielleicht rührt es daher, dass wir die Diskriminierungen nicht mehr sehen wollen, solange es uns selber gut geht. Wann werden wir endlich vernünftig?»

Jetzt ist schon viel klarer, was du meinst, wenn du sagst, «wir» seien ein freies Land. Turi Honegger, wir danken für dieses fiktive Kurzinterview.

4. Bild. Krummenau/Brunnen, 22. Februar 1987, in Turi Honeggers Stube. Dieseiger Sonntagvormittag. Turi dumpf brütend im Fernsehfauteuil, der Fernseher ausgeschaltet. Frau Honegger bringt Kaffee, leise: «Turi, was häsch?» Keine Antwort. Sie geht ab. Pause. Turi (aufseufzend): « Was macht man nach diesen zwei wunderschönen, grossartigen Wochen, da man immer wieder laut ‘Gold für Erika, für Maria, für Pitsch und Pirmin’ gehört hat? Alles das ist jetzt vorbei.» Und nun noch diese Deutschen mit ihrer hundsgemeinen Attacke gegen das Ski-As Zurbriggen! Turi (erhebt sich und geht in der Stube auf und ab): «Das musste ja so kommen, dass die uns den Pirmin nicht gönnen! Aber wenn der Boris Becker siegt, grölt ganz Deutschland! Dann rückt sich der Fernsehsprecher die Krawatte zurecht, ein vaterländisches Leuchten kommt in seine Augen, und feierlich wie ein Domherr verkündigt er Sieg und Preisgeld. Und in den Stuben grölen sie: ‘Oh, oh, unser Boris.’» Turi wirft sich wieder in den Fernsehfauteuil, knallt seine Faust auf einen Stapel «Blick»-Zeitungen, dann sehr laut: «Ist das vielleicht kein Chauvinismus? Und Pirmin seine Bescheidenheit, seinen Gottesglauben, seine Verwurzelung in den Bergen und das tägliche Gebet vorzuhalten , das ist ja wohl das Allerletzte. Lasst uns in Ruhe!» Frau Honegger ist unter die Stubentüre getreten und fragt leise: «Turi, gaht’s?» Statt eine Antwort zu geben, leert Turi seine Kaffeetasse in einem Zug und weist auf den aufgeschlagenen «SonntagsBlick» auf dem Fernsehtischchen. «Nur noch 40 Prozent sind stolz darauf, Schweizer zu sein. Und die anderen 60 Prozent?» Frau Honegger zuckt leise die Schultern. Turi fährt fort: «Da hat sich etwas so sehr verändert, dass wir vielleicht doch nachdenken müssen: Zum Beispiel, ob der Wohlstand uns das Vaterlandsbewusstsein verdorben hat. Dass man nicht mehr stolz aufs Schweizer Bürgerrecht sein kann, gibt zu denken – besonders wenn man über die Landesgrenze in die zerrissene, blutige, kriegerische Welt schaut.» (In Gedanken versinkend.) «Ein Grund des Patriotismusschwunds ist vielleicht auch, dass unser Land seit Jahrzehnten keinen Krieg hatte.» Gedankenverloren blättert Turi im «SonntagsBlick» vorwärts zum Fernsehprogramm. Frau Honegger trägt leise die leere Kaffeetasse hinaus.

5. Bild. Zürich, 28. Dezember 1987, Ringier-Archiv. Turi Honegger hat sich den 87er-Jahrgang seiner «Blick»-Kolumnen bereitlegen lassen. Jetzt sitzt er lesend und notierend in einem stillen Winkel und stiefelt die Jahrsabschluss-Kolumne für den Silvester-«Blick» zusammen. Etwas fürs Herz müsse es geben, denkt er, ein Lob den kleinen Leuten, gedämpft mit einer Prise Konsumverzicht, dann Höhepunkt: Drohung mit der Öko-Katastrophe, darauf scharfe Kurve zum Happy-End. In diesem Sinn montiert Turi das Herausgeschriebene neu zusammen:

«Das ist starker Tobak! Sollen Reiche und Superreiche nicht mehr mit gewöhnlichen Leuten in Berührung kommen? Warum müssen es denn die Reichen immer noch bequemer haben, während das Volk sich abstrampelt? Was wären zum Beispiel die Aktionäre ohne diese treuen jungen und alten Büezer, Angestellten, Werkmeister, Buchhalter, EDV-Spezialisten, Forscher und Grübler, Putzfrauen und Handlanger, Schweizer und Ausländer, die auch in diesem Jahr treu ihre Pflicht erfüllt haben? Und unsere Jungen haben kräftig mitgezogen. Das Wort ‘mich scheisst’s an’ ist einer neuen positiveren Haltung gewichen. Wir sind wirklich ein fleissiges Volk, vom Bauern und Büezer bis zu den vielen Frauen, die trotz ungleicher Bezahlung gleichwertige Arbeit geleistet haben. Denen allen für die grossen Leistungen ein Kränzchen zu winden, das ist meine Absicht. Im Schatten der grossen Ereignisse arbeiten diese Menschen still, zuverlässig, freundlich und so selbstverständlich, dass man sie kaum wahrnimmt. Aber die Arbeitswelt ist rauer geworden, die Auslese unter den Arbeitskräften härter. Viele lassen sich freiwillig vorzeitig pensionieren, weil sie bei dem neuerdings eingeschlagenen Arbeitstempo einfach nicht mehr mithalten können. Wie sagte doch ein Krankenkassenverwalter kürzlich zu mir: ‘Die Solidarität kommt bei uns langsam auf den Hund.’ Recht hat er. Was haben wir falsch gemacht? Sind die Lockungen der vielen (unnützen) Güter so gross geworden, dass man einfach nicht mehr widerstehen kann und eben kauft, was man eigentlich gar nicht brauchen kann? Oder kauft man eher aus fatalistischen Gründen alles zusammen, nur ‘um es zu haben’ vor dem grossen ‘Chlapf’, dem wir entgegeneilen? Darum müssen die Grenzwerte  sofort verschärft werden, so dass jedes Risiko ausgeschlossen werden kann, zu viele Menschenleben stehen auf dem Spiel. Andererseits: Gehört nicht die Angst, wie wir sie täglich erleben, auch zum Glück? Könnte man nicht viel eher von Glück reden, wenn wir uns untereinander besser verstehen würden, wenn wir uns gegenseitig ein bisschen gern hätten? Und sind wir nicht dann am glücklichsten, wenn wir bei einer Umweltkatastrophe wie Tschernobyl oder Schweizerhalle noch einmal davongekommen sind? Jetzt ist wirklich Alarmstufe 1! Aber eines Tages wird die Sonne mit ihren goldenen Strahlen unsere Herzen wieder erfreuen.»

Einen Titel werde man auf der Redaktion dann wohl noch finden, denkt Turi und packt sein Sachen zusammen. Wie er in den sonnigen Winternachmittag hinaustritt, denkt er, «der Krummenauer Wetterprophet Menzis Köbi» habe wieder einmal recht gehabt, schon im Juli habe er einen viel zu warmen Jahreswechsel vorausgesagt. Ob der Köbi nicht wieder einmal eine Kolumne wert wäre, überlegt Turi. Dann entschwindet er unseren Augen.

Unter Berücksichtigung des Abschnitts über Arthur Honegger im «Kritischen Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur» sowie von 144 Kolumnen, die Honegger zwischen dem 5.1. und dem 3.9.1987 in der Tageszeitung «Blick» publiziert hat. Sämtliche Honegger-Zitate in Anführungszeichen stammen aus diesen Kolumnen.

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 255-261. (Dokumentiert wird die Buch-Version.)

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