Von den schweizweit jährlich etwa 30000 Eintritten in psychiatrische Kliniken erfolgen über neunzig Prozent unfreiwillig. In der Zürcher Klinik Burghölzli unterzeichnen nur etwa fünfzehn Prozent einen sogenannten Freiwilligen-Schein. Jede zehnte eingewiesene Person erhält in der Klinik mindestens einmal, oft mehrmals, eine Injektion gegen ihren Willen. 95 Prozent jener, die als «Schizophrene» gelten, werden in der Klinik mit Neuroleptika «behandelt». Im Burghölzli beurteilen zwei von drei Patienten auch im nachhinein die durchgeführten Zwangsmassnahmen als Unrecht.
Die institutionelle Psychiatrie hat den gesellschaftlichen Auftrag, Menschen in psychischen Krisen in bestimmter Weise zuzurichten: entweder wieder zum Funktionieren zu bringen oder wirkungsvoll aus dem Verkehr zu ziehen, also zu internieren. Die Ausführung dieses Auftrags erfordert von Fall zu Fall die Anwendung von Zwang, von brachialer Überwältigung und von «therapeutischen Massnahmen» gegen den Willen der betroffenen Person. Deshalb ist der Zwang die Achillesferse der institutionellen Psychiatrie.
Im Reden darüber muss sich die Sprache der Psychiatrie bewähren. Würde sie die ethische Rechtfertigung für die institutionelle Praxis nicht leisten, wäre das therapeutische Vorgehen in psychiatrischen Kliniken oftmals nicht zu unterscheiden von systematischen Persönlichkeitsrechts-, von Körperverletzungen und von Folter.
Die Sprache der Pfarrherren
Die Armee der klinischen Psychiatrie besteht aus Pfarrherren, Offizieren und Soldaten. Ihr gemeinsamer Feind ist das Nichtfunktionierende und Nichtnachvollziehbare, das Beängstigende, Verdrehte und Verschrobene: das Irresein der Internierten. Wie diese Armee selbst funktioniert auch die Sprache ihrer Mitglieder hierarchisch: Wer Psychiatrie-Ideologie produziert, redet wie ein Pfarrherr; die immer tätigen und manchmal tätlichen Ärzte reden wie Offiziere; das immer tragende und manchmal schlagende Pflegepersonal redet wie Soldaten.
Die Sprache der Pfarrherren ist ein ideologischer Diskurs, der die fachliche und institutionelle Praxis in wolkigen Abstraktionen reflektiert und legitimiert. Diese Sprache ist tendenziell biologistisch, macht aus prozesshaften psychischen Krisen statische «Geisteskrankheiten», deren Chronifizierungen durch chemische, hirnchirurgische oder elektrische Eingriffe nach Kräften gefördert werden. Die Pfarrherrensprache ist paternalistisch und weiss, dass die Unfähigkeit zur «Krankheitseinsicht» und der Widerstand gegen die psychiatrische Zurichtung das sicherste Symptom der «Krankheit» sind. Diese Sprache klingt zum Beispiel so: «Wenn sich solch ein negativistischer armer Mensch wegen rein psychotisch bedingt fehlendem Leidensdruck gegen unsere Hilfe wehrt, haben wir aus ärztlicher und christlicher Sicht nicht das Recht, ihm diese zu verweigern: Der vielzitierte Respekt vor der Persönlichkeit würde da zur Unmenschlichkeit pervertiert.»[1]
Zuhanden der Öffentlichkeit betonen die Pfarrherren ihr hohes ethisches Verantwortungsgefühl sowie die Unmöglichkeit, die «psychiatrische Heilkunst» gegenüber Laien zu vermitteln: «Das geheimnisvolle Wesen und die eigentümlichen Verläufe von psychischen Krankheiten entziehen sich dem Vorstellungsvermögen der durchschnittlichen Bevölkerung». Hermetische Medizinalisierung und eine Prise Metaphysik machen die Pfarrherrensprache zur hohepriesterlichen Geheimlehre. Die Öffentlichkeit wird der tröstlichen Versicherung anheimgegeben, Ziel des psychiatrischen Handelns sei die «Minderung des Leidens und Mehrung der Wohlfahrt» des «Krankenguts».
Der Zweck dieser Sprache ist es, den öffentlich nicht kontrollierbaren Handlungsspielraum, d.h. die weitgehend rechtsfreie Grauzone der Institutionellen Psychiatrie möglichst gross zu halten: «Einerseits besteht der gesellschaftliche Auftrag, die Öffentlichkeit von ‘unberechenbaren Menschen’ und diese vor sich selber zu schützen; andererseits gilt die Forderung, dass auch dem kranken Individuum jederzeit seine Rechte zuzugestehen seien.» Bemerkenswert an dieser pfarrherrlichen Formulierung ist die geheimnisvolle Verwandlung des «unberechenbaren Mensch» in das «kranke Individuum»: Was unberechenbar ist, ist krank; gesund ist das Berechenbare.
Nur en passant sei erwähnt, dass die Pfarrherren auf vertrautem Fuss leben mit den Fürsprechern des Gesetzgebers: «Es gibt Psychiater und Juristen, die jede Zwangsbehandlung psychisch Kranker als widerrechtlich und strafbar erachten. Sie betreiben damit die Kriminalisierung der Psychiatrie. Diese Auffassung ist abzulehnen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Gesetzgeber im Instrument der fürsorgerischen Freiheitsentziehung die Anwendung von Zwang in der Behandlung vorausgesetzt hat.» Eine Hand wäscht die andere: Wie hier die Jurisprudenz der Psychiatrie geschlossene Abteilungen öffnet, hilft dort die forensische Psychiatrie der Jurisprudenz Gefängnistüren zu schliessen. So arbeiten Richter und Zurichter zusammen.
Die Sprache der Offiziere
«Wenn es überhaupt eine innenpolitische Herrschaftssprache gibt, dann ist es die der Psychiatrie», sagt ein selbstkritischer Psychiatrie-Offizier von jener Sprache, mit der er und seinesgleichen die tägliche Praxis abbilden.
In der direkten Begegnung mit den Eingelieferten hat sich der Offizier um das «aufgeklärte Einverständnis» für die geplante «Behandlung» zu bemühen. Mit dieser «Aufklärungspflicht» ist allerdings «nicht eine uneingeschränkte Information aller medizinischen Details und Tatsachen gemeint, wie neuerdings oft irrtümlich und zulasten von Patienten angenommen» werde, sondern es sei lediglich «jene Information angesprochen, die der Patient situationsgemäss zu erfassen und in sein Krankheitsverständnis zu integrieren vermag». Über die Erlangung dieses Einverständnisses hinaus ist Reden im Prinzip vernachlässigbar: Äusserungen von «Kranken» sind psychiatrisch gesehen am ehesten noch diffuse akustische Reflexe eines krankhaften organisch-biochemischen Prozesses. Deshalb ist das Reden mit «Kranken» Zeitverschwendung; relevant ist einzig das Reden über sie. Das dadurch einklagbare Manko ergibt dafür ein nettes Tagungsthema für die Pro Mente Sana («Kommunikation in der Klinik», November 1993).
In den «Krankengeschichten» gerinnt die Sprache der Offiziere zum denunziatorischen Jargon. In diesem Land gibt es nicht nur einen «Fichenskandal», sondern auch eine Psychiatriefichen-Normalität. In einem einzigen Psychiatriedossier finden sich zum Beispiel folgende diagnostischen Eintragungen: «Depressive Erscheinungen», «Verdacht auf Schizophrenie», «schizoide Persönlichkeit, coenästhetisches Syndrom, Verdacht auf beginnende Schizophrenie», «beginnende Schizophrenie», «Neurose mit depressiven und hysterischen Zügen bei schizoider Persönlichkeit», «reaktive Depression», «schwere Depression im Rahmen einer bipolaren Affektpsychose», «Residualzustand bei einer bipolaren Affektpsychose». Quintessenz: «Heute muss X als Sonderling bezeichnet werden, der sich eine zwanghaft-komplizierte, private Welt aufgebaut hat.» Die sozialen Folgen einer solchen «Krankengeschichte» stehen jenen einer bundespolizeilichen Fiche in nichts nach. Mit einem Unterschied: Politisch Verdächtige gelten theoretisch als resozialisierbar, Psychiatrieüberlebende bleiben in aller Regel lebenslänglich stigmatisiert.
Die Sprache der Soldaten
In den psychiatrischen Institutionen, die unter dem Vorwand zu «heilen» Menschen entweder zum Wieder-Funktionieren oder aber zum Nicht-mehr-Stören zuzurichten haben, kann auf die Dauer nicht arbeiten, wer sich nicht mit ihnen im Grundsatz zu identifizieren versucht. Deshalb muss die Sprache der Soldaten deren Bewusstsein von der eigenen Gewaltanwendung zersetzen. Nicht die gesellschaftlichen Bedingungen, nicht die auch für viele «Normale» unverträglichen kasernenartigen Strukturen der Institution, nicht brachiale Überwältigung und nicht zwangsweise Internierung und Medikamentierung gelten ihr als «Gewalt». «Gewalt» ist das Nicht-Funktionierende und Nicht-Nachvollziehbare, das Beängstigende, Verdrehte und Verschrobene. Dieses muss bekämpft werden, wenn nötig mit «Gegengewalt».
Im Klinikalltag sind die Soldaten häufig gezwungen, dämpfende Medikamente als einziges therapeutisches Mittel einzusetzen. «Wir hoffen [dann jeweils, fl.], dass der Patient die Medikamente schluckt, denn eine Spritze gegen den Willen des Patienten ist eine körperliche und seelische Misshandlung für ihn, und auch für uns eine körperliche und seelische Belastung.» Ethisch überbaut wird die Anwendung von Zwang im Pflegealltag mit dem Argument, die «nichtteilbare Verantwortung» bei der Zwangsanwendung erfordere «Demut» und die Einsicht, dass sie zwar als «ultima ratio» notwendig, doch auch «das Eingeständnis von Ohnmacht» sei. In der zugerichteten Sprache der Soldaten gibt es in den öffentlichen psychiatrischen Kliniken deshalb nur einen unausweichlichen Zwang: jenen zur Aufnahme von neu «erkrankten» Menschen.
Der ausgegrenzte Irrsinn
Das Fundament der Diskurspyramide institutioneller Psychiatrie bildet die Sprachlosigkeit, genauer die Verstummtheit der «Irren»: «Auf der einen Seite völlig ausgeschlossen, auf der anderen völlig objektiviert, wird der Wahnsinn niemals (…) in einer ihm eigenen Sprache manifestiert.» (Michel Foucault) Für psychiatrisch Internierte scheitern die Versuche, sich der Sprache zu bedienen, an unüberwindlichen Paradoxien. Versuchen sie durch demonstrative Krankheitseinsicht dem Zwang zu entgehen, müssen sie sich zum «Wahnsinn» bekennen, der sie vom vernünftigen Reden ausschliesst. Versuchen sie umgekehrt darauf zu beharren, nicht «irr», sondern weiterhin Teil des vernünftigen Redens zu sein, beweist gerade dies mangelnde Krankheitseinsicht und legitimiert zwangspsychiatrische Massnahmen.
Es bleibt das Verstummen. In einer Krankengeschichte findet sich als Erfolgsmeldung der Eintrag: «Der Patient hat sich von seinen Ideen distanziert.» Ein kritischer Offizier kommentiert: «Gewitzte Patienten wissen heute selbst noch in der Psychose, wie sie dem Zwangsmittel der Indoktrination aus dem Weg gehen können. Sie erzählen einfach ihre Symptome nicht mehr.»
Dieses Verstummen wiederum erleichtert den Personalchefs in den Kliniken ihre Arbeit, weil sprachliche Kommunikation nicht mehr vorgesehen werden muss: In gerontopsychiatrischen Abteilungen arbeiten heute in der Pflege immer mehr Ausländer, die die Sprache der Patienten nicht reden und nicht verstehen können. Verstummen als Strategie heisst auch: Vor dem psychiatrischen Offizier wirkt Aussageverweigerung am vernünftigsten. Für die Menschen am kürzeren Hebel hat Schweigen oder verschweigendes Sprechen so gesehen immer und überall auch etwas mit Vernunft zu tun.
In den letzten Jahren hat die neue Antipsychiatrie eine von der Sprachpyramide der Psychiatrie unabhängige, notwendigerweise dilettierende Sprache zu sprechen begonnen. Für Pfarrherren, Offiziere und Soldaten ist sie gleichermassen Ärgernis und fachlich inkompetent. Über die im einzelnen selbstverständlich diskutablen Argumente hinaus verteidigt diese Sprache jedoch gegen die institutionelle Psychiatrie eine Utopie: Eigentlich müsste jeder Mensch das Recht haben, seine Krisen durchleben und daran wachsen zu können; eigentlich ist es unmenschlich, Menschen in psychischen Krisen als verstummte Objekte der Zurichtung zu verhandeln und in psychiatrischen Verwahrungsstätten zu internieren; eigentlich müsste man die Kliniken schliessen und mit den Menschen in Krise wirklich zu reden beginnen. Eigentlich ist es zu billig zu sagen, jede Gesellschaft habe halt jene Psychiatrie, die sie verdiene (resp. bezahle).
[1] Die verwendeten Zitate entstammen Beiträgen aus verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften der letzten Jahre. Auf die Quellenangaben wurde verzichtet, weil der vorliegende Text nicht Personen, sondern Herrschaftssprache angreifen will. Die weiblichen Formen («Soldaten und Soldatinnen» resp. «SoldatInnen») wurden weggelassen: Die institutionelle Psychiatrie bleibt auch dann eine patriarchalische Maschine, wenn darin – vorab in unteren Chargen – Frauen mitarbeiten.
Für die Zeitung ist der Text in einigen Passagen gekürzt, in einigen umformuliert worden. Der hier präsentierte Text ist kompiliert aus der Druckversion und der Version, die in meinem elektronischen Archiv liegt. Der Aufsatz ist die Ausformulierung der 9. Notiz aus «Zwang in der Psychiatrie, Notizen» (1991).