Der Sans-Papier Lazim Bakija

Lazim Bakija ist ein Sans-Papier des Berner Sans-Papiers-Kollektivs. Der 42jährige hat ein junges, fröhliches Lachen, aber er lacht nur selten. Wenn er mit Erzählen innehält, huscht bittere Ratlosigkeit über sein Gesicht. Neben der Kaffeetasse auf dem Tisch liegt sein kleines blaues Handy. Bleib in der Schweiz, habe seine Frau gesagt, zu Hause ist das Risiko zu gross. Das Risiko ist zu gross: Das hat auch sein Chef hier gesagt und ihm schriftlich bestätigt, dass er mit der Arbeit sofort wieder anfangen könnte, wenn er neue Papiere hätte. Das dritte Risiko: dass er als Rechtloser, der sich öffentlich wehrt, von den Behörden schliesslich ausgeschafft werden wird. Die Kirchenbesetzungen, sagt er, sind die letzte Chance hier.

Das mazedonische Bergdorf, in dem Lazim Bakija geboren wurde, hatte keine Autostrasse, keinen Strom, und die Schule dauerte nur vier Jahre. Deshalb zogen seine Eltern nach Sarazino, ein Dorf fünf Kilometer von Tetovo. Dort wuchs er als Albaner unter neunzig Prozent Serben und Serbinnen auf. Jene waren christlich-orthodox und hatten eine Kirche. Seine Familie war muslimisch und half mit, den Boden für eine Moschee zu kaufen. Aber eine Baubewilligung gibt es bis heute keine. Im Krieg seien in den letzten Monaten in der Region Tetovo 46 Moscheen zerstört worden, sagt er. 

Als muslimischer Jugendlicher hatte er in Sarazino keine Chance, Arbeit zu finden. Insgesamt zwölf Jahre lang war er arbeitslos. Deshalb begann er der Arbeit nachzureisen. Und auf jeder Reise reiste die Angst mit: «Ich war immer wieder illegal.» Schwarz arbeitete er in Slowenien und in Kroatien, später in einem Kohlekraftwerk in Serbien und schliesslich in einer Gärtnerei in Deutschland. Mit dem Geld, das er zusammensparte, erwarb er ein Haus. Ende der siebziger Jahre heiratete er. Zwischen 1980 und 1989 wurde er Vater von drei Töchtern und zwei Söhnen. Zwischenhinein hatte er in der jugoslawischen Armee 15 Monate Dienst zu leisten.

Ab 1990 kam er als Saisonnier in die Schweiz, sieben Jahre lang arbeitete er als Fassadengerüstebauer in Bern. Er hatte eine Wohnung in der Stadt, er bezahlte pünktlich seine Prämien für die Krankenkasse, die er nie in Anspruch nahm, er überwies jeden entbehrlichen Franken an seine Frau: Seine Kinder sollten die Schulen besuchen können und es einmal besser haben als er. Jetzt, da die beiden Ältesten bereits die Universität besuchen und das Mittlere das Gymnasium, sitzt er hier, hat keine Möglichkeit mehr, Geld zu verdienen und das Versprechen einzulösen, das er seinen Kindern gegeben hat. Werden sie von ihrem Vater, von dem sie nur die Handynummer haben, nicht enttäuscht sein? Anfang 1997 hat er keine Papiere mehr erhalten: Seit der Einführung des bundesrätlichen Drei-Kreise-Modells waren mazedonische Saisonniers nicht mehr erwünscht. Ende 1996 dann liefen die letzten Übergangsfristen ab. Seither schlägt er sich in der Schweiz als Sans-Papier durch und arbeitet schwarz. Zwischenhinein ist er arbeitslos, spart sich Miete und Krankenkasse vom Mund ab und überweist, was er irgendwie erübrigen kann. Während in der Schweiz seine Lebensbedingungen so immer schwieriger geworden sind, hat sich der Krieg durch den Balkan südwärts gefressen. Seine Frau nahm in ihrem gemeinsamen Haus sieben kosovo-albanische Flüchtlinge auf. Im Frühjahr 2001, als der Krieg die Region von Tetovo erreichte, flüchtete seine Familie und wurde im gebirgigen Grenzgebiet zerstreut.

In dieser Zeit macht er einen weiteren Versuch, seinen Status in der Schweiz zu legalisieren. Er geht in Bern auf die Einwohnerkontrolle an der Predigergasse 5. Aber dort ist man nicht zuständig und schickt ihn an die Empfangsstelle nach Basel. Dort wird er zuerst eingesperrt, dann ausführlich befragt, dann nach Deutschland abgeschoben. In Deutschland erreicht er nichts als eine weitere Abschiebung. Er kommt schwarz über die Grenze nach Bern zurück, seither schlägt er sich wieder illegal durch. Als sich auch hier eine Unterstützungsgruppe für die Sans-Papiers und ein Besetzerkollektiv bildet, beginnt er sich zu engagieren.

Unterdessen sind seine Frau und die Kinder wieder nach Sarazino in sein Haus zurückgekehrt. Aber Frieden gibt es in der Region Tetovo weiterhin nicht. Gerade letzte Nacht habe es wieder eine Schiesserei gegeben, hat ihm seine Frau am Vormittag am Telefon erzählt. Provokationen, sagt er: «Wir haben verhandelt. Man hat uns Rechte versprochen. Wir haben unsere Waffen abgegeben. Aber die Rechte haben wir nicht erhalten.» In Mazedonien gebe es weiterhin keine Sicherheit, keine Sicherheit zum Arbeiten, keine Sicherheit zum Lohnkriegen. Lohn und Arbeit, das hätte er hier, wenn er Papiere hätte.

Plötzlich beginnt das kleine blaue Handy zu klingeln. Lazim Bakija nimmt ab. Es ist ein Kollege.

Im Juni 2001 hatte in Fribourg eine Gruppe von Papierlosen («Sans-Papiers») eine Kirche besetzt und ein Manifest veröffentlicht, in dem sie die «kollektive Regularisierung alles Sans-Papiers» forderte. In den folgenden Monaten schlossen sich diesem Protest weitere «Sans-Papiers»-Kollektive an, zuerst in der französischen Schweiz, später auch in der Deutschschweiz. In jenem der Stadt Bern war damals Lazim Bakija engagiert. Zur Fortsetzung seiner Geschichte siehe die Reportage «Härtefall-Lotterie». – Fast neun Jahre später porträtierte ich Lazim Bakija für die Gewerkschaftszeitung Work als Gerüstbauer unter dem Titel «Ich musste leben!».

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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