Die Post vertreibt jetzt auch Märchen

Von den 8511 Postangestellten, die vom Abbauplan Gygi betroffen sind, haben seit dem 28. Oktober knapp 2500 an einer von der Gewerkschaft Kommunikation organisierten Betriebsversammlung teilgenommen. In Lausanne, Biel, Thun, Chur und Basel, überall fiel der Entscheid einstimmig oder mit ganz wenigen Gegenstimmen: Entweder die Post zieht ihren Abbauplan mit dem schönen Namen «Rema» zurück oder es kommt zum Streik. 

Die Gewerkschaft Kommunikation fordert die Post nun auf, das Projekt bis zum 26. November zurückzunehmen und ein neues Projekt zu präsentieren, das nicht nur betriebswirtschaftliche, sondern auch regional- und sozialpolitische Aspekte berücksichtigt. Ausserdem soll das Projekt Briefpostzentren nicht nur auf der Ost-West-Achse, sondern auch auf der Nord-Süd-Achse vorsehen.

In ihrem Protest unterstützt werden die streikbereiten Postangestellten durch verschiedene Kantonsregierungen. Auch sie sind erbost über die Postspitze und fordern ebenfalls Briefpostzentren auf zwei Achsen. Im Briefzentrum Basel würden 1051 Personen die Arbeit verlieren. Die Kantone Basel-Stadt und Basel-Land haben deshalb am 13. November eine Koordinationssitzung einberufen.

Eingeladen waren nationale und kantonale Politiker und Politikerinnen, Vertretungen von Wirtschaftsorganisationen sowie der Gewerkschaften. Das Ergebnis: eine geschlossene Nordwestschweizer Ablehnungsfront gegen das Projekt der Post. Die Region Basel, schreiben die beiden Regierungsräte Ralph Lewin (SP, BS) und Erich Straumann (SVP, BL), sei «nicht länger bereit, in der Schweiz als ‘Randregion’ ausgegrenzt und systematisch benachteiligt zu werden».

Das Mittelland ist nicht die Schweiz

Im Briefzentrum Luzern würden 527 Personen die Arbeit verlieren. Im Auftrag der Kantonsregierung hat das Wirtschaftsdepartement in einem Brief an die Post konkrete Standortvorschläge für ein Luzerner Briefpostzentrum gemacht. Der Kanton will den Standort Luzern unter allen Umständen im Spiel behalten. In einem Kommentar schreibt Thomas Bornhauser, Chefredaktor der «Neuen Luzerner Zeitung», «das Vorgehen der hiesigen Gewerkschaften» verdiene «Verständnis – mehr noch: Unterstützung aus der Region für die Region» (12. November 2002).

Im Briefzentrum Bellinzona würden 267 Personen die Arbeit verlieren. Ungehalten hat auch die Tessiner Regierung reagiert: Die Pläne der Post stünden im Widerspruch zum strategischen Ziel, wonach die Post «die Anliegen der Regionen nach einer angemessenen Verteilung der Arbeitsplätze» zu berücksichtigen habe («Tages-Anzeiger», 4. November 2002).

Rema heisst «Reengineering Mailprocessing» und bedeutet, dass die schweizerische Post die 18 bestehenden Briefzentren zwischen 2006 und Ende 2008 durch drei neue Briefzentren in den Regionen Freiburg Ost, Langenthal/Aarau und im Grossraum Zürich ersetzen will.

Zwei, drei, fünf oder mehr Postzentren?

Nach wochenlangem Zögern hat sich die Post nun unter dem öffentlichen Druck doch noch bequemt, mit einer 28-seitigen Diskussionsgrundlage mehr als nur die Eckdaten zu veröffentlichen. Dieser Bericht berechnet «Varianten mit zwei bis acht Briefzentren», wobei die Betriebskosten von drei bis fünf Zentren alle «ein jährliches Einsparpotenzial von über 200 Millionen Franken» zeigten. Das «betriebswirtschaftliche Optimum» liegt laut Post bei drei Zentren.

Im Bericht gibt es einen Abschnitt über «Massnahmen für das Personal», die Christian Levrat, Zentralsekretär Post der Gewerkschaft Kommunikation, kurz und bündig als «Auflistung von vier Märchen» bezeichnet. Laut Levrat belegen die «Massnahmen», dass die Post keine Ideen hat, wie die Probleme zu bewältigen sind.

• 1. Märchen: Die Erhöhung von drei auf fünf neue Briefpostzentren trägt nur unwesentlich zur Lösung des Personalproblems bei. Levrat: «…Diese Erhöhung hat sehr wohl einen entscheidenden Einfluss, weil dadurch die Distanzen zwischen den jetzigen und den neuen Briefzentren kleiner und so die Pendeldistanzen für das jetzige Personal zumutbarer werden.» 

2. Märchen: Das Personal der Briefpostzentren erhält innerhalb der Post eine neue Beschäftigung. Levrat: «Die jetzt erneut vorgeschlagene Umschulung in die Zustellung und an die Schalter ist bereits bei der Paketpost gescheitert.» 

3. Märchen: Es werden in den Regionen neue Arbeitsstellen geschaffen. Levrat: «Callcenter oder das Informatikzentrum in Bellinzona nützen wenig. Dort braucht es erstens nur wenig Personal und zweitens Leute mit ganz anderen Profilen.»

4. Märchen: Mit den Fluktuationen löst sich das Problem von selbst. Levrat: «Natürliche Abgänge und Pensionierungen führen zum Beispiel im Briefzentrum Genf zu einer Fluktuation von 3,2 Prozent pro Jahr. Nicht weniger und nicht mehr.»

 

[Zweittext Uhlmann]

«Wir arbeiten bis zu 11 Stunden pro Tag»

Bevor man die Briefträger überflüssig macht, lässt man sie in der Arbeit ertrinken. Peter Uhlmann, Zustellbeamter im Berner Weissenbühlquartier, sagt warum.

Work: Trifft der Abbauplan Gygi auch die Briefträger?

Peter Uhlmann: Allerdings! Die Post plant, dass die Sortiermaschinen vollautomatisch ganze Touren abpacken und danach jemand mit den fertigen Bünden auf den «Cheer» geht.

Wenn das so kommt, was tun dann die gelernten Briefträger?

Dann reichen billige Ungelernte, um die Post zu vertragen. Gelernte Briefträger braucht es dann höchstens noch im Büro für die Umspeditionen. Aber ob das gut kommt, wenn man Leute von der Strasse nimmt für den «Cheer», weiss ich nicht. Viele Briefkästen sind zum Beispiel nach Umzügen falsch angeschrieben. Wer die Umleitungsaufträge nicht im Kopf hat, wirft die Post deshalb in falsche Briefkästen.

Es gäbe also Fehlzustellungen?

Auf jeden Fall mehr. Es gibt sie schon heute, wenn viele Ablöser arbeiten, die immer wieder andere Touren machen müssen. Im herrschenden Stress am morgen früh alle Umleitungsaufträge exakt durchzusehen, ist unmöglich.

Sie sprechen von Stress.

Unsere Situation hier in Bern ist folgende: Offizieller Dienstbeginn ist um 6 Uhr morgens. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die beginnen um fünf Uhr oder früher, weil sie Angst haben, dass sie ihre Tour nicht schaffen. Als gewählte Briefträger sind wir für sieben Stunden und fünfzig Minuten bezahlt. Teilweise arbeiten wir bis zehn, elf Stunden. Überzeit können wir keine aufschreiben.

Und wie erträgt man solchen Druck auf Dauer?

Viele sind überfordert durch die grossen Touren, verschiedene schlucken Nervenmittel, damit sie überhaupt noch schlafen können. Eine 21-jährige Kollegin hat sich vor anderthalb Jahren umgebracht, ein 42-jähriger Kollege im letzten Frühling. Gerade jene Briefträger, die sehr pflichtbewusst sind und möglichst keine Fehler machen wollen, schaffen ihr Pensum kaum mehr.

Müsste man in dieser Situation bei den Vorgesetzten nicht Alarm schlagen?

Das Verrückte ist: Unsere Chefs wissen, das viele Leute nervliche Probleme haben. Aber man unternimmt nichts dagegen, im Gegenteil. Für das nächste Jahr hat die Personalabteilung den Auftrag, von den knapp siebzig Touren in der Stadt Bern fünf weitere aufzulösen und den anderen zuzuteilen. Und das nach zwei Reorganisationen in den neunziger Jahren, bei denen man uns die Touren stark vergrössert hat.

 

[Zweittext Ordinelli]

«Wir sind auf den Lohn angewiesen»

Tiziana Ordinelli ist Postsortiererin. Sie wehrt sich dagegen, dass ihr Arbeitsort, die Schanzenpost in Bern, 2006 geschlossen und ihre Arbeit immer mehr von Maschinen übernommen wird.

Work: Wie sieht ihre Arbeit auf der Schanzenpost konkret aus?

Tiziana Ordinelli: Wir sortieren die Briefe nach Postleitzahlen. Zum Teil machen wir das von Hand, zum Teil maschinell. Dann müssen wir die Sortiermaschinen beaufsichtigen.

In den geplanten Postzentren würde es ihren Beruf gar nicht mehr geben?

Doch, es wird ihn noch geben, aber es braucht sicher weniger Personal. Man wird möglichst viele Maschinen aufstellen, die möglichst wenig Aufsicht brauchen. 

Aber sicher braucht es in Bern keine Sortiererinnen mehr.

Das stimmt. Wer weiter arbeiten kann, wird einen langen Arbeitsweg haben. Man müsste sich sogar fragen, ob sich die Reiserei überhaupt rentiert. Das Leben besteht ja nicht nur aus der Arbeit.

Hätten Sie beruflich eine Alternative?

Von heute auf morgen sicher nicht. Ich müsste versuchen, mich weiter zu schulen. Die meisten von uns sind ins kalte Wasser geworfen worden. Wir müssen jetzt überlegen, was wir machen könnten. Wir sind ja auf den Lohn angewiesen – gerade die vielen Mütter und Väter, die ihre Kinder alleine erziehen.

Auch Sie haben für den Streik gestimmt, wenn das Projekt der Post nicht zurückgezogen wird.

Ja. Irgendetwas muss man machen. 2006 soll die Schanzenpost schliessen: Das betrifft uns hier alle. Dagegen muss man doch kämpfen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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