Der vierte Fehler des Franz Schnyder

«Es war ein grosser Leichenzug, man sah wohl, dass man einen gros­­sen Bauer zu Grabe trug; den Gesichtern dagegen sah man an, dass im Sarge (... [kein]) geliebter Mann lag, denn nicht nur weinte niemand (…), sondern es war ein Geschnatter, selbst ein Lachen oft im langen Zuge, wie man es sonst hinter einem Sarge her ­­­­nicht für anständig hält.» 

(Jeremias Gotthelf: Uli der Pächter, Kapitel 25 [Beerdigung des «Glunggepuurs»])

Nachdem das Orgelvorspiel verklungen ist, erhebt sich der Pfarrer, überblickt die Trauergemeinde, die nun die Kirche doch nicht ganz füllt ‑ die meisten der zusätzlich aufgestellten, hölzernen Klappstühle sind leer geblieben ‑, und sagt: «Wir sind hier heute zusammengekommen, weil wir Abschied nehmen müssen von unserem Gemeindeglied Franz Schnyder. Er ist am 8. Februar im Bezirksspital Münsingen kurz vor seinem dreiundachtzigsten Geburtstag gestorben. Mit Liebe und Dankbarkeit wollen wir an den Verstorbenen zurückdenken, an seine Persönlichkeit und an sein Werk. Wir wollen mit diesem Gottesdienst unsere Hoffnung ausdrücken, dass der barmherzige Gott ihn in seinem ­ewigen Frieden aufnimmt um Christi willen.» ­Draussen, vor den hohen Fenstern des protestantisch-kargen Sandsteinbaus der Burgdorfer Kirche, liegt ein grauer, nebliger Montagvormittag. Inversionslage.

Mit Franz Schnyder starb der «erfolgreichste Schweizer Filmschaffende» («Berner Zeitung»), der ein «Lebenswerk voller Widersprüche» (NZZ) hinterlassen habe. Er habe «die grosse Geste» geliebt, schreibt der «Tages-Anzeiger», er «blühte noch im hohen Alter auf, wenn man sich für seine Arbeit interessierte». Jedoch sei er «verbittert» gestorben, weiss Bernhard Giger, Filmregisseur wie Schnyder, im «Bund»: «Sein grosser Zorn hat ihn isoliert, der Vorwurf, ein Regisseur von reaktionären ‘Heimatfilmen’ zu sein, zutiefst gekränkt.» Und das Schweizer Fernsehen würdigt den Dahingegangenen seit Tagen auf seine Weise: Es lässt reihenweise Schnyder-Filme laufen. Sie sind bis heute Strassenfeger geblieben.

Schöne Worte hat auch die Burgdorfer Stadtregierung in ihrer Todesanzeige gefunden: «Schnyder hat mit unvergesslichen Filmen vielen Menschen frohe und besinnliche Stunden bereitet. Er hat den grossen Stoff Gotthelfs in Filme umgesetzt, die weltweit Beachtung fanden. Ein grosser Regisseur des Schweizer Films. Wo immer er gelebt und gewirkt hat, er blieb ein Burgdorfer.» Das ist schön von Burgdorf, nachdem kaum neun Monate vorher das Statthalteramt des Städtchens am Eingang zum Emmental den rauhbauzigen, bärbeissigen Alten hatte versorgen lassen. FRS, wie sich Franz Schnyder in den letzten Jahren immer häufiger nannte, hatte seit Jahren weitgehend zurückgezogen im geerbten, vornehmen Elternhaus auf dem Gsteig-Hoger, dem Burgdorfer Villenviertel, gelebt, seit 1988 unterstützt von einer Mitarbeiterin der Betagtenhilfe. So ist es bis zum 12. Mai 1992 gegangen. An diesem Tag erscheint FRS mit einer Pistole bewaffnet in einem Burgdorfer Ladenlokal und fordert einen grösseren Geldbetrag, den man ihm dort seiner Meinung nach schuldig ist. Die geistesgegenwärtige Geschäftsinhaberin verspricht, in ihrem Büro das Geld zu holen. Schnyder wartet vergebens. Kurz darauf betreten zwei Stadtpolizisten das Geschäft. Auf dem Statthalteramt ist der Fall klar: Ein ernsthafter Raubüberfall liegt zwar nicht vor, aber sicher Fremdgefährdung bei unklarer psychischer Verfassung des Täters. Angezeigt ist deshalb die Fürsorgerische Freiheitsentziehung nebst psychiatrischer Abklärung des Falls. Die Polizisten packen Schnyder ins Auto und liefern ihn bei der Notfallaufnahme der Akutstation 27 in der psychiatrischen Klinik Münsingen ab. Aber noch ist FRS nicht soweit, dass er sich so etwas einfach bieten lässt.

Franz Schnyder ist 23jährig, als er 1933 nach einer Schauspielerausbildung nach Deutschland geht und an verschiedenen Bühnen arbeitet. 1938/39 führt er zuerst Regie am Deutschen Theater in Berlin, dann wird er Hausregisseur an den Kammerspielen in München. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kehrt er in die Schweiz zurück und rückt in die Armee ein. 1940/41 übernimmt er seine ­erste Filmregie und dreht den Spielfilm über Gilberte de Courgenay, die legendäre welsche Soldatenmutter im Ersten Weltkrieg. Dieser Film ist Schnyders Beitrag zur Geistigen Landesverteidigung gegen Faschismus und Nationalsozialismus und wird zum durchschlagenden Publikumserfolg. Nach seinem zweiten Film, «Das Gespensterhaus», ein Jahr später, macht er jedoch seinen ersten Fehler. Er verfilmt mit «Wilder Urlaub» (1943) eine Geschichte von Kurt Guggenheim, die nicht nur Dienstkoller und Fahnenflucht aus der Schweizerarmee schildert, sondern im Soldaten Hermelinger mit deutlichen Strichen einen klassenbewussten Proletarier zeichnet. Indem Schnyder mitten im Krieg an gesellschaftliche Widersprüche im eigenen Land erinnert, begeht er einen Tabubruch: Er verstösst gegen den «Burgfrieden», er kratzt am «Landigeist». Der Preis war hoch: Der Film kam beim Publikum nicht an, im politischen Bern war er alles andere als opportun. Erst elf Jahre später kam er wieder zu einer Filmregie. Aber unterkriegen liess sich Schnyder deswegen nicht.

1954, zum 100. Todesjahr von Jeremias Gotthelf, verfilmt er dessen Roman «Uli der Knecht» und ­ nach diesem Erfolg bis 1956 «Uli der Pächter» sowie «Heidi und Peter» nach Johanna Spyri, dazu dreht er «Zwischen uns die Berge»; die zwei letzteren Heimatfilme der billigen Sorte. Aber Schnyder ist damit wieder im Geschäft: Wie er mit der «Gilberte de Courgenay» dem Landigeist erfolgreich seine Reverenz erwiesen hat, erweist er sie mit diesen drei Filmen jener neuerlichen Geistigen Landesverteidigung, die sich mit dem Beginn des Kalten Krieges Ende der vierziger Jahre gegen den zum neuen Feindbild avancierten Weltkommunismus richtet.

Ausgerechnet in den Monaten, in denen die So­wjetunion ab Oktober 1956 die Reformbestrebungen in Ungarn blutig zerschlägt (und damit in der Schweiz eine regelrechte antikommunistische Hysterie auslöst), begeht Schnyder seinen zweiten Fehler: Er drehte als erste Produktion seiner selber gegründeten «Neuen Film AG» den Film «Der 10. Mai». Darin zeigt er einerseits die heikle Situation eines deutschen Flüchtlings in der Schweiz in den Tagen, als Hitlers Blitzkrieg-Armeen 1940 die Benelux-Staaten besetzten, andererseits die wenig ruhmreichen Reaktionen darauf in der Schweiz, wo man ebenfalls mit einem Einmarsch der Wehrmacht rechnete. Schnyder zeigt nächtliche Autokolonnen: Die vollbeladenen Autos jener, die sich ein Auto leisten konnten und sich nun feige mit Sack und Pack in den Bergen in Sicherheit zu bringen versuchten. Indem Schnyder an diese Ereignisse erinnerte, beging er wieder einen Tabubruch. Er kratzte an der unerträglichen Heroisierung der neuen Schweizer Geschichte und machte sich damit der Nestbeschmutzung schuldig. Der Film fiel durch.

Die «Neue Film AG», die ohne Subventionen auf eigenes Risiko produzierte, konnte sich keinen zweiten Reinfall leisten. Deshalb nahm sich Schnyder ‑ mit konstantem Publikumserfolg ‑ in den nächsten Jahren der Reihe nach weitere grosse Gotthelf-Romane zur Verfilmung vor: «Die Käserei in der Vehfreude» (1958), «Anne Bäbi Jowäger» I und II (1960‑1962) und «Geld und Geist»: Mit diesem Film stand er im EXPO-Jahr 1964 auf dem Höhepunkt seiner Karriere.

Und nun, Mitte Mai 1992, sitzt er plötzlich eingesperrt in dieser Akutstation in Münsingen. Wenn er im niederen Backsteinbau aus dem Fenster seines Zimmers schaut, sieht er durch eine Gruppe von Tannen über freies Feld hinüber zu den Bahngeleisen, auf denen die Züge zwischen Bern und Thun hin- und herfahren. FRS will hier wieder raus. Er wehrt sich, so gut er kann. Nach Münsingen bringt man ja sonst nur welche, die spinnen, das weiss er. Es ist wirklich eine Frechheit. Mit dem Medikamenten-Plunder, den man ihm unterjubeln will, können sie gleich wieder abfahren. Und die Assistenzärzte, diese Psychiatrielehrlinge, schickt er einfach weg. Und den Kohli, den Chef der Station 27, ebenfalls ‑ er hat nie einen Chef gebraucht, er braucht auch jetzt keinen. Und vom Hodel, dem Vizedirektor und medizinischen Leiter der Klinik, will er auch nichts wissen. Sollen alle abfahren, von diesen läppischen Doktörchen in Münsingen lässt sich FRS nichts sagen. Und zu untersuchen gibt es sowieso nichts. Er fühlt sich gesund. Den Leuten, die er mag, zeigt er’s mit derben Spässen. Auf die scherzhafte Frage, ob er denn nie eine Frau gehabt habe, gibt er lachend zurück: «Nein, ich bin noch keusch.» Aber eigentlich will er nichts als nach Hause. Dort hat er zu tun.

Den Zuständigen macht der Patient Schnyder Sorgen. Das Statthalteramt Burgdorf wartet auf ein psychiatrisches Gutachten, damit man in der Sache der Fürsorgerischen Freiheitsentziehung einen weiterführenden Entscheid fällen kann. Aber Schnyder lässt keinen an sich ran. Im Normalfall wäre ein solch ausgeprägter Altersstarrsinn längst mit Psychopharmaka gebrochen und danach der Patient so weit noch möglich zur Krankheitseinsicht geführt worden. Aber Herr Schnyder ist kein Normalfall und schluckt die Psychopharmaka nicht freiwillig. Eine Zwangsmedikation würde bedeuten, den über 82jährigen mit brachialer Gewalt und Spritze hart anzugehen, einen Mann immerhin, der, wie er sich zu Recht einmal bezeichnet hat, «einsam der erfolgreichste Filmproduzent unseres Landes» ist.

Und auch sein Beistand ist nicht irgendeiner, Franz A. Zölch, der bekannte Medienjurist in Bern, Ehemann der Nationalrätin Elisabeth Zölch, der politischen Hoffnungsträgerin der staatstragenden Partei in diesem Kanton. Solche Leute soll man nicht erschrecken. Die Sache ist deshalb heikel. In einem solchen Fall ist der Kantonsarzt zuständig, soll der sagen, wie’s weitergeht. FRS ist intelligent, klar im Kopf und hat einen ausgeprägten Machtinstinkt. Er durchschaut das Ränkespiel mit Leichtigkeit. Beim Besuch des Kantonsarzts Doktor Seilers im Herbst zeigt er sich von seiner kulantesten Seite. Nach einer anregenden Unterhaltung findet der Kantonsarzt prompt, die Zwangsmedikation sei nicht angezeigt. Ein Sieg für FRS. Dafür muss er weiterhin auf der geschlossenen Akutabteilung bleiben. Einmal, bereits im Spätsommer, hat er allerdings eine Niederlage erlitten: Der rüstige Rentner kehrt von seinem Spaziergang nicht mehr zurück, geht auf Kurve, taucht in Burgdorf auf und meldet sich bei seiner Haushälterin zurück, indem er sie zur Befehlsausgabe zitiert. Kurz darauf wird er von Polizisten wieder auf der Akutstation 27 abgeliefert. Seither darf er nur noch in Begleitung einer Krankenschwester ins klinikeigene Café.

Zur Premiere von Schnyders Film «Die sechs Kummerbuben» nach einem Roman von Elisabeth Müller erscheint Anfang Oktober 1968 im Berner Bellevue, angeführt von Bundespräsident Willy Spühler, die Creme des schweizerischen Establish­ments. Der sozialdemokratische Nationalrat Walther Bringolf hält die Lobrede auf den Film und führt aus, man könne in diesem Land froh sein, neben anderen Filmen auch einen Schweizer Film im Sinne Schnyders zu haben; sein neustes Werk sei «ein Schritt auf dem Weg zum staatserhaltenden Kino». Aber nicht nur Bringolf hat, als er diese späten Stilblüten der Geistigen Landesverteidigung zum besten gab, die Zeichen der Zeit ignoriert, sondern mit seinem Film auch Schnyder selber. Damit hat er seinen dritten Fehler begangen. Seit seinem letzten Gotthelf-Film 1964 hat sich in der Schweiz zunehmend wieder kritischer Widerspruchsgeist artikuliert, der nach dem Ungarnaufstand 1956 weitestgehend zum Schweigen gebracht worden war. Unterdessen sind mehrere Zeitungen auf linksliberalen Kurs umgeschwenkt, die «National-Zeitung», das «Badener Tagblatt», sogar die Zeitung aus Schnyders engster Heimat, das «Burgdorfer Tagblatt». Dazu kommen die «Zürcher Woche» und das Leibblatt des Nonkonformismus: die Zeitschrift «neutralität». In diesem Umfeld, in dem man die goldenen Kälber der Nation zunehmend respektlos behandelt, hat sich in den letzten Jahren eine Generation von neuen Filmemachern formiert: Jung, kritisch, künstlerisch radikal, weitgehend ohne Geld. Für sie und die Kritik dieses jungen Films ist Schnyder das goldene Kalb des alten Schweizerfilms und gehört vom Sockel gestossen: «Die sechs Kummerbuben» geben dazu den Anlass. Für den «Bund» zum Beispiel ist dieser Film ein «Kummer-Bubenstück des Schweizer Films», buntscheckiges Heimatkino, als Freilicht-Bauernspiel schlicht Anti-Kino, ein photographiertes berndeutsches Hörspiel. Der «‘Schweizer Film’ von Schnyders Gnaden» habe der Öffentlichkeit «eine verkitschte Film-Schwarte von vor-vor-gestern» beschert. Und an der Premiere sei «mit Akklamation von der Leinwand verabschiedet» worden, «was ein kritischer Geist schlicht als kinematographische Schulfunksendung zu werten hat».

Schnyder wehrt sich an einer Pressekonferenz in Bern gegen die Kritiken und postuliert den «nützlichen Spielfilm, der ein lebendiges, für die Existenz unseres Landes notwendiges Anliegen in den Mittelpunkt der Handlung rückt ‑ also auf billige und unverbindliche Unterhaltung verzichtet ‑ und dennoch ein nationaler Erfolg wird». Er macht den trotzigen Vorschlag, der Bund solle die prekären finanziellen Verhältnisse der Spielfilmproduzenten durch eine Prämie mildern, «deren Höhe nach dem Umfang der vom Film abgelieferten Billettsteuer zu bemessen» sei. Da der Film breitesten Volksschichten zu gefallen habe, sei die einfache Bildsprache ebenso notwendig wie die Einsicht, dass die Aussage vor der künstlerischen Qualität rangiere. Sowohl sein Vorschlag für die staatliche Erfolgsprämie als auch sein Plädoyer für das Primat der inhaltlichen Aussage kommen schlecht an.

In der folgenden Zeit versteht Schnyder die Welt nicht mehr. Obschon die «Kummerbuben», trotz der zum Teil vernichtenden Kritiken, gar nicht schlecht anlaufen, die dreizehnteilige Fernsehfassung die Einschaltquoten hochschnellen lässt und die Kinofassung in einem knappen halben Jahr über 475000 Franken einspielt, obschon er mit diesem Film wieder genau das versucht hat, was man immer wieder von ihm forderte, nämlich staatspolitisch wertvollen Inhalt breitenwirksam darzustellen, lässt man nun an dieser Arbeit keinen guten Faden. Er erleidet eine Niederlage auf der ganzen Linie. Verbittert geht er für einige Zeit in die USA und beginnt an jenem Stoff zu arbeiten, der sein Alterswerk werden soll: Die Verfilmung des Lebens von Johann Heinrich Pestalozzi. Noch lässt sich Schnyder nicht unterkriegen.

FRS richtet sich in der Station 27 ein. Dass man im Zweierzimmer, das er zu bewohnen gezwungen wird, das zweite Bett belegen will, ist inakzeptabel. Wer in seinem Zimmer plaziert wird, wird hinausgeekelt. FRS schlägt in die Flucht, was ihm zu nahe kommt. Und weil Herr Schnyder kein Normalfall ist, lässt man ihn gewähren, obschon Akutbetten rar sind und jeder weniger Prominente in einem solchen Fall zur Räson gespritzt würde. Von nun an verwendet FRS das zweite Bett als Ablage für das Büro, das er sich einrichtet. Er hat zu tun, er führt eine weltumspannende Korrespondenz. Bis in alle Nacht hinein klappert im Zimmer seine Schreibmaschine. Und schon um halb sechs ist er wieder auf den Beinen und in den Gängen der Klinik unterwegs, manchmal mit der Zipfelmütze, die er schon damals trug, als er vor bald vierzig Jahren Gotthelfs Vreneli und Uli zum Happy-End dirigierte. Wenn die Nachtwache zu ihm sagt: «Dir gseht ja uus wi dr Glunggepuur!» lacht er. Später am Tag hört man aus seinem Zimmer wieder die Schreibmaschine klappern. Unermüdlich schreibt er Hilferufe nach draussen: Er will hier raus. Anderntags bringt er das Pflegepersonal in Trab, schickt die Briefe «Express» in die Welt hinaus. Den bewunderten Präsidenten Bush berät er en passant im Kampf gegen die immer verheerendere «Drogenpest».

Der 8. November 1992 bringt eine schlechte Nachricht. Sein um eine Viertelstunde älterer Zwillingsbruder Felix, schon 1947 Botschafter in Moskau, 1961‑1965 UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, 1966‑1975 Schweizer Botschafter in Washington, ist tot. Ein Leben lang hat FRS diese Viertelstunde Rückstand gegenüber Felix nicht aufholen können: Felix musste nicht wegen Krankheit ein Schuljahr wiederholen wie er. Felix wurde später nicht nur Botschafter einer an Gotthelf-Geschichten explizierten bürgerlich-konservativen Zivilisationskritik, Felix wurde Diplomat, unbestritten und hochgeschätzt als offizieller Vertreter der Schweiz in den Hauptstädten der Supermächte. FRS aber ist der Prophet einer zunehmend ausser Kurs geratenen Weltsicht, schliesslich in der Öffentlichkeit vor allem ein verbitterter Polterer gegen jene, die mit einer anderen Idee von Kino die staatlichen Gelder kassieren, die ihm für seine Projekte vorenthalten werden. Dagegen Felix: jederzeit ein Gentleman, ein Mann von Welt, souverän, mit Stil, mit Noblesse. Ein Leben lang hat sich FRS an seinem Bruder gerieben. Hat er an ihm gehangen. Und jetzt ist er tot.

FRS merkt, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Zwar spuckt er nach wie vor Gift und Galle, wenn am Montagmorgen die Arztvisite in der Tür auftaucht. Aber langsam erlahmt seine Widerstandskraft. Er spürt immer deutlicher: Diese Doktoren sitzen am längeren Hebel, irgend einmal werden sie ihn haben. Die Gefahr wächst, aber das Rettende nicht. Zwar erhält er von draussen noch Besuche, aber niemand hilft ihm wirklich. Auch der Zölch holt ihn hier nicht raus. Und auch die Frau der Betagtenhilfe nicht, die ihm die Treue hält und ihm nach wie vor die Wäsche macht. Der Verdacht, dass die ihn da drin einfach kaputtgehen lassen: bald  83, altersparanoid,  abgeschrieben, schon fast vergessen. So ist das also. FRS alarmiert die Welt. Als in den USA sein Favorit Bush die Wahl gegen diesen Clinton verliert, schreibt er einem Bekannten draussen: «Da mich Zölch und Genossen umbringen wollen, bitte ich Sie, an den nun freien George Bush folgendes Telegramm zu richten: ‘Please send Military Police stop. Sey want to kill me stop. Psychiatric Clinic, Münsingen (Berne). FRS.’»

Am Sonntag, den 31. Januar 1993, macht sich FRS mit einer Schere einen Schnätz in den rechten Unterarm, einen Längsschnitt, drei, vier Zentimeter lang, nicht tief, nicht gefährlich, genäht werden muss nicht. Das war Franz Schnyders vierter Fehler, denn in einer Psychiatrischen Klinik sagt man einem Schnätz nicht Schnätz, sondern «appellativen Selbstmordversuch» und der wird unter «autoaggressivem Verhalten» subsummiert, und dieses indiziert die Applikation von sedierenden Psychopharmaka. Und zwar, wenn’s sein muss, auch zwangsweise. So hat’s der Doktor Kohli gelernt. Schnyder kriegt den Becher zum Trinken: «Oder müesse mer schprütze, Herr Schnyder?» Nein. Jetzt mag er nicht mehr. Er trinkt den Neuroleptika-Cocktail: Haldol (hochpotent), Nozinan (stark wirksam); mittlere Dosis.

1984 schien’s noch einmal loszugehen. Ein junger Regisseur, Christoph Kühn, schlägt FRS vor, über ihn einen Dokumentarfilm zu machen. Zuerst ist er skeptisch, ein solcher Film ist nicht von grossem Interesse. Und wenn keine Aussicht besteht, die Kinos zu füllen mit einem Film, dann muss man gar nicht erst das Negativmaterial entwickeln. Von diesen Jungfilmern, die unterdessen staatlich subventioniert, ohne grosses ökonomisches Risiko, vor allem Ausschuss produzieren, hält er so wenig wie vor zwanzig Jahren. Aber Kühn, der sein Filmprojekt «FRS: Das Kino der Nation» nennen will, überredet ihn. Und später überredet er ihn dazu, als ­Regisseur einige Szenen aus dem «Pestalozzi»-Drehbuch zu inszenieren, das er seit 1974 fertig in der Schublade hat, bis ins Detail ausgearbeitet, eingeteilt in 190 Sequenzen und diese gegliedert in insgesamt 906 Einstellungen, jede versehen mit einer Skizze zu Bildinhalt und Kameraeinstellung. Und jetzt führt er noch einmal Regie, leitet Peter Wyssbrod als Pestalozzi an und Annelore Sarbach als dessen Frau. Wie sie verzweifelt am Herd zusammensinkt, schreit: «Der Herr straft! Verworfen! Du! verflucht … verflucht …!» Und er hinzutretend, bittend: «Den Himmel. Ich sah ihn offen vor mir. Wollte ihn erobern.»

Natürlich scheitert Pestalozzi, aber er, Schnyder würde ihm mit einer mächtigen Apotheose zu seinem Recht verhelfen: In der Schlusseinstellung sähe man Birr, wo Pestalozzi begraben liegt, Schulhaus, Kapelle und Friedhof aus weiter Ferne, dazu im Off die Stimme des grossen Pädagogen: «Es ist für die sittlich, geistig und bürgerlich gesunkene Welt keine Rettung, als durch Erziehung zur Menschlichkeit, als durch Menschenbildung.» Und dieses Bekenntnis im letzten Bild seines letzten Films wäre gleichzeitig auch sein Vermächtnis als Regisseur und Bürger der Schweiz. ‑ Aber Kühn will von ihm nicht diese Sequenz gedreht haben. «Es muss für Franz Schnyder, der seit siebzehn Jahren nicht mehr hinter der Kamera stand, verrückt gewesen sein, plötzlich wieder Drehatmosphäre um sich herum zu spüren. Er versuchte oft, die Regie an sich zu reissen, akzeptierte schliesslich aber immer, dass ich bei diesem Film den Ton angab», schreibt Kühn später. FRS muss begriffen haben, dass er hier nicht wirklich Film machen durfte, sondern nur Film im Film. Aber Schnyder ist noch lange nicht am Ende.

Etwa Mitte der achtziger Jahre entschliesst er sich, noch einmal als Produzent ins Geschäft einzusteigen. Er baut einen Raum seiner Villa zum Büro um, kauft einen Rolls Royce, sucht einen Sekretär, der ihm ab und zu bei der Schreibarbeit zur Hand geht, und einen, den er für seine Ausfahrten als Chauffeur zitieren kann. Er beginnt Verhandlungen zu führen, fragt Wyssbrod an, ob er in seinem «Pestalozzi»-Film die Hauptrolle übernehmen würde, nimmt Kontakt auf mit dem Alltag-Verlag wegen der Filmrechte von Rosmarie Buris Erfolgsbuch «Dumm und dick»; die Japaner sind interessiert an seiner Musical-Fassung des Heidi-Stoffs. Mit einer Pressekonferenz kündigt er die Verfilmung von Gotthelfs Erzählung «Elsi, die seltsame Magd» an. Langsam beginnt die Sache wieder zu laufen. Da sagt man plötzlich, er brauche einen Beistand, er habe sich in der letzten Zeit massiv verschuldet. Er willigt ein, weil er Gescheiteres zu tun hat, soll doch dieser Zölch seine Finanzen machen, so spart er sich den Buchhalter. Aber manchmal ist er auch wütend: Keiner hat in diesem Land erfolgreichere Filme gemacht als er. Und jetzt soll er Schulden haben. Beschissen hat man ihn, immer wieder beschissen. Anders wäre das ja gar nicht möglich. Einmal wird er sich zurückholen, was ihm gehört. Wenn’s sein muss, mit Gewalt.

Ab Montag, den 1. Februar 1993, erhält Schnyder dreimal täglich Medikamente, vermischt mit Himbeersirup. Schnell wird er ruhig, sein Blick glasig. Zum ersten Mal in den neun Monaten in Münsingen bleibt er tagsüber im Pyjama, liegt meistens, wird pflegebedürftig. Am Mittwoch schreibt er auf ein A4-Blatt: «Bringt mich sofort nach Hause. FRS.» und legt das Blatt auf den Stuhl neben seinem Bett. Auf das Wochenende hin ist er bettlägerig und apathisch, wird inkontinent. Wie üblich in diesem Fall, appliziert man Windeln. Windeln für FRS. Am Montag, den 8. Februar, am späten Nachmittag findet man ihn leblos in seinem Zimmer. Der zuständige Psychiater ordnet die sofortige Verlegung ins Bezirkspital Münsingen an. Dort wird der Tod festgestellt. Die Autopsie bringt keine Hinweise auf Selbstmord, dafür wird ein Blutgerinnsel in den Lungen entdeckt, deshalb lautet die Todesursache Lungenembolie. Sowas kann’s geben. Allerdings: Dass Bettlägrigkeit bei alten Leuten die Emboliegefahr erhöht, lernt jede Krankenschwester in ihrer Ausbildung. Und dass mögliche Nebenwirkungen des Neuroleptikums Nozinan Müdigkeit und Schläfrigkeit sind, steht auf dem Zettel, der jeder Packung beiliegt. FRS hat Pech gehabt: So ruhig, wie er in der ersten Februarwoche geworden ist, hätte ihn niemand mehr einsperren wollen. Er hätte die besten Chancen gehabt, innert ein paar Tagen auf eine geriatrische Pflegestation oder in ein Altersheim verlegt zu werden, als chronischer Pflegefall. Dummerweise ist er gerade in diesem Augenblick «entschlafen» (Todesanzeige).

«Johann Heinrich Pestalozzi. Methode», ein Film von FRS (nicht gedreht). «4. Sequenz: Wohnstube Pestalozzis auf dem Neuhof in Birr. Winter. Tag. 12. Einstellung: Der Raum ist verbraucht. Die Balkendecke durchgebogen. Der Riemenboden gespalten. An der Wand hängt eine Pendule, die eben vier Uhr schlägt. 13. Einstellung: Ein gläsernes Tintenfass, in dem ein Federkiel steckt, steht auf dem mit Notizen bedeckten Schiefertisch. 14. Einstellung: Das zarte Gefieder des Kiels wird vom Winde bewegt. Auf dem eng beschriebenen Bogen bilden sich tanzende Schatten. 15. Einstellung: Die Feder dreht sich plötzlich wild. Schlägt gegen die Glaswand. Das Tintenfass stürzt, rollt hin und her. Tinte schwappt über den Schiefertisch. 16. Einstellung: Die schwarzen Tropfen fallen auf Pestalozzis Testament. 17. Einstellung: Pestalozzi (Stimme): ‘Möge mein Tod meine Feinde zum Schweigen bringen. Möge der Friede, zu dem ich eingehe, auch meine Feinde zum Frieden führen.’ Bis auf Ort, Datum und Unterschrift sind die Buchstaben ausgelöscht. ‘Neuhof, 16. Februar, 1827. Pestalozzi’.»

Nachgedruckt in: Fredi Lerch: Mit beiden Beinen im Boden, Zürich (WoZ im Rotpunktverlag) 1995, 49-61. (Dokumentiert wird die Buch-Version. Der Titel der Zeitungsversion lautete: «Ich bin einsam der erfolgreichste Filmproduzent unseres Landes».)

Die Publikation dieser Reportage hatte ein juristisches Nachspiel. Auf Betreiben der Leitung der Psychiatrischen Klinik in Münsingen versuchte die Gesundheitsdirektion des Kantons Bern herauszufinden, wer mich mit den verwendeten, nur klinikintern bekannten Informationen versorgt haben könnte. Da sie nicht fündig wurde, reichte sie Strafanzeige gegen Unbekannt ein wegen Amtsgeheimnisverletzung. Auf den 2. März 1994 lud mich in dieser Sache der zuständige Untersuchungsrichter als Zeuge ins Amtshaus Schlosswil vor. Seine einzige Frage: wer mich informiert habe. Ich gab eine kurze schriftliche Erklärung zu Protokoll, in der ich festhielt: «Ich bestätige Ihnen hiermit, dass ich der Verfasser dieses Textes bin. Über die Quellenlage Auskunft zu geben, bin ich allerdings aus einer grundsätzlichen Überlegung nicht bereit: Der strikte Quellenschutz ist für mich eine zentrale Frage journalistischer Berufsethik und nicht von Fall zu Fall verhandelbar.» Da mir als Journalist in dieser Sache kein Zeugnisverweigerungsrecht zustand, hat mich der Untersuchungsrichter wegen «unberechtigter Aussageverweigerung als Zeuge» nach Art. 142 Abs. 2 StgrV zu einer Busse von 300 Franken und zur Übernahme der Verfahrenskosten verurteilt. (14.12.2013)

Aus heutiger Sicht scheint mir meine einzige Verurteilung aus beruflichen Gründen eine pathetische Donquichotterie gewesen zu sein: 1996 outete sich meine damalige Quelle selber und tritt seither in dieser Sache unter ihrem vollen Namen auf. Zudem trat auf 1998 mit dem Artikel 27 bis StGB (heute ebendort: Artikel 28a) ein journalistisches Zeugnisverweigungsrecht in Kraft, das mir diese Verurteilung höchstwahrscheinlich erspart hätte. – Der Tod von Franz Schnyder beschäftigt übrigens bis heute, wie der Beitrag «Endstation Psychiatrie. Die vertuschte Todesursache von ‘Heidi’-Regisseur Franz Schnyder» in «Mysteries» 2/2017 zeigt. (7.4.2017)

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