Die bösen Bilder…

Im zweiundzwanzigsten Gesang der Homerschen «Odyssee» tritt Odysseus, nach jahrelangen Irrfahrten nach Hause zurückgekehrt, zur Rache an den schlemmenden Freiern an, indem er sie allesamt abschlachtet. Der erste Pfeil trifft Antinoos, den Anführer:

   «In die Kehle drang ihm der scharfe Pfeil des Odysseus,
   Und durch das zarte Genick hindurch fuhr die schneidende Spitze.
   Nach der Seite hin stürzte er um. Hervor aus den Nüstern der Nase
   Quollen im Ströme von Blut; er stiess sogleich mit den Füssen
   Von sich den vollen Tisch. Die Speisen fielen zur Erde,
   Brot und gebratenes Fleisch, benetzt vom Blut des Getroffenen.»

Von den bösen Freiern überlebt keiner. danach haben die Frauen, die sich während Odysseus’ Abwesenheit «schlecht aufgeführt» haben, die Leichen der Freier hinauszutragen und den Saal zu reinigen, bevor sie aufgehängt werden:

   «[…] so starben sie jammervoll klagend,
   zappelnd und zuckend noch mit den Füssen, aber nicht lange.»

Zum Schluss nimmt man sich den Ziegenhirt Melanthios vor, den man vorübergehend an Händen und Füssen gefesselt und über einen Balken unter die Decke hinaufgezogen hatte. Nun führt man ihn in den Hof hinaus:

   «Schnitten ihm Nase und Ohren ab mit schneidendem Erze,
   Rissen die Scham ihm heraus und gaben zum Frass sie den Hunden,
   Hieben in schwerem Zorn ihm Hände ab auch und Füsse.»

Dergestalt vollendet der göttergleiche Odysseus seine Rache in betörenden Hexametern; formvollendet unmenschlich, Weltliteratur, Brutalität explizit zelebriert bis an die Grenze des Mediums.

*

Zu Beginn der medienkritischen Fernsehsendung vom 19. Oktober 1982 zum Thema Video wurde eine Sequenz aus dem Trailer zum Film «Muttertag» ungekürzt abgespielt. In einem ersten Votum zur Sequenz gaben sich die Diskussionsteilnehmer entsetzt, empört, erschüttert. Der Inhalt:

   Sequenz Waldweg, ca. 2’30’’

   (0’’:)

   Hellgrün der Wald. Das Auto bockt, bleibt stehn.
   Aus steigt die Alte, will zum Motor sehn.
   Im Fond des Wagens räkelt sich ein Mann.
   Vorne stellt die junge Frau das Radio an.

   (30’’:)

   Musik erklingt. Durchs offne Fenster fährt,
   und köpft den Mann im Fond, ein Schwert.
   Die Frau schreit auf und ein Maskierter packt
   sie: will sie auf dem Autodach und nackt.

   (50’’:)

   Rittlings ein zweiter schlägt ihr ins Gesicht,
   schlägt brüllend blutig, bis die Alte spricht:
   «Das reicht.» Zum Opfer sagt sie sacht:

   (1’50’’:)

   «Ich liebe dich.» Und würgt sie langsam drauf
   zu Tod. Zu ihren beiden Söhnen blickt sie auf:
   «Ich danke euch, ihr habt mich froh gemacht.»[1]

Im Vergleich zur «Muttertag»-Sequenz im Film wirkt die verbale Umsetzung brav, obschon der Inhalt der Sequenz wiedergegeben wird: Die Form überwiegt den Inhalt, das Medium bestimmt die Wirkung. An der Darstellung verübter Gräuel scheitert die Sprache. Für das Mass heute denkbarer und realer Gewalt und Zerstörung ist die Sprache an sich ein Euphemismus. Der Satz «Eine Frau langsam zu Tode würgen» ist in erster Linie eine Ansammlung von phonetischen Zeichen. Der Inhalt der Aussage überträgt sich erst, wenn sich der Lesende etwas vorstellen, etwas einbilden kann beim Lesen, wenn er sich ein inneres Bild vom Zu-Tode-Würgen machen kann.

*

Weil sie dem Rezipienten diese Umsetzungsarbeit abnehmen, erzielen bildliche Darstellungen des Entsetzlichen eine viel stärkere Wirkung. Zur Wahrung und Mahnung vor weltlicher und göttlicher Rache wurden solche Bilder seit jeher eingesetzt. Auch ihre Trivialisierung, ihre Massenproduktion wurde nicht erst mit der Videokassette entdeckt.

Aber erst die Darstellung von Handlungsabläufen erzeugt die Identifikation mit den Protagonisten. Erst das Darstellen des Vorher und Nachher, die Taten des Helden, die ein Einzelbild nicht zeigen kann, erzeugt die Faszination der Bildfolge des Comics. Die Grenzen hier: Ein Comic kann nicht «realistisch» sein. Er muss sich immer damit begnügen, einen Handlungsablauf mit einzelnen, charakteristischen Standbildern zu suggerieren. Der Comic löst sich in einzelne, meist lapidare und unverständliche Einzelbilder auf, wenn der Betrachter nicht von einem Bild zum andern zu «lesen» versteht, wenn er sich die Übergänge nicht vorstellen kann.

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Die kreative Arbeit, durch Schaffung innerer Bilder die vorgegebene Geschichte zu ergänzen, wird dem Betrachter von Filmen abgenommen. Der Film schafft die Übergänge. Dies ist einer der Gründe, warum der Film «Realität» suggerieren kann. Ein anderer Grund ist der, dass Film den Betrachter auf der akustischen und optischen Ebene gleichzeitig «eindeckt». Der Betrachter begibt sich in die grösstmögliche Passivität, meldet sich aus seiner Realität ab und füllt das entstehende Vakuum mit der «Realität» des Films auf. So gesehen ist Film Realität.

Der Film lenkt das Sehen des Betrachters: Die Kamera diktiert den Bildausschnitt. Der Film ist vor-gesehen, vor-gehört, vor-gedacht. Für die Darstellung von Gewalt und Brutalität stehen dem Film schier grenzenlose Manipulationsmöglichkeiten der Film-«Realität» zur Verfügung: Mit Raum und Zeit kann er beliebig spielen, Handlungsabläufe kann er beschleunigen und verlangsamen. Jede beliebige Bestialität kann er mit Filmtrick, Masken und mit Schnitt (gepaart mit der entsprechenden Tonspur) auskosten, überzeichnen. Hier wird eine der Schwächen, der Grenzen des anspruchsvolleren zur Stärke des Trivialfilms: Im Film gibt es keine andere Zeit als die Gegenwart, im Film ist immer «jetzt» und immer Realität! Diese Tatsache, die jenem Filmemacher Probleme aufgibt, der Vorschau/Rückblende oder verschiedene Bewusstseinsebenen darstellen will, wird zur suggestiven Stärke aktions- und gewaltgeladener Sequenzen, sie wird zur Stärke von Filmen, die es darauf anlegen, den Betrachter hereinzunehmen, ihn mit der unausweichlichen Gegenwart der Filmrealität gefangenzunehmen und zu schockieren.

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Ein ungeschriebenes Gesetz des Brutalo-Films heisst: Verpflanze die Story in utopische Zeiten und/oder exotische Welten. Nur so kann verhindert werden, dass der «Jetzt»-Sog der grausigen Bilder nicht mit gesellschaftlicher Realität kollidiert: Man stelle sich vor, eine Schauspielerin würde als prominente Schlagersängerin aufgemacht und misshandelt oder eine Horde Zombies überfiele zum makabren Massaker den Nationalratssaal. Das Brutalo-Geschäft wäre vermasselt.

Das zweite ungeschriebene Gesetz: Das Klischee des Schuld-Sühne-Mechanismus soll plump und klar hergestellt werden: Das Böse soll eine Stunde lang so richtig blutrünstig böse sein, damit das Gute so etwa eine Viertelstunde vor Schluss des Films umso blutrünstiger die gerechte Rache vollziehen kann. Dieses Schema macht die Identifikation für den Betrachter einfach und moralisch Pingeligen kann erwidert werden, das Gute habe obsiegt, und das sei genau das, was wir doch alle wollten.

Genau so einträchtiglich, wie die Brutal-Produzenten sich an diesen zwei ungeschriebenen Gesetzen orientieren, missachten sie ein Film-Tabu, das in sehr vielen Filmen noch heute Bestand hat: Brutalität, die über stilisierte Schlägereien oder Schiessereien hinausgeht, wird insofern tabuisiert, als sie nur implizit angedeutet wird. Wenn im eben angelaufenen Pink-Floyd-Film «The Wall» graue Schüler/innen in Einerkolonne vorwärtstrippelnd nacheinander kopfüber in eine riesige Maschine fallen und ein Kameraschwenk nach unten zeigt, dass dort spaghettiartige, rötliche Würste aus der Maschine gepresst werden, so bedeutet das, dass sich jeder Betrachter ad libitum ausmalen soll, wie die Kinder in der Maschine verwurstet werden. Gegen dieses Tabu verstösst der Brutalo-Film konsequent. Für ihn ist die Durchbrechung dieses Tabus das eigentliche (und wohl oft einzige) Verkaufsargument. Gewalt wird explizit dargestellt. Gewalt wird zelebriert. Die üppige Ausmalung von Gewalt wird zum Selbstzweck.

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Gewalt und Brutalität können im Film drei Funktionen einnehmen. Sie können dokumentieren, sie können Mittel zum Zweck einer bestimmten Aussage oder aber als Selbstzweck, zur «Unterhaltung» eingesetzt werden.

Dokumentarisch sind Filmbilder der Falangistenmassaker von Sabra und Shatila (wobei mir nicht klar ist, was sie in Heinigers/Piccards medienkritischer Fernsehsendung dokumentieren sollten)[2]. Beispiele für Gewalt als Mittel zum Zweck einer Aussage: Der letzte Film von Fassbinder zeigt detailliert und ausführlich, wie Querelle mit dem Messer einen anderen Matrosen ermordet[3]. Oder: In Rosselinis Film «Roma, città aperta» wird über Minuten hin eine Hauptperson zu Tode gefoltert.

In Bezug auf die zur Diskussion stehenden Filme, die Gewalt und Brutalität als blosse «Unterhaltung» vermarkten, meint Hans ten Doornkaat: «Als Massenkommunikationsmittel sind die Horror- und Sexfilme staatspolitische Kräfte, die politisch ein äusserst bedenkliches Wertsystem vermitteln» (Tages-Anzeiger, 2.10.1982). Zu vermuten ist, dass kein gesellschaftlicher Konsens über ein Wertsystem besteht, das dem durch Brutalos vermittelten entgegengehalten werden könnte. Es ist sogar anzunehmen, dass das «politisch äusserst bedenkliche Wertsystem», das Brutalos vermitteln, das real existierende ist: Brutalos als Spiegel jener Wertsysteme, die uns beherrschen. (Dies wäre immerhin eine Erklärung dafür, warum die Diskussion über das «politisch äusserst bedenkliche Wertsystem» übergangen wurde zugunsten des Jugendschutzes, um den es höchstens sekundär geht.)

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Der totalen Passivität, dem Ausgeliefertsein des Kinogängers setzt Video eine scheinbar grössere Autonomie des Betrachters gegenüber: Jeder Videorecorderbesitzer wird zum Operateur seines Home-Kinos: Er bestimmt das Programm (aber der Video-Markt seine Welt). 40 Prozent der Videorecorderbesitzer benützen diesen an drei oder mehr Tagen pro Woche[4].

Das einmal Gesehene kann beliebig reproduziert, die Kassette so lange wie nötig gemietet oder gleich gekauft werden. Das Angebot des Video-Marktes stellt dasjenige des Fernsehens auf dem Gebiet der Spielfilme schon heute bei weitem in den Schatten. In einer Statistik in «Media Perspektiven» 3/1982 werden von 1780 Filmen nur gerade 764 unter der Rubrik «Unterhaltung aller Art» als explizit «auch im Fernsehen zeigbar» bezeichnet. In der Rubrik «Western, Krimi» wären von 260 Filmen «die Hälfte im Fernsehen kaum zeigbar». Gar nicht fürs Fernsehen vorgesehen sind die Filme der Rubriken «Sex und Erotik» (330), «Brutal-Filme, Eastern, Horror» (307) und «Harte Action, Krieg» (118).

Und sind einzelne Passagen des eingelegten Films besonders «geil» oder «grusig» oder beides, können sie dank der Videotechnik als Standbilder genossen und – sollte die Pointe im Detail liegen – erst noch dank Knopfdruck näher herangezoomt werden. Jederzeit besteht die Möglichkeit des Zurückspulens und des Replay.

Freilich wird die totale Passivität des Betrachters nur scheinbar aufgehoben. Der einzig wirklich aktive Aspekt des Videos, die Arbeit mit der Video-Kamera und mit ihr die Auseinandersetzung mit der Realität ist nicht sonderlich gefragt: Nur 8 bis 10 Prozent der Recorderbesitzer im Amateurbereich schaffen sich auch eine Kamera an[4].

Wichtiger als die (wirklich) aktive Nutzung der Videotechnik scheint dieser Aspekt: Video privatisiert den Film als Visualisierung geheimer Fantasien: Das (gesellschaftlich relevante) Tabu bleibt unangetastet, seine Visualisierung wird vermarktet. Im trauten Heim redet keiner drein. Jede soziale Auseinandersetzung, jede soziale Kontrolle fällt weg. Sex und Brutalität werden angeschaut ohne den peinlichen Augenblick vor dem Kino und an der Kinokasse. Das klammheimliche Aufgeilen im dunklen Kinosaal ist zum hemmungslosen Ausleben unter Wahrung des Tabus geworden: Wer die Kaufscheu überwunden hat – und dabei hilft man ihm gern – ist niemandem mehr Rechenschaft schuldig – am wenigsten sich selber. Man nimmt es auf sich, noch für einige Stunden die Hochburg der eigenen vier Wände zu verlassen und seiner längst als entfremdet analysierten Arbeit nachzugehen, um sich die audiovisuellen Krücken seiner sprachlosen Phantasie in der heilen Welt seiner überzahlten Wohnung leisten zu können.

[1] Dieses Sonett habe ich später im «Konvolut»-Zyklus «1986» unter die «poetischen konstellationen» (dort S. 211) aufgenommen. 

[2] Wie die WoZ hatte sich damals zuvor auch das Schweizer Fernsehen in die Mediendebatte um die «qualitativ neue Umsetzung von Gewalt» eingemischt, unter anderem mit dokumentarischen Bildern zu den Massakern an palästinensischen Flüchtlingen in Sabra und Shatila zwischen dem 16. und dem 18. September 1982.

[3] Der Film «Querelle» war eben angelaufen und der letzte des Regisseurs Werner Maria Fassbinder, der am 10.6.1982 verstorben war.

[4] nach: Funk-Korrespondenz Nr. 38, 22.9.1982. [Diese Anmerkung brachte auch die WoZ damals, fl.].

Der Beitrag war der zweite Teil eines Dossiers. Den ersten schrieb Lotta Suter (unter dem gleichen Gesamttitel «Die bösen Bilder…»). Sie setzte sich kritisch mit der Doppeldeutigkeit und Verlogenheit der breit geführten Mediendebatte auseinander, die zwar vordergründig wertkonservativen Bildverboten das Wort redete, aber durch verkaufsfördernd visualisierte Bildbeispiele in erster Linie als Public Relations-Kampagne für die damals stark wachsende Video-Industrie wirkte. Entsprechend kündigte die WoZ ihr Dossier auf der Seite 1 unter dem Titel «Die videologische Gewalt» an.

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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