Der geköpfte Bernburger Samuel Henzi

Zum Journal-B-Originalbeitrag.

Selbstverständlich gibt es in Bern keinen Henzi-Weg. 

Immerhin war Samuel Henzi der Namensgeber der «Henzi-Verschwörung» von 1749. Als in Berlin ein junger Mann – er hiess Gotthold Ephraim Lessing – aufgrund von Zeitungsberichten über die Ereignisse in Bern ein Drama zu schreiben begann und 1753 gar ein Henzi-Fragment veröffentlichte, wies ihn der Gelehrte Albrecht von Haller in den «Göttinger Anzeigen von gelehrten Sachen» ungnädig zurecht, er solle den Henzi im «Grabe ruhen lassen, sonst könnten wir alles in ein helleres Licht setzen, und zumal von Henzi ganz andre Gemüts-Eigenschaften erweislich machen, als ihm der Herr Lessing zuschreibt.» Lessings Fragment ist daraufhin Fragment geblieben.

Die dunkle Drohung nach Berlin war eine kleine Gefälligkeit Hallers an die Gnädigen Herren seiner Vaterstadt, die sich am 17. Juli 1749 genötigt gesehen hatten, Samuel Henzi zusammen mit zwei weiteren Männern köpfen zu lassen. Ein bisschen dégoutant war dabei, dass der Scharfrichter an jenem Tag nicht in Form war und bei der ersten Hinrichtung zwei Hiebe brauchte. Henzi, der als zweiter drankam, musste zuschauen und habe kommentiert: «Quel boucherie!» Nach anderen Quellen: «Tu exécutes comme tes maîtres jugent». Andere hörten: «Tous est donc corrumpu dans cette république, jusqu’au bourreau!» Auch bei Henzi brauchte der verunsicherte Köpfprofi danach zwei Hiebe, damit dieser Kopf sicher nie mehr etwas sagen würde.

Zwar kann man heute in Bern ein Strassenschild finden mit der Aufschrift: «Henzi-Weg / Samuel Henzi von Bern / 1701-1749 / Dichter, Gelehrter und Rebell». Aber dieses Schild steht in einem privaten, verwachsenen Garten an der Dufourstrasse. Es ist das Geschenk eines Ehemanns an seine Frau, eine geborene Henzi. Die Vorübergehenden erinnert es daran, was es in Bern nicht gibt: einen Henzi-Weg.

Gesteuertes Wissen und blumige Dichtung

Seit Henzis Hinrichtung wird das Wissen um die damaligen Ereignisse von oben gesteuert und von unten bedichtet. Das zeigt nicht nur die Haller-Lessing-Episode, das zeigen auch zwei aktuelle Beispiele:

• Letzthin, am 10. Juli, meldete das Mediencenter des Kantons Bern per Communiqué, dass das «seit fast 200 Jahren» verschollene, obrigkeitliche Manual zur «Conspiration» vom «Julio 1749» auf einer Internet-Plattform aufgetaucht sei. Man habe den «Besitzer des Bandes» von der historischen Bedeutung des Manuals überzeugen können, weshalb dieser es dem Staatsarchiv des Kantons abgebe. Vergessen zu erwähnen hat das Mediencenter, wer diese Person ist und zu welchen Bedingungen sie das Dokument abgibt. Ungesagt blieb weiter, wie diese Privatperson in den «Besitz» des staatlichen Originaldokuments kommen konnte, resp. vom wem sie es erworben hat. Unbekannt bleibt, was diese Person zur Frage sagt, wo das Dokument in den letzten fast 200 Jahren lag, und ob die aktuellen staatlichen Befragungen und Recherchen den Vorsatz des Versteckens dieses Dokuments aus Gründen von Manipulation und Geschichtsklitterung – zum Beispiel im Interesse von damaligen Gnädigen Herren – auszuschliessen vermögen. All diese fehlenden Informationen verweisen auf Interessenlagen der aktuellen Erinnerungspolitik.

• Die Zeitungsberichterstattung über das wiedergefundene Dokument kann als Relotius-Prosa auf der Basis der dürren, kantonalen Verlautbarung bezeichnet werden. Bloss der Historiker Claude Longchamps weiss für swissinfo.ch etwas wirklich Neues zu berichten: Henzi sei «ursprünglich Drechsler», also ein Handwerker, gewesen. Bisher waren die Quellen übereinstimmend der Meinung, dass er Pfarrerssohn in einer Bernburgerfamilie war, als Kopist, dann stellvertretender Buchhalter der Salzkammer arbeitete, Associé des Handelshauses Zäslin in Basel, später kurz Offizier im Dienst des Herzogs von Modena wurde und sich während seiner Verbannung 1744 bis 1748 in Neuenburg als Schriftsteller und satirisch begabter Aufklärer einen Namen machte (unter anderem mit dem bis heute nie aufgeführten Gessler-Drama «Grisler ou l’ambition punie» resp. «Grisler oder der bestrafte Ehrgeiz»). Aber was soll’s. Im 18. Jahrhundert gab es zum Glück verschiedene Henzis. Das zeigt auch die Tatsache, dass Longchamps Text mit dem Porträt von (Samuel) Cornelius Henzi (1718-1777) illustriert worden ist. Und dafür hat man in Bern alles Verständnis: Immerhin hat kurz zuvor – am 11. Juli – auch die Printausgabe der Qualitätszeitung «Bund» dieses Porträt zu ihrem Bericht gestellt.

Die Entdeckung von Maria Krebs

1903 veröffentlicht Dr. Maria Krebs «Henzi und Lessing» – eine exakt gearbeitete und bemerkenswert gut geschriebene wissenschaftliche Studie. Sie ist weitgehend resonanzlos untergegangen, vielleicht, weil Krebs eine Frau war, vielleicht weil sie 1905 heiratete und sich danach als Maria Waser einen Namen als Schriftstellerin gemacht hat – zum Beispiel mit der Novelle «Das Bluturteil» (1919). Darin bildet die Henzi-Verschwörung die Kulisse, im Zentrum jedoch steht die fiktive, enttäuschte Liebe der Alt Landvögtin Lombach zu Henzi, von der die Krebs-Studie 1903 bloss berichtet, diese Frau sei am Sonntag nach Henzis Hinrichtung «in einem Schwermutsanfall in die Aare» gegangen, was zu reden gegeben habe. 

1903 arbeitet Krebs als junge Wissenschaftlerin nicht fiktiv. Bei ihren Recherchen in der Stadtbibliothek Bern stösst sie auf ein umfangreiches Manuskript, von dem sie nach dem Abgleich mit den anderen ihr zur Verfügung stehenden Quellen festhält, «dass wir es mit einer wissenschaftlich genauen Arbeit zu tun haben». 

Das Manuskript, das Krebs meint, trägt den Titel «Der Burgerlärm oder die sogenannte Verschwörung von 1749». Verfasst hat es in seinen letzten Lebensjahren der liberale alt Regierungsrat Bernhard Rudolf Fetscherin (1796-1855). Nachdem die Handschriften der Stadtbibliothek später der Burgerbibliothek übergeben worden sind, liegt das Manuskript heute dort, und zwar unter der Signatur Mss.h.h.XIX.28. Die einzelnen Manuskriptblätter sind zu einem dicken Buch gebunden, das 512 Folioseiten à etwa 30 Zeilen zu rund 60 bis 80 Zeichen umfasst. Dazu kommen hunderte von Anmerkungen. Gedruckt wäre die Arbeit von Fetscherin ein sicher 600seitiges Buch. Auf dem Vorsatzblatt ist von fremder Hand unter anderem vermerkt: «Die umfangreichste und wertvollste der hinterlassenen Arbeiten von alt R. R. Dr. Fetscherin, da der Verfasser Quellen benutzen konnte, die jetzt nicht mehr vorhanden zu sein scheinen.» 

Was die Burgergemeinde tun könnte

Inhaltlich bietet das Manuskript bis Seite 188 viel Vorgeschichte. Dann folgen Abschnitte zu den beiden Memorials (Petitionen), die Henzi 1744 und 1749 verfasst hat – wegen dem ersten Memorial war er nach Neuenburg in die Verbannung geschickt worden. Dann folgt die Schilderung der so genannten Verschwörung von 1749. Die Seiten 356 bis 412 sind Blatt für Blatt mit «Henzi» überschrieben und bilden möglicherweise die detaillierteste biografische Skizze, die es von diesem Mann überhaupt gibt. Der Abschnitt beginnt mit den Worten: «Henzi war geboren zu Bümplitz, daselbst am 19. April 1701 getauft und auf Bitte seiner Eltern auch im Taufrodel von Bern eingetragen.» 

Zu den Quellen, die heute sicher nicht mehr vorhanden sind, gehört jener ältere Mann, der Fetscherin ( laut Krebs) erzählt hat, dass er am 17. Juli 1749 als Bub mit seinem Vater am Strassenrand stand, als ein «Trauerzug» die drei zum Tode Verurteilten von der Kreuzgasse her stadtaufwärts zum Richtplatz obenaus auf das Areal des heutigen Inselspitals begleitete. Dieser Vater habe damals gesagt: «Betet, Kinder, es ist heute ein unglücklicher Tag für die Burgerschaft, es ist eine grosse Ungerechtigkeit, die heute geschieht.» 

Selbstverständlich ist die heutige Burgerschaft nicht verantwortlich für das Wirken von Isak von Steiger, dem damaligen Alt-Schulthess und Kopf der Partei der «Unbedingten», der nach Krebs/Fetscherin als «Haupturheber der Bluturteile» angesehen worden sei. Aber mitverantwortlich ist sie für die Erinnerungspolitik der Stadt: Seit dem 29. Januar 1902 gibt es in Bern einen Steigerweg, benannt «nach den beiden Berner Patrizierfamilien v. Steiger».  Wäre es nicht eine schöne Geste der Burgergemeinde und ganz im Sinn ihres kulturellen Engagements für die Stadt, wenn sie eine kritische Edition samt historisch vermittelndem Kommentar veranstalten würde von Bernhard Rudolf Fetscherins Manuskript «Der Burgerlärm oder die sogenannte Verschwörung von 1749»?

Könnte man ab und zu in diesem Buch lesen, wäre es zweifellos leichter zu verschmerzen, wenn es in Bern auch weiter keinen Henzi-Weg geben sollte.

Unter Verwendung von: 

• Krebs, Maria: Henzi und Lessing. Eine historisch-litterarische Studie. Neujahrs-Blatt der Litterarischen Gesellschaft Bern. Bern (K. J. Wyss) 1903.

• Weber, Ulrich / Probst, Rudolf [Hrsg.]: Gotthold Ephraim Lessing: Samuel Henzi. Trauerspiel (Fragment). Bern/Zürich (Huber) 2000.

Den Hinweis, dass es in Bern ein Henzi-Weg-Strassenschild gibt, entnahm ich Andreas Rapps Beitrag: «Kein Denkmal für Henzi – warum?» (QUAVIER Nr. 95/2019, S. 27). 

Aktuell

Zum Projekt

 

Die Website «Textwerkstatt Fredi Lerch» versammelt journalistische, publizistische und literarische Arbeiten aus der Zeit zwischen 1972 und 2022, ist abgeschlossen und wurde deshalb am 15. 1. 2024 zum zeitgeschichtlichen Dokument eingefroren.

Vorderhand soll die Werkstatt in diesem Zustand zugänglich sein, längerfristig wird sie im e-helvetica-Archiv der Schweizerischen Nationalbibliothek einsehbar bleiben. Teile des Papierarchivs, das für die vorliegende Website die Grundlage bildet, sind hier archiviert und können im Lesesaal der Schweizerischen Literaturarchivs eingesehen werden.

 


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