Die Ruhe vor dem Sturm

Nach der statthalterlichen Offensive in Zürich, die die Räumung der offenen Drogenszene Platzspitz bekannt gegeben hat [umgesetzt am 5. Februar 1992, fl.], scheinen die vergleichsweise moderaten drogenpolitischen Pläne der Stadt Bern schon heute liberale Wunschträume (siehe WoZ 41/1991). Die Verfechter repressiver Drogenpolitik haben auch in Bern Aufwind.

• Bereits am 10. September traten «Mieter, Geschäftsinhaber und Schulen» als «Interessengemeinschaft drogenfreier Kocherpark» an die Öffentlichkeit. Diese Leute sind nicht mehr bereit, «sich länger von den unzumutbaren Auswirkungen der Drogenszene schädigen zu lassen».

• Mitte September hat die mächtige Burgergemeinde dem Polizeidirektor Marco Albisetti einen Brief geschrieben und daran erinnert, dass sie seinerzeit die Schenkung des Kocherparks an die Stadt Bern mit zwei «Dienstbarkeiten» verbunden hatte: Erstens sollte der Park der Öffentlichkeit zugänglich sein, zweitens sollten keine Bauten errichtet werden dürfen. Beide seien nicht mehr gewährleistet.

• Vor einer Woche konstituierte sich das Komitee «für eine konsequente Drogenpolitik», das die Hauseigentümer der Quartiere rund um den Kocherpark als Verein organisieren will. Dem Gemeinderat soll in den nächsten Tagen eine Resolution übergeben werden. Der Sprecher des Komitees, der Notar Hanspeter Haussener, beklagt Schäden an Liegenschaften, Mietzinsausfälle und markante Einbussen der Geschäfte und Beizen im Quartier. Würde man nur die bestehenden Gesetze konsequent anwenden, würde die offene Drogenszene von selbst verschwinden, argumentiert er.

• Den Platzspitz-Räumungsbefehl kommentierte der Berner Gemeinderat, er sei heute der Auffassung, «dass offene Szenen zu vermeiden sind»; Massnahmen, mit denen die offene Szene «reduziert und schliesslich aufgelöst» werden sollen, seien beschlossen.

• Am Wahlsamstag [19. Oktober 1991, fl.] kündigte dann der Kantonalverband der Schweizer Demokraten eine Disziplinarbeschwerde gegen Regierungsstatthalter Sebastian Bentz (SP) an. Bentz hatte den Zürcher Räumungsentscheid als «Kraftmeierei» bezeichnet und gesagt, er hoffe nicht, dass in Bern nun auch so vorgegangen werde wie in Zürich.

• Am Mittwoch dieser Woche hat die Polizei die Aufklärung einer Einbruchsserie bekannt gegeben. Erste Pointe: Der Kocherpark  diente den Haupttätern als Drehscheibe. Zweite Pointe: Die Täter waren bereits im August festgenommen worden. Mit der zurückgehaltenen Information rüstet die Polizei jetzt propagandistisch zum Angriff.

Auf Anfang November wird die Notschlafstelle Stauffacherstrasse als «Auffangbecken» für die von der geplanten Kocherpark-Nachtschliessung betroffenen, einheimischen Junkies eröffnet; die Auswärtigen sollen – so das Konzept – «heimgeschafft» werden. Auf 29. Oktober lädt die Drogenberatungsstelle «Contact» zur Medienorientierung, auf den 31. Oktober die Stadtregierung. Ruhe vor dem Sturm.

Dieser Text war als Kasten zu einem grossen Beitrag gestellt, der die Situation rund um die offene Drogenszene Platzspitz in Zürich zum Thema hatte. Dieser trug den Titel: «Vertreiben, verteidigen, verkleinern? Hilfloser Umgang mit der offenen Drogenszene in Zürich und Bern» und wurde von Matthias Preisser verfasst.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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