Der lange Weg zum Duldungsrecht

Vor fast einem Jahr hat in Bern das «Wohnkollektiv Elfe» den Kistlerweg 23 besetzt, Ende April 1993 dann die «Aktion Wohnraum» vier weitere Häuser und eine Wiese im Lorrainequartier. Damit ist die neugewählte Stadtregierung an ein Wahlversprechen erinnert worden: Duldungsrechte für BewohnerInnen leerstehender Wohnungen zu schaffen. Für die Einlösung des Versprechens am ehesten zuständig fühlt sich die Finanzdirektorin Therese Frösch (Grünes Bündnis). Mit ihr diskutieren Giorgio Andreoli und Marjolein Schärer, zwei Mitglieder der «Aktion Wohnraum».

Moderation: Fredi Lerch

WoZ: Therese, in der Wahlplattform der Rot-grün-Mitte-Regierung, der du angehörst, heisst es: «Es werden Duldungsrechte für BewohnerInnen leerstehender Wohnungen geschaffen.» Ist zu dieser Absichtserklärung eine politische Praxis in Sicht?

Therese Frösch: Wie wir zu einer rechtlich abgestützten Duldungspraxis kommen, kann ich heute nicht sagen. Es ist die Aufgabe des juristischen Gutachtens, das wir in Auftrag gegeben haben, bis Mitte Juli hier eine Antwort zu geben. Die Besetzungen der «Aktion Wohnraum» haben aber dazu geführt, dass wir eine Praxis in diesem Bereich beschleunigt anstreben. Zur Zeit bewegen wir uns in einem freiwilligen Vermittlungsraum. Deshalb gehen wir hier in der Liegenschaftsverwaltung im Augenblick sehr pragmatisch vor – auch aus der Überlegung heraus, dass wir die notwendigen Grundsatzdiskussionen nicht derart schnell durch die Verwaltung und durch den Gemeinderat peitschen können, wie es nötig wäre, um für die jetzt besetzten Häuser Lösungen zu finden.

WoZ: Ende April hat die «Aktion Wohnraum» vier Häuser von Privaten und eine städtische Wiese im Lorrainequartier besetzt. Warum?

Giorgio Andreoli: Auf der einen Seite hat die Aktion sicher damit zu tun, dass es jetzt punkto Regierung ein anderes Klima gibt in der Stadt. Auf der anderen Seite sind die Duldungsrechte in der Wahlplattform eben klar benannt worden. Dazu kommt die Tendenz der letzten zwei, drei Jahre, dass auch linke Leute vermehrt Häuser nicht im Baurecht zu übernehmen, sondern als Eigentum zu kaufen versuchen, um sich ihr privates Wohnparadies erfüllen zu können. Das führt zu einer Entpolitisierung der Wohnungsnot. Diesem Trend versucht die «Aktion Wohnraum» entgegenzusetzen, dass Wohnen für alle ein Grundbedürfnis ist. Unser kurzfristiges Ziel ist, eine Duldungspraxis durchzusetzen, damit die Besetzer und Besetzerinnen in den Häusern bleiben können, bis wirklich umgebaut oder abgebrochen wird. Mit längerfristigen Forderungen haben wir zudem versucht, Bedürfnisse breiter Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Immerhin sind in Bern 90 Prozent der Leute Mieter und Mieterinnen.

Frösch: Du sagst, die politische Dimension der Wohnungsnot gehe mit dem Kauf von Häusern verloren. Dass sich Leute eigene Häuser kaufen, finde ich nicht schlecht: Irgendeinmal arrangiert man sich halt, weil man verzweifelt oder resigniert oder schlicht nicht ewig lebt. Die Leute können von mir aus alles machen, Häuser kaufen, Kinder haben, heiraten. Wenn sie sich aus den Bewegungen zurückziehen, ist für mich nur wesentlich, ob sie noch solidarisch sind oder nicht.

Marjolein Schärer: Häuser kaufen kann allerdings nur eine privilegierte Schicht. Ich habe mich zum Beispiel entschlossen – obschon ich einen Beruf habe, mit dem ich genügend verdienen könnte –, in einem selbstverwalteten Betrieb zu arbeiten. Dort haben wir Stundenlöhne von zwölf Franken. Deshalb bin ich absolut nicht in der Lage, die gängigen Mietzinse zu bezahlen. Dazu kommt, dass die selbstverwalteten Betriebe sehr arbeitsaufwendig sind. Ich muss deshalb für mich und mein Kind eine Wohnform finden, in der das Kind integriert ist. Ich will aber als Feministin ganz klar nicht mit dem Vater des Kindes leben. Das heisst: Die Wohnform muss offen sein, grösser sein. Wo kann man das heute noch leben? Nirgends. Deshalb ist es für mich die politische Forderung zentral, dass es Möglichkeiten geben muss, um grössere, offenere Wohnformen zu leben. Es geht darum, den Raum zu schaffen, dass immer mehr in diesem Sinn brauchbarer Wohnraum erhalten bleibt.

Frösch: Ich finde diese Forderung gut. Aber wenn du, Giorgio, sagst, ihr wollt mit der Aktion ein Zeichen setzen auch für die neunzig Prozent Mieter und Mieterinnen in dieser Stadt, dann ist für mich der springende Punkt, wie wir diese Forderungen «überebringe». Es gibt für mich einerseits den Clinch mit euren radikalen Forderungen, andererseits den Clinch mit einem Teil des Gemeinderates oder jenem VPOD-Kollegen, der mir im Bus sagt, diese Besetzungen seien für ihn eine Sauerei.

[Andreoli: Für solche Leute haben wir zum Beispiel den Vorschlag gemacht, eine Wohnungstauschbörse einzurichten, damit ältere Leute in eine kleinere Wohnung ziehen, aber im Quartier bleiben können, wenn die Kinder ausgezogen sind.

Frösch: Der Vorschlag ist gut, das stimmt. Aber in der Öffentlichkeit, in der Bevölkerung läuft der Bewusstseinsprozess zeitverschoben. Für den unmittelbaren Konflikt, der uns jetzt bevorsteht und den wir zu lösen haben, müssen wir sehen, wie wir unsere Diskussion vermitteln können.]

WoZ: Bereits seit dem 22. Juni 1992 hält das «Wohnkollektiv Elfe» den Kistlerweg 23 besetzt. Die Stadt hat im April mit dem Besitzer Heinz Stettler und dem Kollektiv Gebrauchsleiheverträge mit einmonatiger Kündigungsfrist abgeschlossen. Diese Legalisierung der Besetzung hat der Besitzer dazu genutzt, den Vertrag sofort zu kündigen. Therese, bist du als Verhandlungsleiterin der Stadt schuld, dass das Haus jetzt Ende Mai geräumt werden muss?

Frösch: Es war so: Die Leute vom Kistlerweg sind an uns gelangt, weil der Besitzer ihnen durch die Stadt im Dezember Wasser und Gas abstellen liess. Man müsste die alte Regierung fragen, warum sie da mitgemacht hat. Ich habe danach zu machen versucht, was noch möglich war.

Andreoli: Wenn Leute in einem besetzten Haus bereits ein halbes Jahr leben und dann Wasser und Strom abgestellt werden soll, könnte der Gemeinderat anders auf das Begehren des Besitzers reagieren. Und der Gebrauchsleihevertrag, den ihr dann ausgehandelt habt, hat einen entscheidenden Fehler: Es gibt darin keine Klausel, dass das Wohnkollektiv erst beim Umbau- oder Abbruchtermin ausziehen muss und dass der Besitzer beweisen muss, dass dieser Termin wirklich ansteht. Hat Stettler euch gegenüber zum Beispiel nachgewiesen, dass er einer Baufirma den Auftrag gegeben hat, nach dem Abbruch mit dem Neubau zu beginnen?

Frösch: Nein, das hat er nicht gemacht.

Andreoli: Eben, das meine ich. An der Bäckerstrasse in Zürich ist auch abgerissen worden. Dann hat der Besitzer das Baugesuch zurückgezogen. Heute ist das Areal eine klaffende Baulücke. Die Regierung muss hier einfach sagen, dass sie sich unsoziale Räumungen nicht leisten kann, nicht von ihrer Geschichte und nicht von ihrer Politik her.

Frösch: Wir haben diesen Vertrag abgeschlossen aufgrund der Möglichkeiten, die wir gehabt haben. Stettler hätte sonst die Polizei kommen lassen können – und ich bin nicht Polizeidirektorin und habe in diesen Sachen nicht allein die Mehrheit. Deshalb musste man einen Vertrag zu machen versuchen. Wir haben lange mit ihm verhandelt und konnten nichts Besseres erreichen, weil wir keine rechtliche Basis hatten. – Aber es ist schon so, wie du, Giorgio, sagst, dass wir Stettlers Kündigung nicht akzeptieren dürften. Da müssen wir mit der Zeit in dieser Stadt eine andere politische Kultur schaffen, dass man als Rot-grün-Mitte öffentlich sagt, welche Leute, die Eigentum haben, sich wie verhalten…

WoZ: …dass die Stadtregierung Private von Fall zu Fall als asoziale Besitzer denunzieren würde?

Frösch: Ja, im Prinzip schon. Wir sind ja eine Regierung mit einer Wahlplattform, hinter der eine Ethik und ein Menschenbild stehen.

WoZ: In der Lorraine hat die «Aktion Wohnraum» eine stadteigene Wiese besetzt. Obschon hier der Verhandlungsspielraum für den Gemeinderat grösser hätte sein müssen, hat er die Besetzer und Besetzerinnen mit einer ultimativen Räumungsdrohung vertrieben.

Frösch: In dieser Geschichte müssen wir vermutlich schon über die Bücher. Die Diskussion darüber ist im Gemeinderat nicht über das Argument städtisch oder privat gelaufen, sondern: Ein Platz ist kein Haus, diese Besetzung wird Lämpen geben, ein zweites Zaffaraya, ein neuer Reitschule-Vorplatz, dem werden wir nicht gewachsen sein. Bei diesem Entscheid war sicher auch Angst dabei.

Schärer: Der neue Gemeinderat hat zu überhastet reagiert mit seinem Räumungsbefehl. Er hat sich zu wenig damit auseinandergesetzt, was die Gruppe auf der Lorrainewiese überhaupt will. Es gibt das Versprechen, dass eine Zone für experimentelles Wohnen, wie sie Stadtparlamentarier Otto Mosimann 1988 mit einer Motion gefordert hat, schon lange Realität werden müsste – und das haben wir dem Gemeinderat in einem Brief auch geschrieben. Die Stadt will diese Zone nun im neuen Nutzungszonenplan festschreiben, und der kommt vielleicht in zwei Jahren zur Abstimmung. Diese Sache wird also verschleppt.

Andreoli: Wenn jetzt bis zu dieser Abstimmung wieder zwei Jahre lang nichts geht, fordere ich die Stadt auf, eine Zwischenlösung zu machen und auf einem Platz ein Provisorium einzurichten, mit dem Risiko, dass der Platz aufgehoben wird, wenn die Abstimmung verloren geht.

Schärer: Ihr vom neuen Gemeinderat seit auf diese Diskussion nicht eingestiegen und habt einfach gesagt, unsere Besetzung habe eine Sogwirkung und die Leute im Quartier hätten Angst vor uns, darum müssten wir weg. Dabei ist in der Lorraine, in den vierzehn Tagen, in denen wir auf der Wiese waren, eine Akzeptanz entstanden, die wir nie erwartet hätten.

Frösch: Ich übernehme die Verantwortung für den Räumungsentscheid, es war ein Entscheid zu null, es gibt da nichts zu husten. Der Entscheid war: Die Leute auf der Wiese müssen gehen, und in den besetzten Häusern versuchen wir, das Möglichste herauszuholen. Aber für mich wäre es nicht schlecht gewesen, wenn von eurer Seite her eine Warnung oder eine Drohung gekommen wäre vor der Besetzung. Warum habt ihr denn nicht vorgängig den Latrinenweg genommen und mit uns geredet? 

Schärer: Wir haben seit drei, vier Jahren beobachtet, wie die Motion Mosimann verschleppt wird. Wir hatten die Einschätzung, dass es zuerst politischen Druck geben muss, um überhaupt Verhandlungen erreichen zu können. Deshalb haben wir zur Selbsthilfe gegriffen und uns auf dem ausserparlamentarischen Weg bemerkbar gemacht.

Frösch: Ihr seid davon ausgegangen, dass wir als Stadtregierung eurem Vorgehen gewachsen sein und eine Lösung zustandebringen würden. Das bringen wir offensichtlich nicht in jedem Fall so schnell, und wir machen auch Fehler. Auch ich bin verunsichert gewesen und habe gefunden, es sei einfacher weiterzuverhandeln, wenn ihr den Platz zuerst einmal räumt.

Schärer: Mit unserem Rückzug auf die private Nyffelerwiese haben wir nun immerhin mitgeholfen, einen Spielraum zu schaffen, damit die Verhandlungen weitergehen können.

WoZ: Was erwartet die «Aktion Wohnraum» in den kommenden Wochen von der Stadtregierung?

Andreoli: Wichtig ist uns, dass nicht alles an dir, Therese, festgemacht wird. Wir wollen den Gesamtgemeinderat ansprechen. Die Forderungen betreffen ja verschiedene Direktionen der Stadtverwaltung; bei Planungsfragen ist das Bauamt von Therese Giger zuständig, bei Stadtplanungsfragen die Präsidialdirektion von Klaus Baumgartner, wenn Wasser und Strom abgestellt werden soll, Alfred Neukomm, und wenn nach der Polizei gerufen wird, Kurt Wasserfallen. Unsere Perspektive ist, dass unsere Forderungen möglichst schnell und zum Teil auch schon in den jetzt besetzten Objekten umgesetzt werden können. Wir werden aber als «Aktion Wohnraum» weiterhin dranbleiben. Es gibt weitere leerstehende Häuser, auch leere Botschaften, auch leere luxussanierte Häuser. Uns geht es darum, dass man in dieser Gesellschaft beim Wohnen Visionen entwickeln und ausprobieren kann.

Frösch: Ich meine, man muss eben auch innerhalb der Institutionen Visionen zu realisieren versuchen. Wir müssen als Gemeinderat eure radikalen Forderungen aufnehmen und zu zeigen versuchen, dass sie auch die Mehrheit in Bern etwas angehen.

Schärer: Von uns her ist sehr wichtig, dass der Gemeinderat die Duldungspraxis auch in Bezug auf Plätze ernst nimmt.

Frösch: Du sprichst von «Plätzen». Werden noch weitere besetzt?

Schärer: Das sehen wir dann (lacht).

 

Der in eckige Klammern gesetzte Wortwechsel zwischen Andreoli und Frösch ist in der Zeitung weggestrichen worden. Zu Marjolein Schärer vergleiche auch:«Rollender Mops wird Zugvogel». Aktuelle Hintergründe zur hier diskutierten Situation finden sich unter hier.

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Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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