Der Türöffner-Weizen

Keine Gentechnik in der Schweizer Landwirtschaft für die nächsten fünf Jahre will die jetzt lancierte «Gentechfrei-Initiative». Freisetzung von transgenem Weizen im März – das will die ETH.

Noch liegt der Schnee zwischen Effretikon und Winterthur wadentief. Die Fahrspur des Feldwegs, der zum Waldrand hinüberführt, ist vereist. Bis hierher reicht sein Land. Jürg Keller, Bauer im Weiler Kleinikon, zeigt über das leicht abfallende Gelände Richtung Eschikon. Rechts am Waldrand, das ist die Landwirtschaftliche Schule Strickhof. Daran anschliessend, die niedrigen Gebäude und Gewächshäuser, das ist die Versuchsstation des ETH-Instituts für Pflanzenwissenschaften. Auf dem umzäunten Areal davor, um die 350 Meter von unserem Standort entfernt, sollen, wenn es nach dem Willen der ETH geht, Anfang März erstmals in der Schweiz transgene Pflanzen freigesetzt werden: so genannter KP4-Weizen, mit Gentechnik resistent gemacht gegen den Schadpilz Stinkbrand. Aber noch ist es nicht soweit.

Der juristische Kampf

In der «Beschwerde» gegen diese Freisetzung, die der Berner Fürsprecher Lorenz Hirni am 29. Januar an das Eidgenössische Departement für Umwelt, Energie und Kommunikation (Uvek) geschickt hat, tritt das Ehepaar Jürg Keller und Christine Grossmann neben der schweizerischen Vereinigung integriert produzierender Bauern und Bäuerinnen (IP-Suisse), der Arbeitsgruppe «Lindau gegen Gentech-Weizen» und der Greenpeace Schweiz als Beschwerdeführende auf. Unterstützt wird die Beschwerde zudem von einer ganzen Reihe von Organisationen: von der Grünen Partei, über die Pro Natura bis zur Swissaid. Mit einer Fülle von rechtlichen und wissenschaftlichen Argumenten wird auf 57 Seiten in exakt 233 Abschnitten der Nachweis geführt, dass das Gesuch der ETH «um Bewilligung zur Durchführung eines Freisetzungsversuchs» abzuweisen sei.

Diese Beschwerde ist ein weiteres Kapitel in einem langen juristischen Seilziehen. Am 15. November 2000 reichte die ETH das zweite Gesuch für das «Feldexperiment» beim Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) ein, nachdem das erste wegen eines Formfehlers abgewiesen worden war. Am 20. November 2001 lehnte das Buwal das Gesuch ab. Gegen diesen Entscheid legte die ETH Beschwerde ein, die am 12. September 2002 von der Rekursinstanz, dem Uvek, gutgeheissen wurde. Am 20. Dezember 2002 verfügte das Buwal deshalb, dass der Freisetzungsversuch unter Auflagen bewilligt werde.

Gegen diese Verfügung nun richtete sich die Beschwerde der FreisetzungskritikerInnen. Bereits am 7. Februar traf in Bern dann die Beschwerdeantwort der ETH ein, mit Poststempel vom 17. Februar danach eine weitere Stellungnahme der KritikerInnen. Laut Philipp Do Canto, dem Sachbearbeiter des Dossiers, wird nun das Uvek bis Ende dieser Woche eine Verfügung erlassen, die der Beschwerde die aufschiebende Wirkung entweder zu- oder abspricht. Diese Verfügung wiederum wird innert zehn Tagen beim Bundesgericht angefochten werden können. Eine solche Anfechtung hätte solange aufschiebende Wirkung, bis das Bundesgericht über die aufschiebende Wirkung der Beschwerde entschieden hätte.

Kurzum: Sobald das Tauwetter einsetzt, wird sich die Lage zuspitzen. Der Projektleiter des Experiments, Christof Sautter, will unbedingt in diesem Jahr – und das heisst: in der ersten Märzhälfte – aussäen (siehe Interview); die GegnerInnen wollen unbedingt verhindern, dass die KP4-Weizensamen in den Boden kommen.

Der Familienbetrieb in Kleinikon

Die Fensterfront der breiten Bauernstube öffnet sich gegen Eschikon hin. Jürg Keller stellt den Teekrug auf den Tisch. Er ist auf diesem Hof, den die Familie Keller seit Menschengedenken bewirtschaftet, aufgewachsen. 1983 hat er ihn von seinen Eltern übernommen. Seither treibt er Milchwirtschaft und Ackerbau, seine Frau Christine Grossmann arbeitet als Sekundarlehrerin. Zusammen mit einem Nachbar hat er eine Tierhaltergemeinschaft eingerichtet. Die Tiere der beiden stehen hier in seinem Freilaufstall, die beiden Bauern teilen sich in die Arbeit. Daneben betreibt er «einen vielseitigen IP-Betrieb»: «Ich achte darauf, dass ich eine breite Fruchtfolge habe. Damit kann ich den Einsatz von Herbiziden und Insektiziden massiv runter bringen.» Auf seinen Feldern wachsen neben dem Gras für die Kühe Mais, Gersten, Zuckerrüben, Raps, Soja und Weizen – letzterer für das Label «IP-Suisse», was bedeutet, dass er keine Fungizide einsetzen darf. Stinkbrand ist für ihn trotzdem noch nie zum Problem geworden.

Die Erfahrungen, die er mit der ETH bisher gemacht hat, sind durchwegs positiv. Deshalb hat er auch sofort zugesagt, als ihn die Forschungsanstalt drüben in Eschikon um eine Parzelle Boden bat, um sie für das zurzeit laufende «Freiland-CO2-Begasungs-Experiment» zu gebrauchen. Auch in Sachen Weizenzucht anerkennt er die Leistung der ETH: «Man hat gute und resistente Sorten gezüchtet, die unserem Klima angepasst sind und eine gute Qualität liefern, sprich: Sorten, die gutes Backmehl für die Bäcker ergeben.» Mit dem KP4-Weizen jedoch sei jene Leute der ETH, die mit Gentechnik zu tun hätten, auf eine andere Linie eingeschwenkt: «Das ist eine Zwängerei.»

Die Lindauer Opposition

Mit einer kleinen Notiz im Mitteilungsblatt der weitläufigen Gemeinde Lindau, zu der sowohl Kleinikon wie Eschikon gehören, hat die ETH für den 21. Februar 2001 zu einer Orientierungsveranstaltung über den geplanten Freisetzungsversuch eingeladen. Es kamen nicht nur Kopfnicker. Einige kritische Geister gründeten im Anschluss daran die «Arbeitsgruppe Lindau gegen Gentech-Weizen» (AG) und lancierten eine Petition. Das Gentechexperiment bringe «unabschätzbare Risiken für Umwelt und Bevölkerung»: «Insbesondere die in den ‘Stinkbrand-Weizen’ eingebaute Antibiotika-Resistenz ist äusserst fragwürdig, Die im Versuchsbeschrieb angegebenen Sicherheitsmassnahmen bieten keinen vollständigen Schutz vor Pollenflug oder Gen-Transfer auf Boden und Organismen.»

Innert einem Monat trug die AG 719 Unterschriften zusammen, 509 davon stammten aus der Gemeinde, der Rest aus der Region. Am 28. März 2001 schickte die AG diese Unterschriften an das Buwal. Im Begleitbrief heisst es: «Wir sind der festen Überzeugung, dass sich die Naturwissenschaften mit der Gentechnologie auf einen Irrweg begeben haben.» Seither begleitete die AG das Seilziehen um die Bewilligung mit Medienmitteilungen. Als das Buwal im Herbst 2002 vom Uvek gezwungen wurde, den im Herbst 2001 gefällten Ablehnungsentscheid zu revidieren, hielt die AG zum Beispiel fest: «Der Buwal-Direktor sagte vor einem Jahr zur Begründung der Ablehnung: ‘Ich will 98 Prozent Sicherheit’, was der Versuch damals offensichtlich nicht erreichte. Reicht dieses Jahr weniger Sicherheit?» Deshalb unterstützt die AG nun neben der Greenpeace und dem Ehepaar Keller Grossmann die Beschwerde gegen den umgedrehten Buwal-Entscheid.

Das Misstrauen des Bauers

Beim Tee erzählt Jürg Keller, über seinen Ärger, dass man den Leuten hier in den letzten zwei Jahren immer etwa wieder signalisiert habe, dass sie halt Laien und überfordert seien, dass sie einfach nicht draus kämen: «Schon beim BSE haben wir Bauern uns nach Strich und Faden verschaukeln lassen von den Forschern», sagt er. Von sich aus sei es sicher keinem Bauer in den Sinn gekommen, den Kühen als Rauhfutterverzehrerinnen Fleischmehl zu verfüttern. Aber dann seien die Forscher gekommen, hätten den Futtermittelproduzenten erzählt, Fleischmehl sei eine billige Eiweisskomponente: «Ich habe nie auf einem Futtermittelsack meiner Genossenschaft gelesen, dass da Fleischmehl drin sei.»

Natürlich weiss Keller, dass die ETH-Leute, die an gentechnisch veränderten Pflanzen forschen, mit BSE nichts zu tun haben. Aber er zieht seine Schlüsse: «Haben nicht auch damals die Forscher geredet, die Bauern habens danach ausgefressen? Und ist nicht heute weit und breit keiner dieser Forscher mehr da, der zumindest sagen würde: Entschuldigung, ich han en Säich gmacht?» Seine Angst ist, dass die Bauern eines Tages auch im Bereich der Gentechnik im Regen stehen könnten: «Die eine Gefahr sind die herumfliegenden Pollen des ETH-Genweizens für meinen Weizen. Und die andere ist, dass mit diesem Versuch eine Tür aufgestossen wird, die wir Bauern nicht mehr zukriegen werden.»

 

[Interview]

Streit um 1600 Pflanzen

Für den Projektleiter des Freilandversuchs mit Stinkbrand-resistentem KP4-Weizen, Christof Sautter ist die umstrittene Freisetzung ein «Präzedenzfall für die Forschungsfreiheit».

WoZ: Herr Sautter, transgener Weizen ist für die Bauern das grössere Problem als der Stinkbrand. Dem kommen sie zum Beispiel durch Beizungen der Samen mit Gelbsenfmehl auf natürliche Art bei.

Christoph Sautter: Wir arbeiten mit dem Stinkbrand als Modell, weil man diesen Pilz gut bekämpfen kann, und weil er ein einfaches Versuchssystem ist. Wenn daraus eine praktische Anwendung resultiert, stört mich nicht. Anwendung ist aber nicht die Aufgabe und nicht das Ziel der ETH. Wir versuchen zukünftige Probleme zu lösen. Natürliche Resistenzen, welche die Züchtung verwendet, werden vom Pilz oft in zehn bis fünfzehn Jahren überwunden. Danach muss man neue Resistenzen haben.  An der Wechselwirkung zwischen Pilz, Pflanze und Umwelt interessiert uns die Spezifität dieses Systems. Es könnte gegen Brandpilze helfen und zum Beispiel nützliche Wurzelpilze unbehelligt lassen  – wenn’s funktioniert.

Bei den bisherigen Versuchen im Gewächshaus und in der Vegetationshalle hat’s aber nicht funktioniert.

Doch, die Experimente im geschlossenen Gewächshaus haben ergeben: Der Prozentsatz der mit Stinkbrand infizierten Ähren war für die transgenen Pflanzen um etwa dreissig Prozent niedriger. In der Vegetationshalle haben wir den Weizen dann zuerst in zu kleine Töpfe gepflanzt. Die Folge war, dass weder die veränderten, noch die nicht veränderten Kontrollpflanzen Stinkbrand zeigten, weil die Erde in den Töpfen durch die Sonne zu stark erwärmt worden war und sich der Stinkbrand darum gar nicht entwickeln konnte. Beim zweiten Versuch nahmen wir zwar grosse Gefässe, konnten aber deshalb viel weniger Pflanzen aussäen, was dazu führte, dass das Ergebnis statistisch nicht signifikant war.

Es waren sogar mehr transgene Pflanzen infiziert als andere.

Ja, aber wenn etwas statistisch nicht signifikant ist, bedeutet das nichts. Ist die untersuchte Menge zu klein, bleibt das Resultat zufällig.

Wie soll denn der Freisetzungsversuch in Eschikon konkret vor sich gehen?

Dort werden insgesamt 40 Parzellen von einem halben Quadratmeter angelegt. In jeder Parzelle stehen viermal 25 Pflanzen. Auf 16 solche Parzellen kommen die 1600 transgenen Pflanzen, die restlichen Parzellen – nach dem Zufallsprinzip verteilt – sind mit Kontrollpflanzen belegt. Drum herum kommt eine zwei Meter breite Mantelsaat mit nicht transgenem Weizen.

Risiken ergeben sich durch die mögliche Auskreuzung und die Pollen während der Blütezeit. Haben Sie diese Risiken im Griff?

Wir rechnen nicht mit Auskreuzungen. In der klassischen Zucht reichen zwei Meter zwischen zwei Feldern aus, um Auskreuzungen zu verhindern. Wir haben sechzig Meter Abstand bis zum nächsten Weizenfeld. Das Risiko einer Auskreuzung ist also äusserst gering. Der Pollenflug geht maximal bis 250 Meter, aber Pollen, die so weit fliegen, können nicht mehr bestäuben, weil ihre Lebensdauer zu kurz ist. Um für alle Fälle allergische Spaziergänger zu schützen, stellen wir während der dreiwöchigen Blüte zudem pollendichte Zelte über die Parzellen.

Ein weiteres Risiko ist das Antibiotika-Gen, das sie in die transgene Pflanze eingebaut haben.

Es gibt keinen Grund, sich vor einigen wenigen Pflanzen mit einem solchen Gen zu fürchten. Die Diskussion, die heute in diesem Bereich geführt wird, ist wissenschaftlich abstrus. Antibiotikaresistenzen werden zwar in der Tat in den nächsten Jahrzehnten zum grössten Problem der Medizin. Aber die Gefahr geht nicht von transgenen Pflanzen aus, die das Gen auf Bakterien übertragen würden – das ist so selten, dass man es bisher in der Natur noch nicht einmal nachweisen konnte –, die Gefahr geht von Resistenzen aus, die natürlicherweise im Boden sind.

Ihr Experiment ist ein Teil des Forschungsschwerpunkts Biotechnologie, das der Nationalfonds zwischen 1992 und 2001 durchgeführt hat…

… ja, darum ist das Experiment ausschliesslich vom Nationalfonds finanziert worden, Kostenpunkt um die 300’000 Franken. Durch ihn ist auch der Anwendungsaspekt in unser Grundlagenexperiment hineingekommen: Der Nationalfonds hat Schweizer Weizensorten gewünscht; er hat gesagt, Pilzresistenzen seien zu erforschen; und er hat schliesslich auch den Feldversuch verlangt, weil dieser der wissenschaftlich sinnvolle Abschluss des Projekts ist.

Was der Nationalfonds wünschte, hat dann das Buwal abgelehnt.

Das Buwal hat signalisiert, dass der Freisetzungsversuch politisch nicht opportun sei und die Bewilligung verschleppt, was bisher zu Mehrkosten von 300’000 Franken geführt hat. Wenn wir dieses Jahr nicht aussäen können, wird das Experiment nicht mehr stattfinden. So oder so denke ich, dieser Freisetzungsversuch wird auf längere Zeit der letzte sein, der Aufwand ist einfach zu gross.

Dafür sind Sie der Türöffner und schaffen den Präzedenzfall.

Ja, wir schaffen mit diesem Experiment einen Präzedenzfall, einen Präzedenzfall für die Forschungsfreiheit. Der Aufwand wird aber später genau gleich gross bleiben. Allein das ganze Herrichten unseres Versuchsareals kostet an die 100’000 Franken: der zwei Meter hohe Zaun innerhalb des umzäunten ETH-Geländes, die Schneckenbleche, das Vogelnetz, die Zelte, die Videokameras, die Tag und Nacht Bilder in die Leitzentrale der ETH übertragen werden…

…gegen Anschläge?

…gegen unvorhergesehene Ereignisse, gegen Sturm, gegen Platzregen. Aber es ist schon so: Wenn jemand kommt und das Experiment unbedingt kaputt machen will, kann ich das nicht verhindern. Aber mit der Diabolisierung des Feldversuchs verhindern solche Leute natürlich auch, dass das Wissen über den Umgang mit transgenen Pflanzen in der Schweiz erworben und erhalten werden kann. Dieses Wissen wird die Schweiz auch dann brauchen, wenn sie auf die Dauer frei von Gentechnik bleiben will.

 

[Kasten]

Die Gentechfrei-Initiative

Am Dienstag ist die Volksinitiative «für Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft» lanciert worden. Sie verlangt ein fünfjähriges Moratorium für Pflanzen, Pflanzenteile, Saatgut und Tiere, die gentechnisch verändert sind. Getragen wird die Initiative von Organisationen aus der Landwirtschaft, dem Konsumenten-, Tier- und Umweltschutz sowie der Entwicklungszusammenarbeit. Bei der Lancierung in Bern betonte Nationalrätin Maja Graf (GP), die bescheidene Forderung der Initiative sei «ein Kompromiss». Es gehe darum, die Abstimmung zu gewinnen und damit ein international sichtbares Signal zu setzen.

Vorbehalte gegen die Initiative hat der Basler Appell gegen Gentechnologie angemeldet: Zwar gehe die Initiative in die richtige Richtung, aber zu wenig weit. Nicht einzusehen sei zum Beispiel, «weshalb nur die kommerzielle Freisetzung, nicht aber auch Forschungsprojekte im Freiland mit einem Moratorium belegt werden sollen».

Diese Volksinitiative kam am 27. November 2005 zur Abstimmung und wurde mit 55,7 Prozent Ja-Anteil in allen Kantonen angenommen.

 

[WoZ, Nr. 9 / 2003, 27.2.2003, Nachzug 1]

Logischer Entscheid

Das Uvek ist für die Aussaat des gentechnisch veränderten Stinkbrand Weizens. Nun befindet das Bundesgericht, ob diese erste Freisetzung stattfindet oder nicht.

Das Eidgenössische Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) hat entschieden: Der Beschwerde gegen die Bewilligung, transgenen Weizen freizusetzen, wird die aufschiebende Wirkung entzogen. Die Beschwerdeführenden werden den Entscheid weiterziehen. Anfang März entscheidet deshalb das Bundesgericht letztinstanzlich.

Juristisch ist es so: Die Beschwerde gegen den Freisetzungsversuch hat grundsätzlich solange aufschiebende Wirkung, bis das Uvek sie abgelehnt hat – ausser es entzieht der Beschwerde diese Wirkung, bevor es inhaltlich entscheidet. Was es nun getan hat. Der jetzige Entscheid bedeutet also, mit der Freisetzung dürfe begonnen werden, vorbehalten sei lediglich, dass die Beschwerde, die die Freisetzung verbieten will, später gutgeheissen werde.

Um dieser Logik zum Durchbruch zu verhelfen, brauchte das Uvek Argumente, die Zeitdruck geltend machen. Die ETH lieferte deren zwei:

• Für das geplante Experiment sei es wichtig, dass bei möglichst tiefen Temperaturen ausgesät werde – also in der ersten Märzhälfte.

• Der Nationalfonds (NF) finanziere die Freisetzung als Abschluss des Projekts nur dann, wenn dieses bis zum 31. Dezember 2003 abgeschlossen sei.

Beim zweiten Argument stützten sich die ETH-Juristen auf einen Brief des NF an den Projektleiter Christof Sautter. Darin steht unter anderem: Sollte die Freisetzung «aus irgendwelchen Gründen nicht möglich sein, ist eine erneute Verschiebung (z. B. Frühjahr 2004) leider nicht mehr möglich. Das Projekt […] läuft am 31. Dezember 2003 definitiv aus.»

Merkwürdig: Dieser Brief datiert vom 21. Januar und kündigt an, das Geld werde «in den nächsten Tagen» überwiesen. Die Abteilung 4 des Forschungsrats, die den formellen Entscheid zu fällen hatte, tagte aber erst am 4. Februar. «Kein Problem», sagt Urs Christ, der den Brief an Sautter geschrieben hat. Es gebe einen Entscheid des Forschungsrats aus dem Jahr 2001, das Geld könne freigegeben werden, sobald das Buwal die Freisetzung bewilligt habe (was in der Tat am 20. Dezember 2002 geschah). Deshalb habe die Abteilung 4 am 4. Februar nur noch die Erfüllung dieser Bedingung feststellen müssen.

Aber ist es nicht widersinnig, wenn der NF ein Experiment, das er jahrelang gefördert hat, vor dem letzten Schritt aus Zeitgründen nicht mehr unterstützen will? Christ sagt, Sautters Experiment sei Teil des Schwerpunktprogramms Biotechnologie, das seit Ende 2001 abgeschlossen sei. Es gebe einen Beschluss des Parlaments, die Schwerpunktprogramme seien auf Ende der Legislatur, also auf Ende 2003, endgültig abzuschliessen.

Allerdings: Falls die Freisetzung in diesem Frühjahr nicht möglich wäre, hätte Projektleiter Sautter die Möglichkeit, ein Gesuch an die Abteilung 3 – Biologie und Medizin – einzureichen. Bei positiver Beurteilung erhielte er das Geld im nächsten Frühjahr einfach aus dieser NF-Kasse.

So genau wollte es das Uvek nicht wissen: Es hat den NF-Brief vom 21. Januar zum zentralen Argument gemacht, um der Beschwerde der FreisetzungskritikerInnen die aufschiebende Wirkung zu entziehen.

 

[WoZ, Nr. 11 / 2003, 13.3.2003 Nachzug 2]

Keine Freisetzung

Überraschender Entscheid des Bundesgerichts am Mittwoch dieser Woche: Die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen den ETH-Freisetzungsversuch mit gentechnisch verändertem Stinkbrand-Weizen wird nicht aufgehoben. Grund: Dem Entscheid des Eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek), der Beschwerde die aufschiebende zu entziehen, sind Verfahrensfehler vorausgegangen. Insbesondere sind die Beschwerdeführenden – das Bauernehepaar Keller Grossmann und die IP Suisse – nur ungenügend in das Verfahren einbezogen worden, was zu einem «erheblichen prozessualen Nachteil» geführt habe. Lorenz Hirni, Anwalt der Beschwerdeführenden: «Wir sind erleichtert. Jetzt fällt zur Klärung der grundlegenden Fragen der Zeitdruck weg.» Wenn die Aussage des Projektleiters Christof Sautter stimmt, wonach die Aussaat des transgenen Samens nur «bis Mitte März» und nur noch in diesem Jahr möglich sei (siehe NZZ 8.3.2003), ist dieser Freisetzungsversuch endgültig gescheitert.

 

[WOZ, Nr. 45 / 2003, Kommentar]

Stinkbrand als Türöffner

«Nie mehr Stinkbrand im Weizen» oder «Gentech in Schweizerböden? Nie!» Der Streit ist grundsätzlicher als die Argumente, mit denen er hauptsächlich geführt wird.

Was bisher geschah: Die ETH Zürich stellt ein Gesuch, in ihrer Versuchsstation in Lindau bei Effretikon gentechnisch veränderten Weizen freisetzen zu dürfen, um seine Stinkbrandresistenz zu testen. Die Arbeitsgruppe «Lindau gegen Gentech-Weizen» sagt Nein. Greenpeace und die IP-Bauern der Schweiz sagen Nein. Das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) sagt Nein. Die ETH reicht Beschwerde ein. Moritz Leuenbergers Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) heisst sie gut. Dagegen reichen die ETH-KritikerInnen Beschwerde ein und erhalten beim Bundesgericht Recht. Die Aussaat des Weizens ist für das Frühjahr 2003 verhindert.

Ende Juni hat die ETH ein neues Gesuch eingereicht. Die ETH-Kritikerinnen haben wieder Einsprachen gemacht. Doch diesmal hat das Buwal nun das Gesuch erstinstanzlich bewilligt. Ein «klares Zeichen für die Grundlagenforschung im Bereich der grünen Genechnologie», sagt die ETH. Ein Kniefall vor dem massiven Druck der Gentech-Lobby, vermuten die ETH-KritikerInnen. Sie fragen, warum der Versuch jetzt plötzlich kein Risiko mehr darstelle und haben beim Uvek gegen den Buwal-Entscheid Beschwerde eingereicht.

Stinkbrandresistenz gegen Sicherheitsbedenken: Darum geht es also. Geht es wirklich darum?

Die «Eidgenössische Ethikommission für die Gentechnik im ausserhumanen Bereich» (EKAH) hat dem Buwal zur Beurteilung des neuen ETH-Gesuchs einstimmig Folgendes empfohlen: «Solange die Zweifel an der wissenschaftlichen Qualität und am Sinn des Freisetzungsversuches bestehen, empfiehlt die Ethikommission, den Freisetzungsversuch nicht zuzulassen.» Darauf gestützt hat Buwal-Chef Philippe Roch bei der Bekanntgabe seines Entscheids die Qualität des Versuchs zwar ebenfalls bezweifelt, aber beigefügt, sein Amt habe nicht die Qualität, sondern lediglich die Sicherheitsaspekte des Versuchs zu beurteilen.

Tatsächlich sagen Fachleute, der Versuch sei wissenschaftlich längst veraltet. Darüber hinaus sei nach den vorliegenden Ergebnissen der Experimente in Gewächshaus und Vegetationshalle absehbar, dass der gentechnische Eingriff auch im Freisetzungsversuch nicht die gewünschten Resultate bringen werde. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass die ETH im Sommer Greenpeace anbot, «den Versuch zur Disposition zu stellen». Greenpeace lehnte das Angebot ab wegen der schlitzohrigen Bedingung, auf der die ETH bestand: Sie wollte den Verzicht auf den Versuch erst nach dessen Bewilligung kommunizieren.

Aber auch die Sicherheitsbedenken der Gegenseite erklären deren hartnäckigen Opposition nur teilweise. Immerhin stimmt es vermutlich wirklich, dass weltweit für einen Freisetzungsversuch noch kaum je strengere Sicherheitsbestimmungen diktiert worden sind. Buwal-Chef Roch hat in diesem Punkt denn auch «keine Bedenken».

Also Zwängerei auf beiden Seiten? Die einen beharren auf dem Versuch, obschon er nichts bringt, und die anderen bekämpfen ihn stur, obschon er harmlos ist? Auf der Ebene des öffentlichkeitswirksamen Scheingefechts wirkt das so. In Wirklichkeit ist der Streit aber genauso ernst, wie er ausgefochten wird.

Der ETH, die in dieser Sache nicht nur die Interessen der Forschung, sondern auch jene der Industrie vertritt, geht es offenbar nicht um den Stinkbrand, sondern um ein Türöffnerexperiment, das einerseits ein Präjudiz für andere Freisetzungsversuche und andererseits den Beweis erbringen soll für die Gentech-Sympathien der offiziellen Schweiz. Und auch die Gegenseite kämpft um mehr als um Sicherheit: Die Konzerne mit Sitz in der Schweiz bilden weltweit eine Hochburg der «grünen Gentechnologie». Je länger es gelingt, das Land, von dem her diese Konzerne operieren, gentechfrei zu halten, desto grösser wird deren Legitimationsproblem in all jenen Ländern der Welt, in denen sie bereits heute die grüne Gentechnologie in unverantwortlicher Weise vermarkten. Deshalb ist es richtig, dass die KritikerInnen der Freisetzung den Buwal-Entscheid weiterziehen wollen. Nächste Instanz ist das Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation.

Die ETH hat sich schliesslich durchgesetzt: Der Freisetzungsversuch wurde 2004 durchgeführt. Am 4. Juni 2004 kam es in Eschikon zu einer Kundgebung gegen den Freisetzungsversuch unter dem Motto «Keine Agro-Gentechnik in der Schweizer Landwirtschaft». An der Kundgebung nahmen «rund 1000 Bäuerinnen und Bauern» teil. Nach dem Abschluss des Feldversuchs veröffentlichte die WOZ in Nummer 37/2005 ein Interview von Marcel Hänggi mit dem Versuchsleiter Christof Sautter unter dem Titel «Ständiger Wettkampf».

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Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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