Die Freiheit, selber zu entscheiden

Der «Schnittpunkt» ist ein unscheinbarer Laden im Berner Breitenrainquartier. Wer hier mit der Schere arbeitet, nennt sich nicht «Coiffeuse» sondern entweder «Haarschneiderin» oder «Stoffschneiderin». Vom Viererteam schneiden zwei Kolleginnen Haare, eine arbeitet als Schneiderin und eine tut beides. Jutta Tretow: «Ich nenne mich Haarschneiderin, weil ich nicht alles anbieten will, was ich als Coiffeuse gelernt habe. Ich mache zum Beispiel keine Dauerwellen. Mir stinkt es im wahrsten Sinne des Wortes, bei der Arbeit dauernd ätzende Dämpfe einzuatmen.»

Zum Gespräch bittet sie in die Küche hinter dem Laden. Dieser sieht so aus, wie ihn ein Coiffeurmeister in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingerichtet haben mag: viel Holz und drei altertümliche Frisierstühle, sehr gemütlich. Ein Nebenraum dient als Nähatelier, ein zweiter als Stofflager, im Gang zwischen Laden und Küche stapeln sich auf Tablaren sauber geordnet die Haarfärbemittel.

Arbeitsplatz mit Kinderzimmer

Als Jutta Tretow 1995 gefragt wird, ob sie als Stellvertreterin für ein Jahr beim «Schnittpunkt», der seit 1984 existiert, einsteigen wolle, schluckt sie leer: Eigentlich hat sie längst mit dem Beruf der Coiffeuse abgeschlossen. Sie bedingt sich einen Schnuppertag aus. Danach weiss sie: Was sie an ihrem Beruf wirklich gestört hat, sind Dauerwellen und Lockenwickler. Aber Haare schneidet sie leidenschaftlich gern. Nach dem Stellvertretungsjahr gehört sie zum Team und bleibt: «Hier habe ich die Freiheit zu entscheiden, was ich machen will und was nicht. Als Angestellte musste ich tun, was der Chef verlangte.»

1995 arbeiteten drei Mütter im «Schnittpunkt». Deshalb bauten sie den Raum des heutigen Stofflagers für einige Jahre zum Kinderzimmer um: «So hatten unsere Kinder die Möglichkeit, in unserer Nähe Aufgaben zu machen oder zu spielen.»

Gearbeitet wird hier selbständig, allerdings zu einheitlichen Preisen. Teamsitzungen gibt’s bei Bedarf, manchmal nur alle halbe Jahre. Vieles wird zwischen Tür und Angel besprochen und erledigt. Ein bestimmter Prozentsatz der individuellen Einnahmen geht in die «Schnittpunkt»-Kasse zur Begleichung der Miete und der gemeinsamen Renovations-, Infrastruktur- und Materialkosten.

Dass in dieser Branche viele versuchen, selbständig zu arbeiten, versteht der zuständige Unia-Sekretär Robert Schwarzer nur zu gut. Sein Engagement für die rund dreihundert organisierten Coiffeure und Coiffeusen ist mühsam: Zurzeit herrscht ein vertragsloser Zustand. Wegen einer fortschrittlichen Mutterschaftsregelung und 3400 Franken Minimallohn hat der heterogene Coiffeurmeisterverband, in dem vom städtischen Spitzensalon bis zum Einmannbetrieb mit Aushilfe auf dem Land alles vertreten ist, den fertig ausgehandelten GAV platzen lassen. Im Dezember beginnen die Verhandlungen von vorn.

Körperliche Kundennähe

Jutta Tretow arbeitet in drei Tagen ungefähr achtzig Prozent. Die erste Kundin kommt gewöhnlich um acht – Kunden sind seltener: «Männer tun sich schwer, sich voranzumelden. Für Frauen ist das kein Problem.» Wenn nötig arbeitet sie in den Abend hinein: «Es gibt immer Leute, die sich nach der Arbeit noch schnell die Haare schneiden zu lassen möchten.» Dafür, dass der «Schnittpunkt» gut ausgelastet sei, gebe es drei Gründe: «Die einen schätzen die günstigen Preise; die zweiten die spezielle Ambiance des Ladens; die dritten die Art, wie wir hier schneiden oder färben.»

Speziell an ihrem Beruf sei nicht nur, dass man den ganzen Tag stehe: «Das Berühren des Kopfes ist etwas Intimes. In kaum einem anderen Beruf kommt man den Kunden und Kundinnen so nahe wie beim Haareschneiden.» Sie habe früher «in herkömmlichen Läden» immer wieder erlebt, dass die Kundinnen die Coiffeusen als «Klagemauer» missbraucht und gesprächsweise alle ihre Probleme abgeladen hätten. Der «Schnittpunkt» habe zum Glück eine andere Kundschaft: «Hier geht es mehr um einen Austausch – manchmal belanglos, manchmal intensiv.» Es komme schon vor, dass sie während der Arbeit Ehe- oder Kinderprobleme bespreche. Belastend werde es, wenn es um Krankheiten gehe. Schon mehr als einmal hat sie erlebt, dass eine langjährige Kundin angerufen und gesagt hat, sie komme vorderhand nicht mehr, weil sie wegen der Chemotherapie ihre Haare verloren habe.

Was den «Schnittpunkt» von Coiffeursalons unterscheidet: Die professionelle Distanz zur Kundschaft kein Dogma ist, sondern mit gesundem Augenmass gehandhabt. Jutta Tretow: «Einige meiner Kundinnen sind unterdessen zu Freundinnen geworden, mit denen ich ab und zu einen Kaffee trinke oder ins Kino gehe.»

 

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Das kleinste Übel

Jutta Tretow wird 1961 in Hannover geboren. Als Jugendliche schwänzt sie das Gymnasium so fleissig, dass sie mit 18 von der Schule fliegt. Da werden ihre Eltern – ein Alt-68-Paar – streng: Am Tag nach der Schulentlassung geht der Vater mit ihr auf das Arbeitsamt. Das kleinste Übel, das die Beraterin anbietet, ist Coiffeuse. Noch am gleichen Tag findet sie eine Lehrstelle und beisst sich durch die dreijährige Ausbildung. Nach einem Jahr Berufpraxis erhält sie die Chance, befristet für ein Jahr in Hamburg als Geschäftsführerin einen Salon mit mehreren Angestellten und Lehrlingen zu leiten – was sie prompt schafft. Nach der Rückkehr nach Hannover und anderthalb weiteren Berufsjahren wird sie schwanger und alleinerziehende Mutter. Sie hängt den Beruf an den Nagel.

1991 folgt sie ihrem Partner in die Schweiz. Hier arbeitet sie zuerst als Tagesmutter, dann führt sie einen Secondhand-Kleiderladen. 1995 steigt sie beim «Schnittpunkt» ein. Sie ist in keiner Gewerkschaft und lebt mit ihrem Partner und der heute 21-jährigen Tochter in Bern. Mit der Arbeit verdient sie genug, um ihren Anteil an der Familie zu bestreiten.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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