Die Geschichte von Päuli Zürcher

 

Zum Journal B-Originalbeitrag.

 

Am 1. Februar 1945 stirbt in einer abgelegenen Berghütte im Ladholz, hoch über der dem Entschligtal, ein fünfjähriger Verdingbub. Der junge Pflegevater ruft den Dorfarzt in Frutigen an, er brauche einen Totenschein. Weil er aber keine Todesursache nennen kann, wird der Arzt stutzig und sagt: Ohne Leiche keinen Totenschein. So muss der Pflegvater das tote Büblein buckeln und selber ins Dorf hinunter. Der Dorfarzt traut seinen Augen nicht und sagt, diese Leiche müsse zur genaueren Untersuchung nach Bern.

Im gerichtsmedizinischen Institut in Bern bietet in den nächsten Tagen der Professor seinen Studenten exklusives Anschauungsmaterial, wie man sich in einer landärztlichen Praxis ein zu Tode misshandeltes Verdingkind vorzustellen habe. Über das, was er in dieser Vorlesung sieht und hört, schreibt ein anonym gebliebener Student einen Bericht und schickt ihn an die «Berner Tagwacht». Der Text erscheint am 16. Februar 1945 unter dem Titel «Das ist Kindsmord».

Eine Geschichte, die nicht mehr loslässt

Sie habe zwar über diese Geschichte «eine Erzählung» geschrieben, sagt Verena Blum-Bruni im Gespräch, aber so weit als möglich sei sie «knallhart an den Fakten» geblieben. Zum Glück. Sie weiss viel: Sie hat Päuli Zürchers Geschichte über viele Jahre recherchiert, bevor sie zu schreiben begonnen hat.

Dass sie von diesem Verdingkindertod nicht mehr losgekommen ist, hat auch mit ihrer Zeit im Staatsarchiv zu tun, wo sie einige Jahre gearbeitet hat. Beim Blättern in den Gerichtsakten wurde sie dort eines Tages mit der Fotografie konfrontiert, die 1945 im gerichtsmedizinischen Institut von der Leiche gemacht worden ist. «Ich habe danach eine zeitlang schlecht geschlafen.»

Später hat Blum-Bruni in den Akten den Hinweis gefunden, dass Päuli Zürchers leibliche Mutter, die man im Februar 1945 zur formellen Identifizierung nach Bern brachte, ihren Buben nicht wiedererkannt habe.

Frostbeulen, Blutergüsse, abgemagert

Vorzustellen hat man sich die Leiche des Fünfjährigen so: 1,01 Meter gross und 13 Kilo schwer, völlig abgemagert, für die Grösse mehrere Kilogramm zu leicht. Sichtbare Verletzungen: Frostbeulen an Händen und Füssen, an den Fingern aufgebissen; das Gesicht voller Blutergüsse und Wunden, das eine Auge völlig blau. Ebenso völlig blau der ganze Brustbereich; Schlagverletzungen am ganzen Körper (inklusive Penis); im Nacken ein Furunkel mit beginnender Blutvergiftung.

Die Obduktion ergab: Entzündungen an Bronchien, Lungen und Blase sowie ein Lungenödem, das möglicherweise im Zusammenhang mit der terminalen Herzschwäche zu sehen sei. Eine tödliche Verletzung, die auf Totschlag oder Mord hingewiesen hätte, wurde nicht festgestellt.

In ihrem Buch erzählt die Autorin die Geschichte dieses Buben. In sechs grossen Kapiteln schildert sie, wie grossbäuerliche Selbstgerechtigkeit eine arme Familie aus einer Emmentaler Gemeinde vertreibt; sie schildert das himmeltraurige Leben von Päulis mittellosen Eltern, einer tüchtigen Frau und einem Handlanger, der säuft; sie schildert die politischen Künste eines Armenkommissionspräsidenten in einer Oberländer Gemeinde, der die Kinder der aus dem Emmental zugezogenen, armengenössigen Familie möglichst billig loswerden will.

Sie schildert, wie die Lehrerin des Dorfes den Päuli nicht in Pflege nehmen darf, weil sie bloss eine alleinstehende Frau ist – und wie dank windiger Referenzen der Bub in einem Nachbardorf zu einem jungen Ehepaar der «Evangelischen» kommt. Schliesslich erzählt sie, wie der Verdingbub von seinen Pflegeeltern innert einem halben Jahr kaputt gemacht wird und wie dieses Paar beim Prozess im Schloss Thun zu kurzen, aber immerhin unbedingten Gefängnisstrafen verurteilt wird.

Showdown in Alphütte und Gerichtssaal

Vor allem aus Rücksicht auf Nachfahren der damaligen Pflegeeltern im Entschligetal hat Blum-Bruni alle Personen- und Ortsnamen verändert. Darum heisst Päuli Zürcher im Buch Peter Zahler. Trotz der Fiktionalisierungen lebt das Buch in erster Linie vom fundierten sozialgeschichtlichen Wissen der Autorin. Sie zeigt am Einzelfall, was mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen angerichtet wurde, wenn menschenverachtende Armenpolitik in den faktisch rechtsfreien Räumen behördlichen Schlendrians zusammentraf mit dumpfen, verblendeten Pflegeltern, die in diesem Fall vom alten Testament nicht viel mehr als die Aufforderung zur schwarzen Pädagogik verstanden haben: «Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald.» (Sprüche 13,24)

Bei Päuli Zürchers Geschichte darf man nicht vergessen: Hätte damals der Dorfarzt ungeschaut den Totenschein ausgefüllt, gäbe es sie nicht. Als der Schriftsteller C. A. Loosli am 6. März 1945 im «Tages-Anzeiger» unter anderem auf diesen Fall zu sprechen kam, meinte er, er sei bloss eines «von den unzähligen Verbrechen» die «an den sogenannten Verdingkindern im Kanton Bern» begangen würden.

Verena Blum-Bruni hat eine wichtige und insbesondere in den dramatischen Passagen in der Alphütte und im Gerichtssaal eindrückliche und bedrückende Erzählung geschrieben. Eine Geschichte, die nebenbei auch an all jene Verdingbuben und -mädchen erinnert, die spurlos aus der Welt gegangen worden sind.

Verena Blum-Bruni: Das gestrandete Schiff. Die Geschichte des fünfjährigen Verdingbuben Peter, Interlaken 2013, Verlag Schlaefli & Maurer, 300 Seiten, ca. 35 Franken.

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