Die letzten Tage des Freien Landes Zaffaraya

 

I [Kommentar auf der Frontseite]

Zaffaraya lebt weiter!

 

Von der Redaktionsstelle Bern

Dienstag, 17. November. Der Morgen dieses aussergewöhnlichen Dienstags begann – wir wissen es – mit der Schleifung, mit der Plattwalzung des zweieinhalb Jahre alten «Freien Landes Zaffaraya». In einer mobilmachungsähnlichen Morgen- und Nebelaktion schlugen Albisettis Grenadiere im Auftrag der bürgerlichen Regierungsmehrheit zu, gasten ein, traxten nieder, baggerten weg, erstellten wieder «Ruhe + Ordnung». Aber: «Wie man in den Wald ruft, so zaffarayt es zurück.»

Hundert hässige und vom morgendlichen Kampf verdreckte Jeans- und Lederculotten rotteten sich am Mittag auf der Hauptstrasse vor dem Hauptbahnhof zusammen. Der Verkehr kam zum Erliegen, als die DemonstrantInnen in der Innenstadt Hand anlegten. Nach dreistündiger Demo wurde beschlossen, sich aufzulösen, neue Kräfte zu tanken und sich am Abend wieder zu einer VV zu versammeln.

«Der Angriff durch die Räumung des Zaffarayas ist ein Angriff auf alle Frauen und Männer, die das herrschende System bekämpfen und in kollektiven und solidarischen Lebenszusammenhängen den Prozess des Widerstandes entwickeln und vorantreiben wollen», heisst es in einem Communiqué, das am Dienstagnachmittag an einer Pressekonferenz der ZaffarayanerInnen und deren SympathisantInnen verteilt wurde. Gefordert wurde unter anderem die «sofortige Freigabe des Landes Zaffaraya» und des Reitschul-Areals. Eine Frau zeigte eine tennisballgrosse Schwellung knapp unter des rechten Auges, herrührend von einem Gummigeschoss-Direktschuss aus nächster Nähe. Sie war nur eine von zahlreichen Verletzten an diesem Tag.

Bei Einfall der Dunkelheit platzte der Innenhof der Reitschule ob des VV-Andrangs aus allen Nähten. Die rostroten Backsteinmauern tanzten im Widerschein des Lagerfeuers. Im spärlichen Licht waren die Gesichter nicht erkennbar. Wie ein Armeleuteauflauf, eine moderne Brotrevolte. Die VV wurde aus Platzgründen unter freien Himmel verlegt, auf die Uni-Wiese, wo das Megaphon sprach: «Wir sind hier so viele, heute Nacht wird die Stadt uns gehören.»

Tausend lärmten durch die zum Leben erweckte Stadt. Mit Knebeln wurden Leitplanken und Verbotsschilder geschlagen, immer im gleichen Rhythmus: «Zaff, Zaff, Zaffaraya!» Ab und zu zerbarst eine Scheibe, Banksirenen heulten, Molis legten eine Polizeibaracke in Brand, Tränengas. Verschiedene Strassenkreuzungen wurden besetzt, bis dieser Vierzehnstunden-Demotag zu Ende ging.

Ein schönes Beispiel, wie sich das Zaffaraya Solidarität von Minute zu Minute vergrössert: Am Mittwoch, frühmorgens um sieben Uhr, standen drei verlassene MittelschülerInnen vor der Polizeikaserne, dem vereinbarten Treffpunkt für einen städtischen Schulstreik. Im Laufe des Morgens wuchs das verlorene Häufchen derart kräftig an, dass bis am Mittag rund 1500 SchülerInnen und StudentInnen Berns Strassen bevölkerten und – schon wieder – den Verkehr lahmlegten. Die SchülerInnen verabschiedeten einen Katalog mit 18 Forderungen, darunter die Rückgabe des Zaffaraya-Areals, die Öffnung der Reitschule, die Entkriminalisierung der ZaffarayanerInnen und stinkfrech den Rücktritt des Polizeidirektors Marco Albisetti und des Stadtpräsidenten Werner Bircher, beide FDP. Gleichzeitig mit den SchülerInnen traten auch zahlreiche soziale Institutionen in Bern und Umgebung in einen Streik. Bis WoZ-Redaktionsschluss hagelte es Solidaritätscommuniqués aus den verschiedensten Bereichen.

Zaffaraya lebt weiter: im Moment nicht (mehr) als realexistierende Zeltstadt, sondern als Idee eines beharrlichen Widerstandes, als Symbol für alternative Lebensformen in selbstverwalteten Freiräumen – thematisch nicht zu trennen vom Kampf um die Reitschule als «Autonomes Kulturzentrum.»

 

II [Bericht Seite 2]

Verstummte Zorntrommeln

 

Eine grosse Demo, ein aufgestellter Aktionstag, die Erklärung des Ausnahmezustandes, das Warten auf den Rechtsstaat hinter Barrikaden: Das waren die letzten Tage des befreiten Landes Zaffaraya in Bern.

Mitte letzter Woche bestätigte er Berner Gemeinderat (Exekutive) in einer Presseerklärung ein weiteres Mal sein viertes Ultimatum für das seit zweieinhalb Jahren befreite Land Zaffaraya: «In Würdigung von Zuschriften und Eingaben aus Bevölkerungs- und politischen Kreisen sowie in Beurteilung der rechtlichen Situation hält der Gemeinderat an seiner Verfügung fest. […] Der Gemeinderat appelliert an die Zaffaraya, die gesetzlichen Gegebenheiten zu akzeptieren und zu respektieren und das widerrechtlich besetzte Terrain auf den 15. November hin freiwillig zu räumen.»

Am Freitag. 13. November, kommt es dann zum «Eklat im Gemeinderat» (Bund), als bekannt wird, dass sich Gemeinderätin Gret Haller und Gemeinderat Alfred Neukomm (beide SP) von einer polizeilichen Räumung zum vornherein distanzieren. Für Haller war dies der zweite «schwerwiegende Bruch des Kollegialitätsprinzips» (Stadtpräsident Werner Bucher, FDP), nachdem sie sich vor einem halben Jahr – damals zum nachhinein – auch von derpolizeilichen Gasschlacht gegen die Anti-Atom-Demo vom 25. April 1987 distanziert hatte.

Am Samstag waren an der (unbewilligten) nationalen Demo zur Verteidigung des Lebensraums und der Lebensqualität zweitausend Leute unterwegs. Unter dem Motto «Mehr Freiheit – weniger Gemeinderat» wurde unter Berücksichtigung sämtlicher neuralgischer Verkehrsknotenpunkte eine nie gesehene Innenstadt-Demo abgeschritten.

Der sonntägliche Aktionstag im befreiten Land Zaffaraya begann mit einer Vollversammlung von mehreren hundert Leuten, an der das Netz, das am HausbesetzerInnen-Kongress auf dem Ballenberg am 20. September entstanden war, weiter geknüpft wurde. Häuserkampf-Gruppen informierten durch das VV-Megaphon über den Stand der Dinge in Biel, Basel, Genf, St. Gallen und Zürich sowie in den Berner Quartieren Lorraine, Breitenrain, Murifeld und Villette.

In Arbeitsgruppen wurde danach unter verschiedenen Aspekten der Kampf ums bedrohte Zaffaraya diskutiert: Schmiertaktik, Medien, Widerstandsformen, Koordination, Solidarität untereinander. Am Abend war klar: Über das befreite Land Zaffaraya wird ab 24.00 Uhr der Ausnahmezustand verhängt: möglichst viele Leute schlafen irgendwo im Gaswerkareal, das Jugendzentrum Gaskessel öffnet einen grossen geheizten Raum und die sanitären Einrichtungen rund um die Uhr; bei Räumungsbeginn sollen mit Telefonalarm möglichst viele Leute herbeigerufen werden; am Abend nach der Räumung: VV vor der Reithalle, wenn abgesperrt: auf der grossen Schanze.

In der Nacht zum Montag wurden die Zufahrtswege zum Zaffaraya mit grossen Barrikaden verbaut. Mit Funkgeräten ausgerüstete Wachposten beobachteten die Zufahrtswege zum Gelände. Ganz Bern wartete an diesem Tag vergeblich auf die militärische Durchsetzung des «Rechtsstaates».

Dienstag, 06.30 Uhr: In der Pergola sitzen ein Dutzend Leute übernächtigt ums Lagerfeuer, dahinter schlafen andere in Schlafsäcken. Es hat wieder begonnen, in die Stockdunkelheit zu regnen. Drüben in der Zaffaraya-Küche, einem niedrigen, schmalen Barackenbau, ist es warm, der Holzofen knackt, Kerzenlicht. Einer braut ununterbrochen Kaffee. Stehend trinken Leute, die durchnässt von draussen hereinkommen. Um den langen Tisch Dösende, Plaudernde, einer zupft an der Gitarre. Um sieben die Lokalradio-Nachrichten: Auch dreissig Stunden nach Ablauf des Ultimatums stehe das Zaffaraya noch. Dann: «Washington». Einige lachen auf: Nichts Neues ist eine gute Nachricht. Hinten im Raum beginnen zwei die dumpfen Zaffaraya-Trommeln zu schlagen: ein regelmässiger, starker Puls mit virtuosen Zwischenschlägen.

Eine halbe Stunde später sind sie gekommen.

13.00 Uhr: Jetzt, nach der Räumung, werden die Presseleute anstandslos aufs Gelände gelassen. Hier auf dem Kohlehügel ist gekämpft worden: Steine, Schaufeln, Farbeier, leere CB- und CS-Gaspetarden, Gummigeschosse. Es hat Verletzte gegeben, die vertriebenen VerteidigerInnen sind bereits oben in der Stadt an der ersten Protestdemo. Verhaftet wurde niemand. Die Türe zur Zaffaraya-Küche ist jetzt sperrangelweit offen, der Ofen kalt. Auf dem Tisch Zeitungen, Kaffeetassen, Brot, Butter. Hinten an der Wand lehnen drei hohe, schmale Trommeln, verstummt.

 

[Kasten]

Nationale Demo

Samstag, 21. November 1987, 14.00 Uhr, Münsterplatz Bern.
Die zwei Hauptforderungen an die Berner Stadtregierung:
• Platz auf dem Gaswerkareal zum sofortigen Wiederaufbau des Freien Landes Zaffaraya;
• sofortige Öffnung des gesamten Reitschule-Komplexes als «Autonomes Kulturzentrum». 

Ich danke Urs Frieden und Marie-Josée Kuhn für ihr Einverständnis, die beiden Beiträge an dieser Stelle zweitzuveröffentlichen.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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