Der mysteriöse Mediendunst

Warum eigentlich wird die Berichterstattung der Medien immer offener und tabufreier, aber trotzdem immer gleichförmiger und diffuser? Warum versinkt das medial Umgesetzte immer tiefer in einem mysteriösen Dunst – obschon, wie beteuert wird, auf allen Redaktionen die Klarsicht uneingeschränkter Berichterstattung herrscht?

Gewöhnlich antwortet in mir auf solche Fragen zuerst der Gewerkschafter: Es gibt eben eine tiefe Medienkrise, die konjunkturelle und strukturelle Ursachen hat. Den ökonomischen Druck, den sie bewirkt, geben die Verlage an die Medien weiter, also auch an die Redaktionen. Stellenprozente, Seitenzahlen, Sendegefässe, Honorarbudgets werden zusammengestrichen. Erhöhter Zeit- und Produktionsdruck verschlechtert die Arbeitsbedingungen. Eine Folge ist dieser mysteriöse Dunst, der die Berichterstattung zunehmend umgibt: Das Ungefähre ist schnell hingepinselt; Klarheit würde mehr Rechercheaufwand und Sorgfalt bei der Darstellung erfordern. Die journalistische Qualität leidet, die Verantwortung dafür tragen die Verlage, Schurnis aller Redaktionen vereinigt euch! Hoch die intermediale Solidarität!

Sehr interessant, tröste ich das «comedia»-Mitglied in mir. Aber spannender als die Krise ist eigentlich die sich verändernde Normalität der Medienwelt, die bekanntlich wie folgt funktioniert: «Die Freiheit von Presse, Radio und Fernsehen (…) ist gewährleistet», im übrigen nehmen staatliche und private Akteure auf diese Freiheit nach Massgabe ihrer Interessen grösstmöglichen Einfluss (Artikel 17 der Bundesverfassung). Die Methoden der Einflussnahme haben sich mit den gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen verändert. Die mediale Normalität lässt sich seit dem 19. Jahrhundert grob in drei Entwicklungsphasen einteilen.

In einer erste Phase gab es nur gedruckte Medien, die sich, wenn auch streitbar, der Darstellung der einen und unteilbaren Welt widmeten. Die Gesellschaft war überschaubar und weitgehend vertikal organisiert – der Informationsfluss ebenso. Die publizistische Norm war kommentierter Verlautbarungsjournalismus bei funktionierender Kontrolle der Redaktionen durch die Obrigkeit. Im Konfliktfall kam verdeckt oder offen Zensur zur Anwendung. Es wurde um einzelne Begriffe und Texte gekämpft im Hinblick auf die Darstellung eines Wirklichkeitsaspekts, der verschwiegen oder in einer anderen Perspektive abgehandelt werden sollte.

In der zweiten Phase gesellen sich zu den gedruckten nach und nach die audiovisuellen Medien. Gleichzeitig verändert sich ihr Fokus: War zuvor die richtige Darstellung der einen und unteilbaren Welt umstritten, geht es nun um die unvereinbar antagonistische Darstellung einer geteilten Welt, die die politischen Realitäten der Klassenkämpfe und später des Kalten Kriegs widerspiegeln. Gesellschaftliche Strukturen und Informationsflüsse breiten sich horizontal aus. Die direkte obrigkeitliche Einflussnahme wird schwieriger. Publizistische Konfliktfälle werden zunehmend im politischen Raum ausgefochten. Statt zensuriert wird manipuliert: Gekämpft wird jetzt um die Tendenz der Berichterstattung insgesamt, das heisst um die ideologische Deutung der dargestellten Wirklichkeitsaspekte.

Den Beginn der dritten Phase markiert das Ende des Kalten Kriegs, das zeitlich zusammentrifft mit der Elektronifizierung der Medien. Gesellschaftliche Strukturen und Informationsflüsse werden unübersichtlich, der Links-rechts-Antagonismus wird obsolet, der Zeitgeist frönt der Ideologie der Ideologiefreiheit. Der Zugriff von aussen auf das Alltagsgeschäft von Redaktionen ist kaum mehr möglich. Im Konfliktfall… Im Konfliktfall? Plötzlich happerts mit der flotten mediengeschichtlichen Skizze. Zensurfälle? Systematische Manipulation – mal abgesehen von handgestrickten religiösen und politischen Sektenblättchen? Merkwürdig, ausser sporadische medienrechtliche Skurrilitäten scheint es da nichts mehr zu geben. 

Oder doch?

Ein  typischer Fall für den Verschwörungstheoretiker in mir. Er hilft sofort weiter: Zensur und Manipulation sind mediengeschichtliche Phänomene, die längst zu schwach und ungeeignet geworden sind, um publizistisch eine steuernde Wirkung zu entfalten. Gekämpft wird heute weder um Begriffe und Texte noch um die Tendenz der Berichterstattung, sondern um den Zugang zu den Wirklichkeitsaspekten überhaupt, die von den Schurnis abgebildet werden sollen. Dieser Zugang ist heute in allen relevanten Bereichen blockiert durch Checkpoints, die verbunden sind mit einigen mächtigen Relaisstationen; letztere nennt man «Agenturen», erstere «Medienabteilungen». Diese leisten sich heute alle privaten und staatlichen Akteure, die einen vollständig kontrollierten öffentlichen Auftritt brauchen. Man darf davon ausgehen, dass der Anteil des öffentlich relevanten Raums, der von Checkpoints abgeschottet wird und für Schurnis nicht mehr zugänglich ist, dauernd wächst. Schurnis werden an den Checkpoints von PR-Profis mit Informationen zugemüllt, die sich betont sachlich geben und als Hintergrundmaterial oft sogar nützlich wären, wenn sie nicht den Zugang zur Wirklichkeit vollständig ersetzen würden. In aller Regel sehen sich Schurnis heute mit supponierten Kulissenwirklichkeiten konfrontiert. Wie „einseitig“ oder „objektiv“ sie darüber berichten, ist egal geworden: Was sie über die Wirklichkeit, die sie meinen, aussagen, können sie so oder so nicht wissen.

Dazu kommt die Verschulung der Schurni-Branche. Wo früher noch heissblütig autodidaktische GesinnungstäterInnen unterwegs waren, begegnet man heute Profis, die in ihrer Ausbildung lernten, ein richtiger Schurni beherrsche das Handwerk des kritischen Journalismus und der Public relations gleichermassen, und Professionalität bestehe gerade darin, zwischen diesen Funktionen jederzeit nahtlos switchen zu können. Schurnis sitzen heute – in ihrem standespolitischen Selbstverständnis – an jeder Pressekonferenz potentiellen Arbeitgebern gegenüber, die sie nicht verärgern wollen. Im übrigen wird PR im Vergleich zu Journalismus im Verhältnis zwei zu eins honoriert.

Wirklich sehr interessant, sage ich zum ehemaligen WOZ-Kollektivisten in mir. Allerdings: Was, wenn der mysteriöse Dunst – die Farb- und Konturlosigkeit der heutigen Medienbeiträge – auch ein Rezeptionsproblem wäre? Was, wenn die starren ideologischen Bezüge zwischen Tatsache und Deutung, die die Welt auf so probate Weise erzählbar gemacht haben, nicht nur auf den Redaktionen der Medien zerfallen würden, sondern auch im eigenen Kopf? Und gesetzt den Fall, eine unerzählbar gewordene Welt würde langsam vollständig in einem mysteriösen Dunst verschwinden: Wovon handeln dann die Medien, wenn sie Wirklichkeiten vorspiegeln, als ob es die Welt noch gäbe?

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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