Die Geschichte vom Jungfernkranich

Damals ging’s ohne Urnengang: Am 23. März 1982 wurde das Autonome Jugendzentrum (AJZ) an der Limmatstrasse in Zürich «mit einer generalstabsmässig vorbereiteten Aktion», wie die Zeitungen wussten, dem Erdboden gleichgemacht. Und weil damals – wie heute in der Drogenpolitik – die Stadtoberen von Zürich und Bern im Kampf gegen ihren Feind Seite an Seite vorgingen, suchte man in Bern intensiv nach einem Vorwand, um auch das hiesige AJZ – die Reithalle – zumachen zu können.

Am 13. April war der Grund gefunden, am 14. wurde das AJZ geräumt, am 15. schrieb der «Blick» auf der Titelseite: «Berner AJZ nach Kranich-Frevel geschlossen! Jetzt ist auch den Berner Stadtbehörden der Kragen geplatzt: Nach dem Frevel an einem Kranich des Tierparks Dählhölzli – ein ‘Bewegter’ hatte dem Vogel den Hals umgedreht und ihn zur Empörung der Bevölkerung im Begegnungszentrum gebraten – räumten gestern Polizeigrenadiere die ‘Reithalle’.» So wurde ein Jungfernkranich zum Symbol für die Niederschlagung der Berner Jugendbewegung.

Die Idee des autonomen Kultur- und Lebensraums beunruhigte Bern jedoch weiter. Im Herbst 1987 führte die städtische Räumung der seit 1985 entstandenen autonomen Hüttensiedlung «Zaffaraya» zu neuem Aufruhr. Die Stadtoberen sahen sich gezwungen, die Reithalle wieder freizugeben; im Gegenzug gelang es ihnen, die «Zaffaraya»-Leute zu befrieden und – in Etappen – auf einen stillgelegten Autobahnzubringer vor die Stadt abzuschieben. Die Befriedung der Reithalle-Leute dauerte dann wesentlich länger: Nach vierjährigen, zähen Verhandlungen hat sie die Stadt eben letzthin mit einem Gebrauchsleihevertrag an die Leine nehmen können. Jugendpolitik im öffentlichen Raum hiess von AJZ bis Kocherpark: die Szenen zerschlagen, die Leute juristisch knebeln und/oder fürsorgerisch endlagern. Politische Opposition sedimentierte zur administrativen Überwachungsaufgabe.

Und neuerdings zur künstlerischen Fragestellung: Ende November 1991 lancierte das Berner Stadttheater etwas, was sein international zusammengewürfeltes Management vermutlich für besonders originell hielt: Nämlich Zaffaraya als Rock-Musical unter dem Titel «Der Kranich». Dem Autor Hansjörg Schneider ging es – so die Vorankündigung – um die «Konflikte, die die westeuropäischen Gesellschaften zu spalten drohen», um den «Gegensatz zwischen extrem unterschiedlichen Lebensmodellen, zwischen Infragestellung und Beharrung».

Nun ja. Kunst hat schon immer auch vom effektvollen Fleddern politischer Konflikte gelebt. Dass «Der Kranich» in Bern trotzdem kein Thema geworden ist, hängt vermutlich damit zusammen, dass hier sehr viele Leute aus eigener Erfahrung den Unterschied kennen zwischen Zaffaraya und «Kranich»: Es ist jener zwischen Verändern und Interpretieren, wie ihn Meister Marx so schön beschrieben hat: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.» Schneider hat einen – übrigens nicht vollständig gescheiterten – Veränderungsversuch zur abendfüllenden Unverbindlichkeit fiktionaler Interpretation vergeistigt.

Die Geschichte vom Dählhölzli-Jungfernkranich ist ein Lehrstück auf die Alchimie, die aus politischem Widerspruch Kunst destilliert: Die Bewegung der «Kulturleichen» (wie sich die Zürcher Bewegten 1980 selber genannt haben) war staatsverunsichernde Rebellion, die Rock-Musical-Bewegungsleiche ist staatserhaltende Kultur. Der Kranich, den sie damals aus Hunger frassen, flattert heute den Abonnementssenilitäten nährend durch die Seele.

Noch etwas: Am 30. November 2001 kommt es im Schauspielhaus Zürich zur Uraufführung der Komödie «Der Urnengang». Auf witzige Art wird darin mit dem zürcherischen Establishment abgerechnet, das anno 1991 an der Urne die Schliessung des Kanzleizentrums erzwungen hatte. Als das Premierenpublikum dem artigen Jungautor Wolfgang C. Blocher – übrigens ein Pseudonym: Blocher ist Sohn eines Schulhausabwarts in Zürich-Altstätten – begeistert applaudiert, bersten im Foyer die ersten Fensterscheiben. Wolfgang C. ruft, fluchtartig abgehend: «Das habe ich nicht gewollt!» Draussen Sprechchöre: «Eins, zwei drei: viele Kanzlei!» Die Polizei ist schon unterwegs.

In der WoZ erschien der Kommentar unter dem verkürzten Titel «Vom Jungfernkranich».

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