Die Drachen sterben nicht aus

Als Kunst- und Theaterkritiker hat man ihn in Bern gekannt. Dass er auch kunst-, kultur- und lokalhistorische Arbeiten publiziert hat, haben Interessierte gewusst. Dass er aber in seiner Freizeit – in seinen letzten 25 Lebensjahren ausschliesslich für die Schublade – schriftstellerisch gearbeitet hat, wissen die wenigsten. René Neuenschwander (1911-1987) hinterliess – neben einem Romanfragment – neun umfangreiche Erzählungen, «Rat Rainers magische Papiere», die er Mitte der achtziger Jahre dem Zytglogge Verlag anbot, der sie jedoch schliesslich, trotz der Fürsprache ihres Lektors Willi Schmid, auch nach Neuenschwanders Tod nicht verlegen mochte.

Für diese geplante Buchpublikation hat Neuenschwander einen Klappentext entworfen. Darin sagt er zum einen, alle Geschichten wurzelten «in persönlich Erlebtem», zum anderen, die dargestellten Ereignisse lägen «durchschnittlich vierzig bis fünfzig Jahre» zurück. So richtet sich, wer das Buch in die Hand nimmt, auf das Bern und das Bernbiet zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ein und findet auch wirklich Spuren, Indizien und Fragmente, die in jene Zeit verweisen. Im ganzen aber öffnet sich bei der Lektüre immer mehr eine fremde Welt, fantastisch, bedrohlich, grotesk, zusammengehalten von einer merkwürdig (alb-)traumhaften Logik: Das ist das magische Universum des Rat Rainer, eines nur grob skizzierten, etwas schrulligen Privatgelehrten, der als Ich-Erzähler durch die Geschichten führt.

Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre machte Neuenschwander als Vaterfigur in der bernischen, reformpädagogisch und literarisch interessierten Jugendgruppe «Tägelleist» mit. Damals hat er seine Beiträge in der Tägelleist-Zeitung «Sinwel» ab und zu mit «Rat Rainer» gezeichnet. Der Erzähler Rat Rainer ist also offenbar Neuenschwanders magisches alter ego. Oder ist René Neuenschwander umgekehrt die biedere Maske von Rainer, dem Geheimrat einer sehr unzeitgemässen Weltsicht? An der Buchvernissage der nun unter dem Titel «Die Knochenmühle», dank finanzieller Mittel der Angehörigen im Ott-Verlag in Thun veröffentlichten Erzählungen hat der ehemalige Tägelleistler Zeno Zürcher seinen väterlichen Freund als «Dissidenten» charakterisiert: «Für ihn ist Rationales und Irrationales kein Gegensatz. Er ist ebenso seriöser, akribischer, ja enzyklopädischer Intellektueller wie sensibler Esoteriker. Beides sind nur Facetten einer komplexen, für uns verwirrlichen Realität.» Und weiter: «Seine Erzählungen, die uns in ihrer Komplexität vorerst kapitulieren lassen, sind sorgfältig komponiert und immer wieder von Grund auf überarbeitet.»

Aber bitte, überzeugen Sie sich selber: Eben steigt Rat Rainer die Treppe zu einem Altstadtkeller hinunter und schaut einem jungen Künstler zu, der eine Radierung von der Platte zieht: eine alte Mühle mit zerfallendem Gemäuer, eine merkwürdig unheimliche Darstellung, die den sensiblen Rat ins Bild hineinzuziehen droht. Er verlässt den Keller fluchtartig, verlässt die Stadt «mit ihren Bedrückungen, Fesselungen, ihrem anonymen Leistungszwang», findet einen Weg über Land, den er nicht kennt und steht bald vor jener Mühle, vor deren Darstellung er eben geflohen ist. So beginnt die Erzählung «Die Knochenmühle». Bald kommt Rat Rainer dahinter, dass in dieser Mühle Knochen gemahlen werden, Menschenknochen notabene. Aus dem Knochenmehl stellt die KNOCHAG ein rezeptpflichtiges Knochenstärkungsmittel für Kinder her. Später stösst er auch auf die Konkurrenzfirma der KNOCHAG, die KREMAG, bei der man von der «möglichst unmittelbaren Rückgabe des aus der Natur abgezweigten Stoffes in den Schoss der Grossen Mutter» schwärmt und im übrigen von der propagierten Feuerbestattung lebt. Schon meint man, ein Sinnbild auf die nekrophilen Züge des kapitalistischen Konkurrenzkampfes zu erkennen, da fällt Rat Rainer bei der Erforschung der geheimnisvollen Mühle, weil er einem Zwerg ausweichen muss, in ein finsteres Verliess und landet auf einem Berg Totenschädel, dann öffnet sich «ein verborgener Schieber», ein Sack fällt über seinen Kopf, er stolpert und fällt von neuem und erwacht im «weissen Linnen» neben einer Frau, die «durchaus nicht aus Marmor» ist und ihm vorwirft: «Eine Gespensterjagd in kalten Gewölben erregt dich stärker als ein liebendes Herz an deiner Brust». So stürzt, stolpert und fliegt Rat Rainer auf seiner «Gratwanderung zwischen der wirklichen und der vorgestellten Welt» durch anrührende Bilder und befremdliche Geschichten: halb hermetische Symbolik, halb raffiniert konstruiertes Metapherngestöber. Alle Erkenntnis bleibt unsicher und mehrdeutig.

Einmal besucht Rat Rainer den Chästeilet im Justistal, um kurz darauf Kurse in Kirchturmklettern zu nehmen und zu erforschen, wie elsässische Kirchtürme an US-amerikanische Städte verschachert werden («Die Kreuzrose»). Einmal erzählt Rat Rainer «Die seltsame Geschichte des Kolossalmalers Karl Krappus», hat dabei die Geheimnisse des Ginkijo-biloba-Baums zu studieren und begegnet auf der Suche nach dem verschollenen Krappus einem Wirt, der ihn belehrt: «Gewissheit ist der dümmste und schönste Glauben auf der Welt». Einmal begegnet er dem Herrn Miltiades, einem höchst geheimnisvollen Exilanten, der in der Stadtbibliothek sitzend für seine athamanische Heimat in der eigens dafür entwickelten neupelasgischen Schrift eine Verfassung entwirft und dabei von unheimlichen Katzen bedroht wird («Der schwarze Kater»). Einmal berichtet er über seinen «Onkel Saurus», einen pensionierten Schulmeister, der nicht nur Versteinerungen von längst ausgestorbenem Urgetier sammelt, sondern sich auf der Suche nach dem Urzeitdrachen Lewjathan mit dem falschen Propheten Ormony zusammentut und zuoberst in den Bergen in einer Höhle Drachen züchtet.

Aber ist Neuenschwander nicht einfach ein zwar zweifellos braver, aber doch hoffnungslos provinzieller Schreiber, passagenweise verstaubt bis in Wortwahl und Satzbau, ein hoffnungslos verspäteter Nachzügler der Romantik, ein Epigone von Novalis und E. T. A. Hoffmann? Richtig ist, dass Neuenschwander ein Kenner und Liebhaber der romantischen Literatur gewesen ist. Aber das besagt wenig: Jeder, jede wurzelt in Traditionen, jedes «Eigene» ist ein Amalgam aus Angeeignetem. Daher schlage ich vor, Neuenschwander zu lesen als bemerkenswerten (und unterhaltenden) Fantasy-Autoren, der in seiner Erkenntnisskepsis, in der Fragmentierung der dargestellten Wirklichkeit durchaus modern ist (passagenweise bis in Wortwahl und Satzbau). Und ich schlage vor zu prüfen, ob an diesen Texten nicht mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit weist, ob sie im Bereich der Fiktion nicht eine Zeit aufscheinen lassen lange nach den verwüstenden Begradigungen, die die zur Waffe der Eindimensionalität verstümmelte Vernunft in diesem Jahrhundert angerichtet hat.

René Neuenschwander: Die Knochenmühle. Rat Rainers magische Papiere. Erzählungen, Thun (Ott Verlag) 1993.

Veröffentlicht worden ist der Text vom damaligen «Bund»-Feuilletonredaktor Charles Linsmayer unter dem Titel «Von provinziell-verstaubt bis hypermodern». 

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