Dessertfrüchte im Akkord

Über dem topfebenen Land hängen die Wolken tief, in der Luft ab und zu einige Regentropfen. Das Feld liegt an einer Kreuzung zwischen Walperswil und Kappelen im Berner Seeland. Auf vier Hektaren Boden stehen schnurgerade gesetzte doppelte Reihen von Erdbeerstauden. In den Trampelpfaden dazwischen kauern an diesem Vormittag 58 Pflückerinnen und Pflücker – rund zwanzig aus Portugal und dreissig aus Polen, dazu einige Asylsuchende und Arbeitslose.

In den strohbelegten Pfaden liegen, teilweise zertreten, angefaulte oder überreife Früchte. Sie dürfen nicht an den Stauden bleiben, sonst verderben sie die reifenden. Weiter vorn, die kniende Frau mit der um den Bauch geknüpften roten Wolljacke, das ist Almerinda de Matos. Vor sich hat sie den «Ferrari» – einen Schlitten mit Kinderwagenrädern und einem Handgriff zum Schieben, auf dem ein grüner Plastikharass mit zehn Kartonschachteln steht, Aufdruck: «Schweizer Früchte / Erdbeeren / Klasse 1 / 500 g netto». Volle Harasse tragen die Pflückenden an den Rand des Felds, wo sie ein Arbeiter mit einem Loch in die Pflückkarte quittiert und auf Palette stapelt – bis am Mittag sind weit über eine Tonne Früchte geerntet.

Flink verschwinden Almerinda de Matos’ Hände im Kraut der Stauden, knicken die Stengel hinter den Früchten – diese sollen wenn möglich nicht berührt werden, weil sie sonst schneller schlecht werden – und legen sie sorgfältig in die Schachteln. Dann schiebt sie den «Ferrari» vorwärts und rutscht um einen Schritt weiter. Ihre Knie sind mit gepolsterten Knieschonern geschützt, wie sie auch Plattenleger tragen.

Der Alarm von 1999

Im Sommer 1999 hat die Westschweizer Gewerkschaftszeitung «L’évenement syndical» Alarm geschlagen: Sie berichtete von miserablen Löhnen, Wochenarbeitszeiten von über sechzig Stunden, gesundheitsschädigenden Unterkünften, missbräuchlichen Verträgen. Erzählt wurde von den portugiesischen ErdbeerpflückerInnen, kritisiert wurde auch der grösste Erdbeerproduzent hier in dieser Region, die Firma «Obst- und Beerenland» von Peter und Hanni Schwab in Gimmiz-Walperswil.

In der Bauernküche ihres Elternhauses bedient Barbara Schwab Züger die Kaffeemaschine. Sie hat an der ETH Zürich Ingenieur-Agronomin studiert, mehrere Jahre in Brasilien gelebt, dort über nachhaltiges Mangagement am Beispiel einer Crevettenfarm eine Doktorarbeit verfasst und dafür eben letzthin von der Universität St. Gallen den «Lateinamerika-Preis für Dissertationen» erhalten. Seit diesem Frühjahr führt sie die Geschäfte des «Obst- und Beerenlands» zusammen mit den Eltern. Erdbeeren zu produzieren sei in der Schweiz schwierig, sagt sie. Das meiste sei Handarbeit und das Lohnniveau hier viel höher als in den anderen erdbeerproduzierenden Ländern: «In den Läden werden nur die Preise der Produkte, nicht die Löhne verglichen.» Das Klima-Handicap kommt dazu: Zwei Drittel der Jahreskonsums ist verkauft, bevor die erste schweizerische Erdbeere auf den Markt kommt.

Trotzdem ist man nach der Gewerkschaftskampagne 1999 im «Obst- und Beerenland» aktiv geworden: Hinter dem Bauernhaus steht unterdessen ein zweistöckiger Neubau mit 26 Zweipersonenzimmern, vier Küchen und sanitären Anlagen für die Pflücker und Pflückerinnen. Bei Löhne und Arbeitszeiten gelten die kantonalen Vorgaben: Die Wochenarbeitszeit beträgt 55 Stunden und gearbeitet wird gewöhnlich ab 7 Uhr, Feierabend ist spätestens um 18 Uhr. Der Brutto-Grundlohn beträgt 2900 Franken resp. für die erstmals pflückenden polnischen Praktikantinnen und Praktikanten 2320 Franken. Mit den Akkordzuschlägen werde im Durchschnitt zwischen 3000 und 3500 Franken verdient.

Keine romantische Geschichte

In diesen Tagen ist die diesjährigen Ernte auf ihrem Höhepunkt: Neben den leuchtend roten, bis zu fünf Zentimeter langen Beeren tragen die Sträucher noch viele grüne. Almerinda de Matos hat ihre Arbeit für einen Moment unterbrochen, den Rücken durchgestreckt und beantwortet die Fragen des Journalisten, manchmal übersetzt Barbara Schwab Züger aus dem Portugiesischen, manchmal Jesus Fernandez, dem Unia-Sekretär aus Biel, der 1999 die Kampagne mitgetragen und jetzt den Kontakt vermittelt hat. «Vieles ist hier besser geworden, in letzter Zeit haben wir keine Klagen bekommen. Aber eine romantische Geschichte zu schreiben, wäre falsch. Die Arbeit ist wirklich sehr hart», sagt er.

Wie es ihrem Rücken gehe, fragt Barbara Schwab Züger. Almerinda de Matos lacht übers sonnengegerbte Gesicht: «Manchmal besser, manchmal schlechter.» Schlechter gewöhnlich am Nachmittag. Sie deutet mit der Hand auf den Nacken und hinunter über die Schulterblätter. Kurz darauf ist sie mit der Arbeit hier fertig. Sie verabschiedet sich winkend und geht. Weiter drüben wartet die nächste, gut zweihundert Meter lange Erdbeerreihe.

 

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Pendlerin zwischen zwei Welten

Die heute 57jährige Almerinda de Matos Moreira Faria hat Handweberin gelernt und in jungen Jahren Leintücher und Teppiche gewoben. Zum ersten Mal kam sie 1994 oder 1995 nach Gimmiz-Walperswil zum Erdbeerpflücken ins «Obst- und Beerenland» der Familie Schwab.

Bei Braga in der nordportugiesischen Provinz Minho hat sie ein Häuschen mit Umschwung. Dort baut sie Gemüse an und produziert Olivenöl und den portugiesischen Weisswein «Vinho verde». Sie ist seit achtzehn Jahren Witwe, Mutter eines 35jährigen und eines 34jährigen Sohns und einer 31jährigen Tochter sowie zweifache Grossmutter.

Ins Berner Seeland kommt sie jedes Jahr für zwei bis drei Monate zum Erdbeerpflücken. In dieser Zeit bewohnt sie auf dem Hof der Familie Schwab ein eigenes Zimmer. Ein bisschen fühlt sie sich hier schon wie zu Hause: Im letzten Sommer hat sie ihren Zimmerschlüssel mitgenommen und Mitte Mai, als sie zurückkam und man ihr sagen musste, der Schlüssel zum Zimmer sei verloren gegangen, hat sie ihn lachend aus der Tasche gezogen. Sie verdient den Grundlohn von 2900 Franken brutto plus die allfällige Akkordzulage. Für das Logis wird ihr eine Miete von 300 Franken in Rechnung gestellt.

Die Redaktion setzte den Titel «Almerinda im Beerenfeld». 

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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