Der hohle Boden der Kritik

Eine der weniger werdenden Eigenleistungen der Berner Tageszeitung «Der Bund» ist das «Samstagsinterview». Ich lese es häufig. Auch letzthin, als es mit dem Unternehmensberater Reinhard Sprenger geführt worden ist, der in seinem Bereich erfolgreiche Sachbücher veröffentlicht («Der Bund», 13.2.2016).

Und siehe da: Hatten die 68erInnen seinerzeit noch vage behauptet, die bürgerliche Demokratie höre an den Fabriktoren auf, so redet hier einer, der die heutigen Zustände hinter diesen Toren kennt und zu kritisieren weiss. In vielen Betrieben, sagt er, herrsche eine «Erniedrigungsbürokratie», die die Angestellten mit «psychosozialer Zudringlichkeit» verforme, indem sie andauernd «befragt, vermessen, gesteuert, optimiert und fürsorglich belagert» würden. Heutzutage seien die verantwortlichen Manager «Reiz-Reaktions-Automaten», die sich als «Differenzgeneratoren» verstünden und deshalb das Defizit der Mitarbeitenden «zwischen Soll und Ist» fortwährend mit den «freundlich maskierten Techniken der Infantilisierung und Therapeutisierung» bearbeiteten. «Jährlich aufgezwungene, standardisierte Mitarbeitergespräche» und die «Feedbäckerei» in speziellen «Feedback-Rooms» als Teil eines «360-Grad-Feedbacks» führe «massiv zur Konformität, zur Gleichmacherei».

In wünschenswerter Klarheit schildert da einer, der es wissen muss, wie Arbeitgeber heutzutage über das Zwangsmittel des jederzeit kündbaren Arbeitsvertrags samt Zahltag-Entzug nicht mehr nur, wie seinerzeit, die optimale Ausbeutung der Arbeitskraft einfordern, sondern gleich den bedingungslosen Durchgriff auf Kopf, Herz und Hand des «Humankapitals». Als gelungen zu betrachten ist diese zweifellos persönlichkeitsverändernde Gehirnwäsche dann, wenn sich die dergestalt zu Knechten Zugerichteten auch noch einbilden, weiterhin – oder gar: gerade deshalb – freie Menschen zu sein.

(Letzteres sagt der interviewte Unternehmensberater freilich nicht, denn er lebt ja von den Unternehmen, die er kritisiert. Darum fordert er nicht die Abschaffung dieser neoliberalen Umerziehungslager, sondern deren effizienzsteigernde Reform. Sein neuster Bestseller heisst «Das anständige Unternehmen», und das definiert er so: «In einem anständigen Unternehmen führt der Kunde das Unternehmen, nicht die oberste Führungsetage.» An dieser Stelle habe ich nachhaltig erheitert in meinen Morgenkaffee gelacht.)

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Am 29. April 2010 hat «Die Zeit» Thomas Assheuers Rezension zu den letzten Vorlesungen von Michel Foucault veröffentlicht, die zuvor bei Suhrkamp in zwei Bänden erschienen sind: «Die Regierung des Selbst und der anderen» (2009) und «Der Mut zur Wahrheit» (2010).

Darin definiert der Rezensent den wichtigen Foucault-Begriff der «Gouvernementalität» als die Behauptung, «der Liberalismus sei eine Herrschaftstechnik, die der Bürger gar nicht bemerkt, weil sie ihn nicht von aussen, sondern von innen diszipliniert». In seinen Vorlesungen von 1981 bis 1984 sei es Foucault darum gegangen, so Assheuer, «doch noch einen Ort der Wahrheit und des Menschen ausfindig zu machen – den Ort eines ‘freimütigen’ und eigensinnigen Daseins, das mehr ist als das Abziehbild ‘liberaler’ Herrschaftstechniken und das dumpfe Double des medialen Geplappers».

Diesem Ort gab Foucault den altgriechischen Namen «Parrhesia», was «Alles-Sagen», «Wahrsprechen», furchtloses «Frei-heraus-die Wahrheit-Sagen» bedeutet. Unter Parrhesia könnte also die Redefreiheit verstanden werden, die sich mit dem «wahren» Argument in den Dienst von etwas anderem als von Partikularinteressen stellt. «Politisch gesehen», so Assheuer, «ist Parrhesia der ‘Freimut’ vor der Macht; ethisch betrachtet, ist es der ‘Freimut’ vor sich selbst».

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Allerdings ist «Parrhesia» alles andere als ein einfacher Gedanke. Wer das furchtlose «Frei-heraus-die-Wahrheit-Sagen» einfordert, muss auch sagen können, was «die Wahrheit» ist. In einer säkularen, aufgeklärten Weltsicht ist sie sicher nichts Zeitlos-Allgemeingültiges oder gar dogmatisch Metaphysisches. Wahrheit ist wandelbar, weil sie ohne historisch gewordene diskursive Machtverhältnisse nicht zu haben ist. Mit den Machtverhältnissen ändert sich aber das, was als Wahrheit gilt.

Erst recht kompliziert wird es, wenn man in aktuellen Debatten einen parrhesiastischen Standpunkt einzunehmen versucht. 2010 hat der deutsche Sprachwissenschaftler Siegfried Jäger in einer Rede deshalb eine «falsche Parrhesia» postuliert und diese am Beispiel der Auseinandersetzungen um die Mohamed-Karikaturen in der dänischen Tageszeitung «Jillands-Posten» (September 2005) erläutert. Seither waren die Reaktionen der grossen Medien nach dem Terroranschlag auf die «Charlie Hebdo»-Redaktion am 7. Januar 2015 in Paris unter diesem Aspekt ein Déjà-vu. Verurteilt wurde die Gewalt in beiden Fällen unter pathetischer Berufung auf die Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit als Teil der universal geltenden Grundrechte, die unabhängig von Religion, Nationalität, Geschlecht und sexueller Orientierung für alle Menschen gelten müssen.

So unhintergehbar richtig diese Position ist, so klar sei sie, so Jäger in seiner Rede, im konkreten Kontext einer «auf sich selbst bezogenen Sorge um sich» entsprungen, die «die Sorge um die Anderen und damit um die Welt» vergessen habe. Solche «Parrhesia» sei eine falsche, weil der universelle Anspruch der Wahrheit «absolut eurozentristisch formuliert ist und nicht gesehen wird, dass diese komplexer gewordene Welt einen komplexeren Begriff von Meinungs- und Pressefreiheit braucht, der die transhistorische und transnationale Natur der Wahrheiten anerkennt». In Diskussionen wie dieser liefen die Grundwerte der westlichen Demokratien deshalb Gefahr, «zu einem ‘korrupten Universalismus’ [zu] erstarren».

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Und was hat das mit der Kritik des Unternehmensberaters zu tun? So wie diese eine instrumentelle Pseudo-Kritik ist, die – obschon wohl unbestreitbar richtig (also «wahr») – nur so weit reicht, wie sie den Interessen des Kritikers als Autor von Unternehmensberatungs-Bestsellern nützt, so werden die in der europäischen Aufklärung postulierten Grundrechte – obschon unbestreitbar richtig (also «wahr») – zu eurozentrischer Pseudo-Kritik, wenn sie zu nichts anderem als zur Propaganda für die Interessen der hochindustrialisierten Länder dienen.

Für die «richtige Parrhesia» wäre demnach nicht nur der Inhalt, die «Wahrheit», Voraussetzung (in diesem Fall das Grundrecht der Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit), sondern auch die richtige Form: Offenbar ist es keine parrhesiastische Tat, einen Tag nach einem Terroranschlag über die Mainstream-Medien ein hierzulande sowieso weitgehend unbestrittenes Grundrecht zu verteidigen, wenn es im Kontext zu nichts anderem dienen kann als der Propaganda für polizeiliche, geheimdienstliche und militärische Aufrüstung. Die Ethik des furchtlosen «Frei-heraus-die-Wahrheit-Sagens» verlangt, kontextbewusst zu reden – und zu schweigen.

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Aber was dann? Nicht nur, wenn sich in den grossen Medien die Edeldomestiken der Macht auf ihre Sicht der Aufklärung berufen, klingt vieles nach jener «zynischen Vernunft», die Peter Sloterdijk seinerzeit definiert hat als «reflexiv abgefedertes falsches Bewusstsein»[1]. Nein, auch wenn ich unter FreundInnen im Gespräch weinselig auf jene zu sprechen komme, die hier von der Sozialhilfe leben; auf die Legionen von jungen Arbeitslosen in den südeuropäischen Ländern; auf die Völkerwanderungen von Flüchtlingen, die zur Zeit nach Europa strömen – immer schwingt in meiner Gutmensch-Rhetorik ein zynisch-falscher Ton mit.

Letzthin bin ich nach dem Abendessen in der Küche sitzengeblieben, um mir im Radio die Zweitausstrahlung von Gerhard Meisters 2012 produziertem Hörspiel «In meinem Hals steckt eine Weltkugel» anzugehören. Ich hörte es als eindrückliche Studie über diesen zynisch-falschen Ton. In einer Passage monologisiert darin ein Ich darüber, was es mit einem kleinen Geldbetrag alles Gutes tun könnte, wenn es wollte und dass sein Geld demnach darüber bestimme, welches Kind in Äthiopien die Schule besuchen könne und welches den Hungertod sterbe. Diese Tatsache mache einen zwar zum «gottverdammten Nazi», aber andererseits habe die ganze Helferei nichts als einen «gigantischen Hilfsapparat» hervorgebracht und eine «gigantische Bettlermentalität». Die Passage schliesst mit folgendem Räsonnement: «Ich weiss, in was diese wohlgeordnete, von Normalität getränkte Welt verstrickt ist. Ich weiss, es gibt diese Normalität nicht. Sie ist nur eine Illusion. Ich weiss das und ich verdränge dieses Wissen. Ich lebe in einer Blase, die sofort platzt, wenn ich zu denken anfange. […] Ich kann keinen Schritt mehr tun, wenn ich aufhöre zu verdrängen, weil ohne Verdrängung der Boden unter meinen Füssen so unerträglich hohl klingt. […] Ich lebe, weil ich verdränge. Ich atme, weil ich mich mit jedem Atemzug belüge.»

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So wie der Boden unter diesem melancholischen Gutmenschen-Räsonnement hohl klingt, so klingt er hohl unter der Pseudokritik des Unternehmensberaters oder unter dem «korrupten Universalismus» jener, die mit ihm die Machtverhältnisse konsolidieren, die sie zu Siegern der Geschichte hat werden lassen. So einfach ist die «Parrhesia» offenbar nicht zu haben: Zwar ist Sprache notwendig, um Wahres zu sagen, aber hinreichend ist sie nicht, wenn es tatsächlich um Wahrheit gehen soll. 

[1] Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 1. Band. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1983, S. 38.

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