Der Finger ruht in einem Glas

Der kleine Finger der linken Hand ist vor dem dritten Gelenk abgetrennt. Ein Hautlappen ist über den Stummel gezogen, die Wunde sauber vernäht. Bereits ist kein Verband mehr nötig. Am 14. Juni hat Abdu M. diesen Finger am Schalter des Zürcher Migrationsamts mit einem Zigarrenmesser abgeschnitten und ihn durch den Schalter gereicht.

«Es war mein Lieblingsfinger», sagt er im Gemeinschaftsraum der Hausgemeinschaft in Zürich, in der er seit drei Jahren lebt. Er hat Kaffee und Wasser serviert und sagt auf die Frage, warum er gerade diesen Finger verstümmelt habe: «In unserer Kultur schenkt man, was man wirklich gerne hat.» Warum er denn seinen Protest derart krass ausgedrückt habe. «Ich habe nicht protestiert oder demonstriert – ich habe einen Appell gemacht. Wenn wir hier nichts als Essen und Medikamente und ein Dach über den Kopf erhalten, dann sind wir nur Fleisch, dann sind wir nur Tiere. Aber wenn wir Menschen sind, brauchen wir Hilfe, damit wir auch eine Zukunft haben.»

Abdu M. ist ein schlanker, feingliedriger Vierzigjähriger und spricht mit leiser Stimme deutsch. «Vielleicht ist dieser Appell keine gute Idee gewesen.» Als er den Schrecken der Leute im Migrationsamt sah, habe er gemerkt, dass er sie verletzt habe. «Aber es war der einzige Weg, zu sagen: Bitte, ich bin verletzt.»

Somalia verliert den Faden

Abdu M. wird 1962 geboren und besucht in der somalischen Hauptstadt Mogadischu die Grundschule und die Highschool. Anfang der achtziger Jahre, als sich Oppositionsgruppen gegen die Militärdiktatur Siad Barres zu formieren beginnt, wählt er statt des Militärdienstes den Zivildienst und arbeitete ein Jahr als Primarlehrer. Zwischen 1983 und 1987 studiert er Politologie und absolviert anschliessend in Pakistan eine Zusatzausbildung in Wissensmanagement. Im Mai 1988 beginnt die Opposition, das «Somali National Movement», mit grossangelegten Militäraktionen und einem Stellungskrieg. Barres Zentralregierung wird schwächer, die tribalistische Politik der somalischen Clans stärker. Nach der Rückkehr aus Pakistan engagiert sich Abdu M. in der Handelsfirma der Familie. 1990 ist er daran, sich neben der Leitung der Familienfirma einen eigenen Betrieb aufzubauen. Dann geht – Anfang 1991 – diese Welt unter: Der Krieg erreicht Mogadischu, Barre verliert endgültig die Kontrolle über das Land und flüchtet nach Kenia. Seither gibt es in Somalia keine Zentralregierung mehr.

Abdu M. beginnt wieder als Lehrer zu arbeiten. Im Dorf Qalimow, achtzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt, gründet er eine Schule für Mogadischus Waisenkinder. Bald gibt es in verschiedenen Dörfern insgesamt vier Schulen für zweihundert Kinder. Jetzt engagiert er sich beim Aufbau der «Social wellfare and rural development Organisation», einer Selbsthilfeorganisation, die sich für die Wasseraufbereitung und die Gesundheit der Bevölkerung einsetzt. Das Engagement der Uno in Somalia zwischen 1992 und 1995 zeitigt zwar humanitäre Erfolge, macht aber das politisch-militärische Chaos noch grösser: «Jedes Dorf, jeder Clan hat seinen eigenen Chef und seine eigenen Interessen. Wer Waffen und Munition hat, ist König seines Gebiets und macht, was er will.» 1995 geht nichts mehr: «Ich sah, dass dreizehn- oder vierzehnjährige Nachbarkinder Waffen trugen und es keine Kontrolle mehr gab. Da habe ich gesagt: Vergesst Somalia, wir haben den Faden verloren. Darum bin ich geflüchtet.»

Als Sozialarbeiter in der Schweiz

In Zürich erhält Abdu M. die Möglichkeit, eine sechsmonatige Ausbildung zum Mediator im Asylbereich zu machen. Er wird geschult, professionell mit Konflikten umzugehen: «Das hat mir sehr geholfen und ermöglicht, mit Flüchtlingen aus Somalia und später aus ganz Ostafrika zusammenzuarbeiten.» 1998 initiiert er ein Integrationsprojekt für somalische Jugendliche. Er nennt es «Neue Hoffnung für Somalia». Im gleichen Jahr finden Dorfälteste der Region Qalimow den Kontakt zu Abdu M. und bitten um Hilfe. Er organisiert Unterstützung für die Schulen. Ein Ambulatorium mit einer Krankenschwester und einer Hebamme ist entstanden, auch gibt es neuerdings einen Tierarzt.

In Zürich wächst der Treffpunkt, weil neben den Jugendlichen bald auch somalische Frauen und Männer ihn zu benützen beginnen. Ein erster Umzug wird nötig. Dann die Idee, den Treffpunkt für Leute aus ganz Ostafrika zu öffnen. Abdu M. schreibt Gesuche, versucht neue Institutionen für die Trägerschaft zu interessieren. Im August 2001 ein zweiter Umzug an die Zentralstrasse 24, es entsteht das «Ostafrikanische Begegnungszentrum», in dem Leute aus Somalia, Äthiopien, Kenia, Dschibuti, Eritrea, Sudan und Ruanda verkehren. Abdu M. beginnt im Auftrag der reformierten Kirche als Leiter zu arbeiten. Seine Idee: «Jede Person, die hierher kommt, hat zwar eine eigene Nationalität, eine eigene Kultur und eigene Probleme. Aber wir versuchen, die Leute aus den verschiedenen Ländern, die verfeindeten Nachbarn und verfeindeten Clans zusammenzubringen.»

Unmenschliche Humanität

Aber Abdu M. ist nicht nur Sozialarbeiter, er ist auch Politologe. Er weiss, dass die somalischen Flüchtlinge, die in der Schweiz leben, keine Perspektive haben. Gegen die messerscharfe Logik des Bundesamts für Flüchtlinge (BFF) ist kein Kraut gewachsen: Weil es in Somalia seit 1991 keinen Staat mehr gibt, kann es in Somalia auch keine staatliche Verfolgung geben. Wo es aber keine staatliche Verfolgung gibt, gibt es keinen Fluchtgrund. Und wo es keinen solchen Grund gibt, gibt es auch keine festen Aufenthaltsbewilligungen auszustellen. Am 31. Dezember 2001 lebten von den 4658 SomalierInnen, die in der Schweiz als Asylsuchende registriert waren, 4077 mit der provisorischen Aufenthaltsbewilligung «F». Zwar sei ihre «Wegweisung» sowohl «unzumutbar» als auch «völkerrechtlich unzulässig», aber anerkannte Flüchtlinge werden sie deshalb trotzdem nicht. Für die SomalierInnen, die unterdessen bereits bis zu elf Jahre in der Schweiz leben, hat dieser Status Folgen:

• Die somalischen Kinder haben es schwer, sich für die Schule zu motivieren. Sie wissen, dass sie mit ihren Eltern nur vorläufig hier leben und – im Gegensatz zu den anderen ihrer Schulklassen – auch bei besten Noten keine Chance haben vorwärtszukommen.

• Auch wenn somalische Jugendliche einen Lehrmeister finden: Sobald der erfährt, dass sie eine F-Bewilligung haben und möglicherweise plötzlich abreisen müssen, ist er an ihnen als Lehrlinge nicht mehr interessiert.

• Viele SomalierInnen sind beruflich hoch qualifiziert. Das nützt ihnen in der Schweiz nichts. Viel mehr als Teller waschen dürfen sie nicht. Abdu M. sagt es höflich: «Es gibt keine schlechten Branchen. Nur keine Arbeit zu haben, ist schlecht. Aber wenn man nur in einer Branche arbeiten darf, wird man in dieser Branche diskriminiert.»

• Älteren Flüchtlingen, die den Grossteil ihres Lebens in Familien- und Clanstrukturen gelebt haben, ist es verboten, geflüchtete Verwandte zu besuchen, die es in andere Länder verschlagen hat. Abdu M.: «Sie sitzen den ganzen Tag zu Hause und werden depressiv. Sie sehen fern und warten auf gute Nachrichten aus Somalia. Aber es kommen keine. So gibt es Streitigkeiten und Gewalt in den Familien.»

Flüchtlinge zwar durchzufüttern, aber langfristig ohne Lebensperspektive zu lassen, ist eine unmenschliche Form der humanitären Hilfe. Wie viele andere somalische Intellektuelle hat auch Abdu M. immer wieder versucht, die zuständigen Institutionen darauf aufmerksam zu machen: «In den Institutionen beschäftigt man sich zwar damit, etwas zu verbessern. Aber es ändert nichts. Das ist eine Katastrophe.»

Hoffen auf die «integrative Aufnahme»

Jetzt arbeite er nicht mehr als Leiter des «Ostafrikanischen Begegnungszentrums», erzählt Abdu M. weiter: «Das war nicht meine persönliche Entscheidung.» Lisbeth Lutz, Leiterin der Regionalstelle Zürich/Schaffhausen des Hilfswerks der Evangelischen Kirchen der Schweiz (HEKS) erklärt: Abdu M. habe im Auftrag der Evangelischen Landeskirche den Treff an der Zentralstrasse 24 aufgebaut. Gleichzeitig sei diese Trägerschaft – weil das Projekt immer grösser geworden sei – an sie herangetreten. Das HEKS sei einverstanden gewesen, den Treff zusammen mit der Asyl-Organisation Zürich auf 1. Januar 2002 zu übernehmen, habe aber klar gesagt, wegen der «verschiedenen Ethnien», die in diesem Zentrum verkehrten, brauche es eine neutrale Projektleitung für Koordination, Mittelbeschaffung und Öffentlichkeitsarbeit. So hat Abdu M. den Treffpunkt hergeben müssen und seine bezahlte Arbeit verloren. Ehrenamtlich arbeitet er in der Betriebskommission weiter. Er sagt: «Es läuft gut. Es war ein guter Entscheid.»

Am Schalter des Migrationsamtes hat er vor zwei Wochen nicht nur den kleinen Finger der linken Hand abgegeben, sondern auch einen Brief mit der Betreff-Zeile: «Annahmeverweigerung des F-Ausweises», dessen neuerliche Verlängerung um ein Jahr seinen Gang nötig gemacht hatte. Im Brief schreibt er: «All unsere Fähigkeiten, unsere Familienstrukturen, die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen werden durch dieses ewige ‘Vorläufig-Sein’ zerstört und lahmgelegt.» Die somalische Community könne so beim Wiederaufbau eines neuen Staates Somalia keine Hilfe sein: «Wir haben alle eine Zukunft; lasst uns bitte die Möglichkeit, auch Perspektiven zu haben!»

Dass der Bundesrat am 26. Juni im Rahmen der Teilrevision des Asylgesetzes bekannt gegeben hat, für «Asylsuchende, die keine anerkannten Flüchtlinge sind, die aber die Schweiz voraussichtlich nicht verlassen werden» den neuen Status der «integrativen Aufnahme»[1] schaffen zu wollen, hat er gelesen. Und auch, dass diese «integrative Aufnahme» einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt, bessere Bedingungen für Familienzusammenführungen, Schulung in einer Landessprache und Förderung von Berufsausbildungen beinhalten soll: «Dem Bundesrat vertraue ich: Er gibt nicht etwas ins Parlament, wovon er nicht weiss, dass es gut ist.»

Noch muss allerdings das Parlament die «integrative Aufnahme» akzeptieren.

Der abgeschnittene Name

Abdu M.’s Appell hat sich nicht nur an die hiesigen Behörden gerichtet. Appellieren will er auch an jene, die in Somalia um die Macht kämpfen. Seinen Finger hat er in Formalin eingelegt, das Gefäss bewahrt er in seinem Zimmer auf. Er will es mitnehmen, wenn er zur nächsten Friedenskonferenz reist, die in Nairobi stattfinden soll. Wann, ist noch ungewiss.

Das Tonband ist schon abgestellt, als er sagt, eigentlich heisse er Abdu M. Qalimow – Qalimow, wie das Dorf, in dem er die Schule für Waisenkinder aufgebaut hat. Als er in die Schweiz gekommen sei, habe man bei den Behörden gesagt, sein Name sei zu lang. So ist ihm in der Schweiz als Erstes sein Familienname abgeschnitten worden.

[1] Die «integrative Aufnahme» wurde in der Debatte um die Teilrevision des Asylgesetzes später noch als «humanitäre Aufnahme» diskutiert. Und das war’s dann.

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